Sprache als Kippfigur

Endlich erscheinen Jean Paulhans bedeutendste literaturtheoretische Schriften auf deutsch

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jean Paulhan war ein dermaßen vielseitiger und umtriebiger Protagonist der französischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass seine bisher nahezu ausgebliebene Rezeption und Übersetzung im deutschsprachigen Raum ebenso bedauerlich wie wenig verwunderlich erscheint. Als Sekretär und später Herausgeber der wichtigsten französischen Literaturzeitschrift „Nouvelle Revue Française“ von 1920-1940, als Chef nach ihrer Neugründung von 1953 bis zu seinem Tod 1968 sowie während seiner 40jährigen Tätigkeit als Lektor des Verlags Gallimard besetzte er Schlüsselpositionen im literarischen Leben Frankreichs. Dies machte ihn zu einer Art grauer Eminenz des Pariser Literaturbetriebs, die mit fast allen bedeutenden Autoren des 20. Jahrhunderts korrespondierte, ihre Werke ermöglichte, aber auch kritische Debatten mit ihnen ausfocht.

Sein erstes veröffentlichtes Werk, eine Erzählung über die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, „Le Guerrier appliqué“ (1917), brachte ihm das Lob von André Gide, Louis Aragon, Paul Valéry und Alain ein. Nach dem Krieg befreundete er sich mit André Breton und Paul Éluard, beteiligte sich an der prä-surrealistischen Zeitschrift „Littérature“ – und hielt sich in einer für ihn lebenslang bezeichnenden Weise doch als ein Zaungast am Rande der für ihr Sektierertum berüchtigten surrealistischen Szene. Bevor er seinen ästhetischen Pluralismus und seine geistige Offenheit in den Dienst seines Hauptamtes als Organisator der „Nouvelle Revue Française“ stellte, übte er die Organisation des Zeitschriftenmachens auch bei den Magazinen „Commerce“ und „Mesures“.

1940 gehörte Paulhan zu den Vordenkern der französischen Résistance; er war Mitbegründer der Widerstands-Zeitschriften „Lettres françaises“ und „Résistance“ und unterstützte die von Vercors gegründeten „Éditions de Minuit“, die im Untergrund Vercors Novelle „Das Schweigen des Meeres“ anonym publizierte. Er wurde von den deutschen Besatzern verhaftet, doch durch Protektion bald wieder freigelassen, da er auch Kontakte zu Kollaborateuren wie Drieu La Rochelle pflegte. Einer weiteren Verhaftung entzog er sich, indem er bis zur Befreiung im Untergrund lebte. Seine als Zeitschriftenherausgeber und Freund divergierender Autoren erworbene liberale Grundposition machte den dekorierten Widerstandskämpfer nach der Befreiung zum Fürsprecher von Kollaborationsautoren, deren Leben wie deren Texte nun von Verfolgungsprojekten einer „Reinigung“ der französischen Gesellschaft bedroht waren. So setzte er sich nachdrücklich für die Wiederveröffentlichung der Romane Luis-Ferdinand Célines ein, der durch seine wüst antisemitischen Pamphlete zu einem der prominentesten französischen Nazi-Parteigänger geworden war.

In den Literaturgeschichten verdankt Jean Paulhan seinen Platz – neben seinen Funktionen als Ermöglicher und Betriebsorganisator – vor allem seinen literaturtheoretischen Essays. Deren berühmtester, „Die Blumen von Tarbes“, wurde von ihm seit den 1920er-Jahren angedacht und vorbereitet; doch erschien er erst 1941. Dabei blieb auch der schließlich publizierte Essay ein wundersamer Torso scharfsinnig und bilderreich parlierenden Sprachdenkens – denn dieser sprachphilosophisch-literaturtheoretische Gedankengang über das, was Paulhan den Terror in der Literatur und die Wiederkehr der Rhetorik nannte, sollte eigentlich noch fortgesetzt werden. Die Wiederaufnahme und Variation von Paulhans Grundgedanken über die schwer hintergehbare, fundamentale Ambiguität der Sprache fand in einer Reihe von weiteren Essays und Briefen ihren meist ganz spielerisch und anekdotenreich argumentierenden Ausdruck. Hans-Jost Frey hat dieses Hauptwerk der Literaturtheorie, das zugleich einen der frühen Meilensteine einer Rehabilitierung der ehrwürdigen Rhetorik im 20. Jahrhundert darstellt, nun samt der wichtigsten Folgetexte kenntnisreich und präzise übersetzt. Mit Ausnahme zweier Texte („Schlüssel der Poesie“ und „Kleines Vorwort zu jeder Kritik“), die der aufmerksame Vermittler Friedhelm Kemp erstmals 1969 auf deutsch im kleinen Kösel Verlag publizierte, werden hier also mit „Die Blumen von Tarbes“, ihren kleineren Anschlusstexten und mit „Die Gabe der Sprachen“, einem zweiten Großessay, den Paulhan 1963-1965 in der Zeitschrift „Commerce“ veröffentlichte, die wichtigsten sprachphilosophischen Statements Paulhans erstmals einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich. Vom emeritierten Zürcher Komparatisten Frey in seiner Paulhan-Auswahl nicht berücksichtigt wurden die frühen Arbeiten „Jacob Cow le pirate, ou si les mots sont des signes“ (von 1921) und sein „Entretien sur des faits divers“ (1930-1945). Doch ist Paulhan als Theoretiker sowieso weniger ein Mann der strengen und weitläufigen Theoriearchitektur als vielmehr ein ebenso belesener wie analytischer und polemischer essayistischer Kopf, der divergierende Aussagen über Sinn, Unsinn und Wesen der Literatur versammelt und anhand dieser überaus gegensätzlichen Blickweisen auf Funktion und Wesen der Sprache immer wieder seine nur scheinbar kindliche Frage stellt: Was ist eigentlich die Literatur?

Literatur ist für Paulhan „vergrößerte“ Sprache. Jedes literarische Werk sei eine „Sprachmaschine“ oder ein „Sprachdenkmal“, das die rätselhaften und paradoxen Gesetze jeglicher Sprache ausstelle und solcherart das unter alltäglicher Pragmatik versteckte ambige Wechselwesen der Sprache zur Kenntlichkeit bringe. Mit dieser Leitidee und auch mit den spielerischen, negativ dialektischen Durchführungen seiner Beweisoperationen, bei denen gegensätzliche Positionen so collagiert und weitergedacht werden, dass die Ausgangsoppositionen kollabieren, war Paulhan ein Vorläufer dekonstruktivistischen Sprachdenkens. Frey bemerkt in seinem vorzüglichen Nachwort zu Recht, dass Paul de Man die Grundgedanken Paulhans systematisch fortentwickelte.

In den poetologischen Äußerungen der avantgardistischen Dichter seit der Romantik sieht Paulhan eine sprachkritische Haltung am Werk, die er – überaus plastisch und überpointiert – als „Terror“ bezeichnet. Immer aufs Neue gehe es diesen experimentellen Neuerfindern der Literatur darum, die als verbrauchte und zu Gemeinplätzen geronnene Sprache zu überwinden, um unmittelbar zu den Ideen, Gefühlen und Sachen vorzudringen. Der Terrorist offenbart sich (wie die Sprache und wegen ihr) als eine Kippfigur. Denn aufgrund seiner Abneigung gegen die prägende Sprache wird er unfreiwillig um so sprachfixierter: „Kein anderer Schriftsteller ist so sehr mit den Wörtern beschäftigt, wie der, welcher sich in jedem Moment vornimmt, sie zu verfolgen, nicht in ihnen präsent zu sein oder sie neu zu erfinden. […] Deshalb ist es leichter, ein surrealistisches Gedicht nachzuahmen als ein Sonett.“ Paulhans frühe Beobachtung, die neuere Literatur widme sich dem Sensationellen und Übertriebenen, um vergessen zu machen, dass sie (auch nichts als) Literatur sei, dass sie Worte und Sätze verwende, ließe sich vermutlich fruchtbar in Beziehung setzen zu Karl-Heinz Bohrers Analytiken einer Ästhetik des Schreckens und der Epiphanien. Und noch die ästhetische Überbietungslogik von Gewalt-Genre-Filmen wie denen Quentin Tarantinos steht im Banne dieser Medienverfallenheit und reflektiert diese zugleich.

Die Gegenposition zu den Terroristen vertreten die Rhetoriker, die in den Topoi und Sprachregeln der alten Redekunst eine angemessene und hilfreiche Vermittlung von Worten und Dingen sehen. Paulhan, der ein Weggefährte der Surrealisten war, bekennt, selbst ein Anhänger terroristischer Poetiken und Sprachdenkens gewesen zu sein und von daher erst auf mühsamen Umwegen zum alten Königsweg der Rhetorik gelangt zu sein. So findet sich bei ihm ein Plädoyer für das Bewahren tradierter Formen; denn gerade sie ermöglichten Individualität und Originalität: „Wie zwei Menschen, wenn sie im Gespräch die gleiche Sprache benützen, weniger etwas von ihrer Persönlichkeit einbüssen, als dass sie sie offenbaren und in gewisser Weise zur Welt bringen, so auch zwei Schriftsteller, die feste Gattungen einhalten und verbreitete Themen behandeln, Phädra unterscheidet Racine und Pradon, und Amphitryon Molière von Plautus.“

Gerade der Respekt oder Vorrang verbreiteter Sprachformen erlaube persönlichen Ausdruck, während die revolutionären Formfeinde den von ihnen als äußerlich denunzierten Sprachwerten anheimfallen. „Für die Rhetorik ist das Fieber oder die Neuheit nur eines der Ereignisse, von denen der Schriftsteller handelt, für den Terror hingegen gerade das Mittel und die Form der anderen Ereignisse. Man könnte auch sagen, dass das stützende Gerüst des Werks, das Ausdruckssystem – wenn man will, die Rhetorik im geläufigen Sinn des Wortes – bei der bewahrenden Literatur wie das Skelett eines Säugetiers verborgen bleibt, beim Terrorist aber offensichtlich wie der Panzer eines Krustentiers wird.“ Paradoxerweise können sich daher formenstrenge Klassiker unmittelbarer den Sachen, Ideen oder Gefühlen zuwenden, während die sprachskeptischen Romantiker der Liebe, der Angst oder der Freiheit immer ihre Angst vor der Versklavung durch die Sprache beimischen. Der Pariser Essayist war stark im Sammeln und Erfinden plastischer Bilder und Anekdoten für die Vertracktheiten der Sprachlichkeit. So verteidigt er die Rhetorik, sie sei nur scheinbar eine kalte Fessel des Denkens, in Wahrheit bedeute sie schlicht, dass der Geist akzeptiere, einen Körper zu haben. Doch ist die Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert schwer in die Defensive geraten. Sie wurde als Schulfach weithin abgeschafft und von den modernistischen Disziplinen der Ästhetik und Hermeneutik verdrängt. Paulhan gehört zu den Wiederentdeckern der seit der Antike so zentralen Kunstlehre der Rhetorik im 20. Jahrhundert.

Doch vertritt er nicht einfach die Position der Rhetorik oder den unbedingten Vorrang der Worte vor den Ideen. Vielmehr stellt er fest, dass sich ganz divergierende poetische und politische Positionen wechselseitig als „Verbalisten“ denunzieren: die Verbalisten sind dabei immer die anderen, die „bloße“ Worte, ohne Sinn und Realitätsdeckung gebrauchen. Denn gerade die Terroristen, die sich aus Angst und Misstrauen gegenüber der allzu mächtigen Sprache von deren Beeinflussung frei machen wollen, landen letztlich natürlich auch wieder in der Sprache und in ihren rhetorischen Modi der Bezugnahme.

Auch die moderne Sprachwissenschaft fokussiere stets nur einen Teilaspekt der von Paulhan als dreischichtig gedachten Sprache. Kaum je gelange sie zur mühsamen Erkenntnis der durchaus widersprüchlichen Einheit von Wortmaterie, Idee und Referenten, durch die das Sprachgeschehen unaufhebbar gekennzeichnet sei. Terror und Rhetorik seien zwei gleichermaßen einseitige Versuche, die Beziehung von polysemischer Sprache und Denken zu kontrollieren und mithin die Distanz der drei Sprachlevels zu überwinden: die Rhetorik versuche dies von der Sprache her, der Terror vom Denken her, wobei der sprachkritische Terrorist, wie Frey kommentiert, eher einer „referentiellen Illusion“ (also der Verwechslung von Worten und Sachen) anheimfalle, als der sprachbewusste Rhetoriker.

Paulhans tendenziell paradoxes Projekt ist die Überwindung der überhaupt erst durch Reflexion entstehenden Trennung der drei Sprachebenen (die im Alltag, etwa beim Brötchenkauf, bekanntlich kaum eine verstörende Rolle spielen) durch eine verschärfte Reflexion, die nunmehr die unhintergehbare Einheit und Bezogenheit von Idee, Wort und Referent verdeutlichen soll. Die Erfahrung der paradoxen Einheit der Gegensätze verdeutlicht besonders der späte Text „Die Gabe der Sprachen“ an Einheitserfahrungen religiöser Mystik, bei der es um die gezielte Aufhebung logischer und sprachlicher Widerspruchsverbote gehe. Neben diesen, in einem sprachphilosophischen Traktat überraschend herbeizitierten Äußerungen der Gnostiker, der Daoisten und der Advaita-Vadanta über die tiefgründige Einheit von Gegensätzen und Unterscheidungen, sieht der Pariser Literaturmogul auch das „Geheimnis des Gedichts“ in seiner unhintergehbaren Gleichursprünglichkeit sowohl aus der Sprache und ihren Formen als auch aus Gedanken und Inspirationen. Offenbar geht es dem scharfsinnigen Analytiker darum, in den Werken der Kunst, wie in mystischen Praktiken Erfahrungen einer Einheit von Worten, Gedanken und Welt aufzuweisen, deren abgründige, Differenzen stiftende Verquicktheit er gerade an der Sprachlichkeit als Kippfigur herauspräparierte. Sein Text „Kleines Vorwort zu jeder Kritik“ bemüht sich, Prinzipien des Urteilens über Literatur zu finden und sucht diese in den Gesetzen der Sprache und der Redekunst, näherhin mittels Aufzeigen und Auflösung der Irrtümer und Illusionen, die über das Zusammenspiel von Sprachmaterie und Denken bestehen.

Diese höchst willkommene, längst überfällige Sammlung literaturtheoretischer Essays erscheint womöglich als eines der letzten neuen Bücher im kleinen Verlag von Urs Engeler, der für moderne Lyrik und für Ausgrabungen und Wiederentdeckungen modernistischer Theorie-Inkunablen (neben Paulhan besonders auch Maurice Blanchot) unschätzbar verdienstvoll ist. Denn nach dem Rückzug ihres langjährigen Verlagsmäzens, sieht die Zürcher Urs Engeler Edition einer ungewissen Zukunft entgegen. Die „Süddeutsche Zeitung“ und die „NZZ“ berichteten schon vom aktuellen Herbstprogramm als dem wohl letzten des ambitionierten Verlegers. Engeler selbst hofft, wie er im Gespräch mit dem „Börsenblatt des Buchhandels“ und auf seiner Homepage bekannte, dass vermehrte Buchhandelsbestellungen und Lesernachfrage den faktisch als Non-Profit-Verlag funktionierenden Einmannbetrieb am Leben halten könnten; doch werde er künftig gewiss weniger neue Bücher herausbringen können als die zwanzig pro Jahr, die er in den letzten Jahren jeweils verlegte.

Diesem hier besprochenen Buch, wie den vielen weiteren Preziosen im Katalog dieses mit bestem Gespür für wertvolle Texte ausgestatteten Verlags, kann man nur viele Leser wünschen. Nahezu ein Lebensalter nach ihrem Erscheinen können wir endlich die meisterliche Sprach- und Reflexionskunst von Paulhans Essays auf deutsch lesen. Diese haben, nicht zuletzt dank Freys gelenkiger Übersetzung, kaum etwas von ihrer angeregtes Nachdenken provozierenden Frische verloren.

Titelbild

Jean Paulhan: Die Blumen von Tarbes und weitere Schriften zur Theorie der Literatur.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Jost Frey.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Jost Frey und Friedhelm Kemp.
Engeler Verlag, Basel 2009.
365 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783938767658

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