Pfarrer in der Krise
Dieter Wellershoffs Roman „Der Himmel ist kein Ort“
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Der Mann in seinen Armen stöhnte, als sähe er, was hinter seinem Rücken geschah und wenig Hoffnung auf Rettung ließ.“ Die Rede ist vom Landpfarrer Ralf Henrichsen, der als Notfallseelsorger zu einem schrecklichen Unfall gerufen wird und seiner Rolle als psychologischer Beistand nicht gerecht wird. In seinen Armen hält er den Realschullehrer Karbe, dessen Auto ungebremst in einen See gerast ist.
Schon vor neun Jahren wurde der Roman „Liebeswunsch“ des Kölner Schriftstellers Dieter Wellershoff als großes Alterswerk gerühmt. Jetzt hat der 83-jährige seinem umfangreichen Œuvre noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt und einen Roman vorgelegt, der ihn wirklich zum ungekrönten König des psychologischen Realismus macht. Überdies schafft es Wellershoff nun auch noch, en passant ein wenig kriminalistische Spannung zu verbreiten.
Der Pfarrer schwankt zwischen Mitgefühl und Verdacht und wird in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Wo Henrichsen geht und steht, wird er von Zweifeln eingehüllt. War es wirklich ein Unfall? Viele Indizien sprechen gegen Lehrer Karbe, der seine Frau verlor und dessen Sohn eine schwere Behinderung davon tragen wird. Nicht zuletzt die fehlenden Bremsspuren geben Anlass zu Spekulationen.
Im Dorf mehren sich die Stimmen derer, die den Lehrer des Mordes bezichtigen und in der vermeintlich zerrütteten Ehe sogleich auch ein passendes Motiv präsentieren. Henrichsen schwimmt zwar vehement gegen diesen Meinungsstrom, doch auch er kann eine latente Antipathie gegenüber Karbe kaum verbergen. Trotzdem entschließt er sich, in einer Predigt aus dem Matthäus-Evangelium zu zitieren: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“ Wütend verlassen einige Gemeindemitglieder – viele von ihnen trauerten ohnehin Henrichsens Vorgänger nach – den Gottesdienst und kündigen ihrem Pfarrer die geistig-religiöse Gefolgschaft. Henrichsen fühlt sich auf der Kanzel wie ein Schauspieler in einer miesen Rolle, und in den dunklen Zimmern des viel zu großen Pfarrhauses wird er von der destruktiven Kraft der Einsamkeit heimgesucht. Wie steht es um die Nächstenliebe angesichts der Anfeindungen gegen Karbe und seine eigene Person?
Henrichsens Existenz steht auf tönernen Füßen. Der Glaube und die Liebe, die beiden Grundpfeiler seines Lebens wackeln gefährlich. Seine Lebensgefährtin Claudia hat ihn unlängst verlassen, und die exotisch-geheimnisvoll gezeichnete Deutsch-Argentinierin namens Luiza löst stürmische emotionale Turbulenzen in ihm aus. Mit Pfarrer Henrichsen, Lehrer Karbe und der leicht obskuren Luiza hat Dieter Wellershoff wieder großartige Figuren entworfen: bestechende Menschenbilder mit Ecken, Kanten und tiefen seelischen Abgründen.
„Ohne Lebenserfahrung könnte man gewiss nicht so schreiben, wie ich das tue. Das heißt aber nicht, dass ich in meinen Texten ständig eigene Lebensprobleme ausagiere. Wenn der Autor wissen will, was an den Menschen dran ist, muss er sie in Schwierigkeiten bringen“, beschrieb Dieter Wellershoff einst sein dichterisches Credo. Und so lässt sich ohne waghalsige Interpretationsartistik eine verbindende Motivklammer vom Frühwerk „Ein schöner Tag“ (1966) bis heute setzen. Es ging Wellershoff stets um die kleinen Alltags-Katastrophen, um zwischenmenschliche Störfeuer, um winzige Nadelstiche, die ein seelisches Ungleichgewicht auslösen können.
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