Wer ist schuld am Verschwinden der Ehrbarkeit?
Wie die Gier der Anleger angeblich die Ehrbaren Kaufleute verhindert
Von Dirk Kaesler
Wer von uns Intellektuellen und Wissenschaftlern kennt schon Vorstände und Geschäftsführer aus der Wirtschaft persönlich? Der Filialleiter meiner Bank ist ein freundlicher und (hoffentlich) redlicher Mann, aber er spielt nicht mit in den oberen Etagen der Bankentürme und Großunternehmen. Was weiß ich eigentlich über Handlungsmotivationen und dahinter liegende Wertorientierungen jener Mitmenschen, über die wir derzeit immer häufiger in den Medien lesen? Gerade in den vergangenen Monaten war das kein sonderliches Lektürevergnügen: Gier, Skrupellosigkeit, Zockermentalität und fehlendes Problembewusstsein formten das journalistische Bild einer erschreckenden Truppe, vor der man sich nur hüten möchte.
Wie erfahre ich, was diese Menschen tatsächlich umtreibt? Es war nicht an mir, dreißig Tiefeninterviews mit Menschen aus deutschen Vorstandsetagen zu führen. Das haben andere getan, im Auftrag der Personalberatungsfirma Boyden Executive Search und des Instituts für Unternehmensethik der European Business School. Über die Ergebnisse dieser Interviews wurde nun ausführlich berichtet und sie werfen ein bemerkenswertes Bild auf einen nur noch tragisch zu nennenden Konflikt: Die absolute Mehrzahl der intensiv Befragten will besser sein als sie sein darf! Nicht sie sind es, die Schuld daran tragen, dass sie nicht „ehrbar“ handeln können, es sind die Eigentümer oder die Aufsichtgremien, die den Spitzenmanagern keinen Spielraum geben, um ehrbar zu wirtschaften.
„Ehrbar“ war das Stichwort, um das es in den Interviews ging: Gefragt wurde danach, wie die Interviewten das Leitbild des „Ehrbaren Kaufmanns“ heute einschätzen. Der medial Informierte stutzt, denkt an die legendäre Triumphgeste des Josef Meinrad Ackermann, des so unverdrossen fröhlichen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, vor Gericht und fragt sich, wie dieser so altertümlich klingende Begriff in eine aktuelle Befragung von Wirtschaftsführern gekommen sein mag.
Der Ehrbare Kaufmann war ein Ideal, das seit dem 12. Jahrhundert in europäischen Kaufmannshandbüchern, vor allem aber im mittelalterlichen Italien und in den Städten der norddeutschen Hanse propagiert worden war. Noch heute besteht ein eingetragener Verein in der Freien und Hansestadt Hamburg, der diesem Ideal seit 1517 seine Geselligkeit widmet. Die „Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg“ verkündet in ihrer Satzung: „Der Verein tritt dafür ein, dass im Rahmen der jeweils gültigen Gesetze die im Geschäftsverkehr allgemein anerkannten ethischen Grundsätze und das Prinzip von Treu und Glauben beachtet sowie Handlungen unterlassen werden, die mit dem Anspruch auf kaufmännisches Vertrauen nicht vereinbar sind.“
„Allgemein anerkannte ethische Grundsätze“: Da meldet sich der Zweifel und der Spott des skeptischen Lesers. Nicht jedoch bei der befragten Wirtschaftselite, sie war sich – laut den Berichten – durchgehend einig, was unter kaufmännischer Ehrbarkeit zu verstehen sei. Eine Persönlichkeit, die ihre humanistische Grundbildung durch eine solide kaufmännische Ausbildung ergänzt hat und folgende Charaktereigenschaften aufweist: Redlichkeit, Sparsamkeit, Weitblick, Ehrlichkeit, Mäßigkeit, Schweigen, Ordnung, Entschlossenheit, Genügsamkeit, Fleiß, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Reinlichkeit, Gemütsruhe und Demut. Im Ehrbaren Kaufmann seien Wirtschaft und Ethik zu einer Einheit verschmolzen, mit dem Ziel, erfolgreich zu wirtschaften, um für sich, das Unternehmen und die Umwelt Werte zu schaffen. Der Ehrbare Kaufmann sei sich der gesellschaftlichen Folgen seines Tuns bewusst, beachte die Auswirkungen auf die Umwelt und zeige sich politisch interessiert und engagiert.
Wie kommt es nur, dass ich es beim Lesen dieser Passagen einfach nicht vermeiden kann, zu jeder dieser Aussagen meine wachsenden Zweifel und eine Kaskade von Erinnerungen zu hören? Die angeführte Studie belegt meine Zweifel, was das reale Handeln und Geschehen angeht: Zwei Drittel der Befragten geben nämlich an, dass sie zwar diese Erwartungen in ihren unternehmerischen „Leitbildern“, Führungsgrundsätzen oder Verhaltenskodizes stehen haben und daran glauben – nur handeln können sie nicht danach, so gerne sie es täten. Lakonisch formuliert die Studie: „Trotz der großen Wertschätzung der Tugenden spielen Attribute der Ehrbarkeit in den strukturierten Unternehmensprozessen, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle.“
Vor uns breitet sich eine Situation aus, die geradezu an antike Tragödien denken lässt: Die Manager werden schuldlos schuldig, sie können nicht handeln, wie sie eigentlich handeln wollen. Eigentlich wollen sie ehrbar und gut handeln, aber sie werden zu anderem Tun gezwungen. Von wem und warum? Durch konkrete Verbote? Durch implizite Unternehmenskulturen? Was hindert diese Menschen am guten Handeln?
Die Eigenschaften des Ehrbaren Kaufmanns seien langfristig angelegt, sagen sie, sie aber müssten kurzfristigen Erfolg haben, in ihren Zielvereinbarungen stünden allein quantitative Ziele wie Quartals- oder mindestens jedoch Jahresergebnisse. Das leistungs- und erfolgsorientierte Handeln werde von den Eigentümern und Aufsichtsgremien erzwungen. „Gegen die Rendite zieht die Moral den Kürzeren“ titelte denn auch die Zusammenfassung einer Berichterstattung. Der Schwarze Peter liegt also bei den Anlegern, nicht bei den Managern, sie würden ja gerne ehrbar sein, aber die Gier der Menschen, die ihr Geld den Banken anvertrauen, damit sie es vermehren, verhindert, dass sie genau diese Tugenden umsetzen und vorleben können.
Kann man das glauben? Oder wurden hier nur Aussagen gemacht, die den Anforderungen sozialer Erwünschtheit genügen sollen, wussten die Befragten einfach nur, was von ihnen erwartet wird? Wieder wird deutlich, dass unsereins zu wenig weiß. Kann ich wirklich glauben, dass zwei Drittel dieser mir unbekannten Menschen gut sein wollen, es aber nicht sein können, weil sie von anderen Menschen dazu gezwungen werden, es nicht zu sein?
Wer sind denn diese anderen? Und werden die vielleicht auch getrieben? Vielleicht sogar von mir, weil ich meinem liebenswürdigen Filialleiter vertraute, als er mir riet, einen „SchatzBrief IndexSelect“ zu erwerben? Bin ich mitschuldig daran, dass so viele Menschen im Frankfurter Bankenviertel nicht ehrbar handeln dürfen?