Geschichten aus dem Koffer
In Kristín Steinsdóttirs feinfühligem Roman „Eigene Wege“ blickt eine alte Isländerin auf ihr unspektakuläres Leben zurück
Von Monika Stranakova
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseReykjavik ist eine spannende Stadt, weiß die einsame Witwe Siegtrud. Man könnte fast täglich zu Vernissagen oder Lesungen, zum Singen oder zum Schwimmen gehen. Montags und mittwochs sind Museumstage. Freier Eintritt, versteht sich. Die Kulturnacht und das Winterfestival sind dagegen schon etwas Besonderes. Ebenfalls die Demonstrationen gegen Umweltzerstörung und Kriege. Das Angebot ist riesig: Man schlägt das „Morgunblaðið“ auf und muss zuerst eine Prioritätenliste schreiben.
So schlendert Siegtrud mit dem obligatorischen Glas Champagner durch Ausstellungen oder singt aus voller Kehle bei Beerdigungen von ihr unbekannten Menschen, um sich beim anschließenden Leichenschmaus maßvoll Speis und Trank genehmigen zu dürfen. Sie hüllt sich dabei stets in ihren edlen Schal. Französisch ist er und ein Erinnerungsstück. Sie bewahrt ihn mit den spärlichen Dokumenten ihrer Herkunft in einem Koffer auf, der einst ihrer Mutter, einer armen Magd, gehörte.
Seit ihrer Kindheit als Waise im Nordland übt der Koffer eine besondere Anziehungskraft auf sie aus. Stundenlang hat sie sich in ihm versteckt, das Foto ihres Großvaters Magnús, der Franzose gewesen sein soll, betrachtet, und in einem Bildband von Frankreich geblättert. Besonders in ihren Schuljahren, wenn sie wegen ihrer verkrüppelten Hand – „eine winzige Seehundflosse“ – gehänselt wurde, fantasierte sie von einem anderen Leben in Frankreich. Und auch das bescheidene, fast anspruchslose Leben mit Tómas und die Tyrannei der kranken Schwiegermutter in den ersten Ehejahren waren nur mit Tagträumerei zu ertragen. Erst nach dem Tod ihres Mannes nimmt sie ihr Leben in die Hand und geht ihrer Herkunft in den Archiven des Landes auf den Grund.
Doch Siegtrud blickt ohne Gram auf ihr Leben zurück. Jetzt, an ihrem Lebensabend, wenn die Zahl der ihr nahe stehenden Menschen beängstigend abnimmt, bevölkern den Koffer – wir sind in Island, wie könnte es anders sein – die Seelen all jener, die sie nicht vermissen möchte. Sie beobachten sie oder führen mit ihr Gespräche. An manchen Tagen ist der laute Gesang des mürrischen Großvaters Magnús fast nicht mehr auszuhalten. Es wird Zeit, nach Paris aufzubrechen.
In Kristín Steinsdóttirs anrührendem Roman, für den sie 2007 den Isländischen Literaturpreis der Frau erhielt, ist der Koffer nicht nur ein magischer Gegenstand, sondern auch ein Sinnbild der Geschichte einer Frau, einer Familie und einer Nation. Kraftvoll und poetisch schildert die Autorin den von schwierigen Lebenssituationen gesäumten „eigenen Weg“ einer lebensfrohen und mutigen Frau, den viele Isländer im letzten Jahrhundert – so oder ähnlich – gegangen sind.
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