Lebenshunger und Todesfurcht

Friederike Mayröckers neuester Gedichtband „Scardanelli“

Von Iris HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das poetische Ich, das sich in diesen Gedichten so vielfältig auf Friedrich Hölderlin bezieht, begreift den Dichter des „Hyperion“ als Scardanelli mit der „Schönheit des Wahns im Herzen“. Diese Beziehung gleicht weniger einer intellektuell sich auseinandersetzenden, als vielmehr einem emphatisch vorgetragenen zärtlichen Einverständnis, in dem beide, das poetische Ich und „Höld.“, eine Position der Bedürftigkeit, der Fragilität und Verletzlichkeit einnehmen. Neben der zunehmenden Todesnähe artikuliert sich ein immenser Lebenshunger, von der daraus resultierenden, manchmal kaum auszuhaltenden Spannung sprechen die Gedichte des jüngsten Lyrikbands von Friederike Mayröcker.

Am Anfang stehen dort zwei Gedichte, eines von 1989 und eines von 2004, die frühere Beschäftigungen mit Hölderlin widerspiegeln, während alle folgenden chronologisch geordnete Gedichte von 2008 sind (manchmal erfahren wir sogar die Uhrzeit der Entstehung, warum das wichtig ist, sei dahingestellt). Das erste Gedicht ist unschwer als Erlebnisgedicht zu begreifen und wohl nach einem Besuch des Hölderlinturms entstanden. In wohltuender Klarheit gibt es die Perspektive vor, die die folgenden Gedichte einnehmen. Der Blick fällt auf verwelkende Blumen im Hölderlinzimmer, nicht mehr ganz frische Spuren des Erinnerns an seinen schon lange abwesenden Bewohner und dann auf zwei Stühle, deren bloße Existenz zu dem Dialog einlädt, der hier entfaltet wird. Das zweite bezieht sich nicht auf Hölderlin, sondern spricht von einem magischen Ort in Wien, dem Bürgercafé: Unschwer ist zu lesen, dass es sich auf den seit seinem Tod im Jahre 2000 von Mayröcker so schmerzlich vermissten Lebensgefährten Ernst Jandl beziehen könnte: „erschrecke zuweilen dasz der zu dem ich / spreche nicht da ist“. Damit sind zwei der Koordinaten genannt, zwischen denen sich der gesamte Band bewegt: „Die Prise Hölderlin“, in der in einem Anderen aufscheint, was hier geleistet werden soll: eine Mnemotechnik, die einerseits an diese großen Dichter des Totenreichs erinnert und andererseits ihre eigenen engen Grenzen ausstellt: Sichtbar wird das dort, wo Szondis Celanlektüre anzitiert („die Schnittblumen messerscharf in der Wiese, diese knallharte Mnemotechnik“), und damit die akute Bedrohtheit durch den Tod ins Bild gesetzt wird.

In diese Koordinaten schreiben sich Gedichte hinein, die einen Naturdiskurs entfalten, den man in zeitgenössischen Gedichten ebenso so selten findet, wie man ihn dennoch ebenso häufig bei Mayröcker lesen kann. Die botanisch kenntnisreich sich entfaltende Pracht überwuchert (fast) alles Andere und bereitet den natürlichen Rahmen für eine Lebensfeier, die einerseits ungebrochen, andererseits umso zerbrechlicher erscheint, je mehr sie vom Verfall künden muss. Die Bilder vom Natürlichen sind nicht immer solche des Blühens, sondern oftmals herabwehende Blätter, die sich gelöst haben vom Gesamtorganismus, um ihrer Bestimmung zu folgen, zugrunde zugehen. Es sind zugleich Bilder für die Poetik der Gedichte. Die einzelnen Gedichte lösen sich von der Grammatik, vom Satz, der kohärenten Rede und ihren Kontexten und betonen umso farbiger und greller die Details. Das Bild der Natur, das so entsteht, hat ein langes Leben aufgesogen, um es in letzter Konzentration und Fülle zu reflektieren. In diesen Gärten bewegt sich ein Ich, das sich in großer Schonungslosigkeit als lebenshungriges und dennoch versehrtes zeigt. Bedroht ist es nicht nur von dem nahenden Tod, sondern von der lebendigen Natur selbst („der Waldesschatten (damals) zerrte mir / das Herz aus dem Leib“). Der in so vielen Blütenträumen erscheinende Raum ist, so gesehen, ambivalent und auch das Ich ist janusköpfig: Es ist ein die Lasten des Alters beklagendes und die Trostbedürftigkeit des Kindes zelebrierendes. Auch die Anrufung der Hölderlinfigur erfüllt zwei gegensätzliche Funktionen: Einerseits soll er der Schützende sein, andererseits und auch ungleich häufiger ist er die ähnlich zerbrechliche Bruderfigur. Der Dialog, der so entsteht, fächert sich immer dort noch weiter auf, wo die Autorin (Dichter-)Freunden Gedichte widmet (Elfriede Haider, Pia-Elisabeth Leuschner, Franz-Josef Czernin, Julian Schutting und anderen), direkten Bezug nimmt auf ein anderes Gedicht („Falten und Fallen“ von Durs Grünbein) oder auch Dichterfiguren in ihren Gedichten auftreten lässt. Zweimal ist es etwa Thomas Kling (von Ernst Jandl muss hier nicht mehr die Rede sein), der auftaucht und man versteht sofort warum, wenn man die Verse zitiert, in denen das geschieht: „und scheu der Vogel der Nacht trauert / wie einst Thomas Kling auf der geborstenen Säule mit ausgebreiteten / Flügeln ehe er starb dieser rauhe und zärtliche Held“ und noch einmal in den folgenden für den gesamten Gedichtband programmatischen Versen: „Wir halten uns an / die Schrift weil 1 anderes Geländer haben wir nicht, Thomas / Kling.“. Der früh verstorbene Dichter erhält hier ebenso ein Denkmal, wie er auch zum Bundesgenossen ausgerufen wird. Das Ich lehnt sich mit ihm zusammen als Schreibende gegen den Tod auf, und ebenso wie er wird es diesen Kampf wohl verlieren, aber dennoch bietet die Schrift zunächst einen Halt, so zerbrechlich er sich auch schlussendlich erweisen mag.

Der Naturpreisung an die Seite gegeben sind Verweise auf Lesefrüchte, die kein obsoletes Bildungsgut sind, sondern die Gedichte mit Erfahrungen sättigen, die den eigenen des poetischen Ich einen zusätzlichen Resonanzraum schaffen. Besonders reizvoll ist das dort, wo nicht nur die Wortkunst, sondern auch die bildende Kunst oder die Musik mit einbezogen werden: Man weiß um die Qualität der Tränen, wenn auf John Dowland angespielt wird.

Das Ich, das in diesen und aus diesen Gedichten spricht, ist ebenso klug wie neugierig, ein reisendes zudem und, wie man nicht müde werden kann, es zu betonen, verletzlich und mutig genug, es deutlich zu zeigen. Gerade diese letzte Eigenschaft berührt als Plädoyer für das Fragile, Ersterbende und Strauchelnde sehr. Umhergehen kann man in Seelengärten en miniature, in denen ein schwankendes Ich umso leidenschaftlicher seine Liebe bekennt und zugleich seine eigene Todesverhaftetheit anerkennen muss. Man merkt es den Gärten voller Blumennamen nicht an, dass sie selbst die Perspektive eines Paul Celan noch zu radikalisieren vermögen. Das wird beispielsweise dort deutlich, wo „die Maulbeerbäume verbluteten“. Während es in Celans Anfangsgedicht aus „Atemwende“ („Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten“) vom Maulbeerbaum heißt: „Schrie sein jüngstes Blatt“, sterben die Maulbeerbäume bei Mayröcker ganz.

All das ist mit einer manchmal sentimentalen Signatur versehen, immer aber mit der Subtilität derjenigen, die eine Sprache für die vielfältigen geistreichen Vernetzungen und emotionalen Verstrickungen gefunden hat. Die aber ist durchaus besonders zu nennen und leicht zu lesen ist dieser Gedichtband bis auf die beiden ersten Gedichte überhaupt nicht. Wie in vielen früheren Gedichten wird auch hier eine eigenwillige Grammatik entfaltet und die Rede fragmentarisch und kryptisch abgebrochen. Das mag deiktisch ein Verstummen zeigen, ja auszustellen, dabei wird dieses Verfahren immer zugleich reflektiert. Prekär und das heißt bedrohlich wird das dort, wo das poetische Ich sich seiner Sprache nicht mehr versichern kann: „Dann hört plötzlich alles auf […]; dann geht mir die Sprache verloren“. Hier wird deutlich, wie viel für das Ich auf dem Spiel steht: Alles. Gerade das ist das Mutige und Unhintergehbare an diesen Gedichten: Sie wagen es, die große Verletzlichkeit und Bedürftigkeit eines alternden und zugleich kindlichen Ich zu zeigen, ja zu zelebrieren unter Zuhilfenahme eines preziosen Diskurses, der die Naturemphase der Romantiker radikal überbietet, indem die Natur in jäher Schnitttechnik dargeboten wird. Die Zeit hat sich ihrer bemächtigt und wie Szondi für Celan gezeigt hat, ist auch hier die augenblicklich eintreten könnende Todesnähe jene Spannung, die dem gesamten Gedichtband zugrundeliegt. Wie das poetische Ich sich dieser unüberwindlichen Herausforderung stellt, in barocker Fülle das Leben besingt und den Tod umso mehr fürchtet, lohnt die Lektüre der, typografisch gesehen, wild wuchernden Gedichte.

Titelbild

Friederike Mayröcker: Scardanelli. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
52 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420683

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