Imperium ohne Institutionen
Mark Mazowers halbierte Gesamtdarstellung der NS-Besatzungspolitik
Von Armin Nolzen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Irgendwie“, so lässt Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ seinen charakterlich etwas schlichten habsburgischen General Stumm von Bordwehr sagen, „geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über“. Die nationalsozialistische Besatzungspolitik, wie sie sich zwischen dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte, ist ein schlagender Beweis für dieses Aperçu. Die sogenannte Neuordnung Europas, die das NS-Regime erstrebte, basierte jedoch nicht auf Totschlag, sondern auf Massenmord. Schätzungsweise 20 Millionen Personen, darunter sechs Millionen Juden und dreieinhalb Millionen sowjetische Kriegsgefangene, fielen der NS-Vernichtungspolitik in den besetzten Territorien zum Opfer, und eine noch größere Personenzahl verlor bei Kampfhandlungen und durch unmittelbare Folgen der NS-Expansion ihr Leben. Grund genug, die Funktionsmechanismen dieser genozidalen Politik, in deren Gefolge halb Europa in einem Taumel der Gewalt versank, einmal in einer synoptischen Zusammenschau auszuloten.
Mark Mazower, Leiter des Center for International History an der New Yorker Columbia University und durch einschlägige Studien zur NS-Besatzungsherrschaft in Griechenland, zur Geschichte Salonikis von 1430 bis 1950 und ein konzises Kompendium über den Balkan sowie eine Gesamtgeschichte Europas im 20. Jahrhundert ausgewiesen, will uns erklären, wie die vom NS-Regime projektierte neue Ordnung funktionierte, welcher Binnenlogik sie folgte und woran sie letztlich scheiterte. Er geht davon aus, dass sich das Deutsche Reich im Verlauf seiner Okkupationsherrschaft zu einem Imperium verwandelte, wie es sonst nur im 19. Jahrhundert existierte. Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung „Der Weg nach Großdeutschland“ behandelt die Vorgeschichte jener „großdeutschen Utopie“ seit 1848 und die militärischen Expansionsschritte des NS-Regimes zwischen dem „Anschluss“ Österreichs und dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Der zweite Teil mit der Überschrift „Die Neue Ordnung“ widmet sich zentralen Politikfeldern der NS-Besatzungsherrschaft wie der materiellen und personellen Ausplünderung der eroberten Gebiete, dem Holocaust, der Kollaboration, dem Widerstand und den militärischen Rückzügen. Im dritten und kürzesten Teil blickt Mazower dann auf Europa nach 1945 und lotet Kontinuitäten und Brüche zur NS-Zeit aus. Hier findet sich auch ein Exkurs zu der in den letzten Jahren kontrovers debattierten Frage, inwieweit die NS-Besatzungspolitik auf dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts fußte.
Es ist an dieser Stelle kaum möglich, die vielfältigen Ergebnisse dieser Studie zusammenzufassen. Einige Hypothesen, die zwar keine genuin neuen Erkenntnisse darstellen, das bisherige Bild der Forschung aber differenzieren helfen, sollen dennoch Erwähnung finden. Überzeugend zeigt Mazower, dass weder Adolf Hitler noch andere zentrale Protagonisten des NS-Regimes ein konkretes Konzept zur Beherrschung Europas besaßen, sondern sich die okkupationspolitische Praxis stets am Objekt selbst ergab und bisweilen auch, vor allen Dingen nach der Niederlage vor Stalingrad Ende Januar 1943, grundlegend modifiziert wurde. Die Politik gegenüber den einheimischen Bevölkerungen folgte einer kruden Rassenhierarchie, an deren Spitze die „Germanen“ Dänemarks, Norwegens und der Niederlande standen, die vergleichsweise milde behandelt wurden. Am rigorosesten richteten sich Terror und Vernichtung gegen Polen, Serbien und die Sowjetunion. Insofern verwundert es nicht, dass der Schwerpunkt der vorliegenden Studie in Osteuropa liegt und der Autor die meisten anderen Länder nur kursorisch abhandelt (der NS-Okkupationspolitik in Italien seit dem Herbst 1943 und in Ungarn seit dem Frühjahr 1944 widmet er lediglich wenige Seiten). Er konstatiert einen zumeist ideellen Wert des politischen Widerstands gegen die NS-Herrschaft für die Nachkriegsordnung und gibt sich über die militärische Bedeutung der Partisanenbewegungen keinerlei Illusionen hin. Schließlich hebt Mazower die Bedeutung der Kollaboration für die NS-Herrschaft hervor, obgleich er sich vordringlich auf die Regierungsebene konzentriert, die etwa im Fall Vichy-Frankreichs eine besondere Rolle spielte. Das Scheitern der nationalsozialistischen Neuordnungspläne sieht er eher traditionell in der Unfähigkeit Hitlers und seiner Satrapen zu konstruktiver Politik begründet.
Dem Autor ist eine präzise und zudem hervorragend geschriebene Synthese der NS-Besatzungspolitik in Europa gelungen, die auf der Höhe der neuesten, in der Regel jedoch englisch- und deutschsprachigen Forschungsliteratur argumentiert. Gleichwohl liefert er nur eine halbierte Gesamtdarstellung, die zudem stark aus der Perspektive der Spitze des NS-Regimes geschrieben ist. In seiner Monografie gibt es ferner einen Bereich, der fast vollständig fehlt: Die institutionelle Seite der Besatzungsherrschaft. In den letzten Jahren hat sich unter amerikanischen und britischen Historikern, die zur NS-Zeit arbeiten, ein seltsames Verständnis von Politik eingebürgert, das einigen wenigen Akteuren eine nachgerade beliebige Kraft zu deren Implementation attestiert. Dabei werden die Institutionen des NS-Regimes, ohne die auch dessen Besatzungspolitik kaum zu verstehen ist, oftmals vernachlässigt. Auch Mazower stellt nicht eine einzige NS-Behörde vor. Welche Rolle die Militärverwaltungen und zivilen Besatzungsorgane in den eroberten Gebieten spielten, bleibt unklar. Das NS-Regime war jedoch eine Gesellschaft, die in hohem Grade eine organisierte war. Dies galt auch und gerade für die Okkupationspolitik, die größtenteils in dem Versuch bestand, den eroberten Ländern die im „Altreich“ bestehenden Organisationsstrukturen zu oktroyieren. Auch diesen Sachverhalt bekommt der Autor nicht in den Blick, weil er die institutionellen Ordnungen der eroberten Länder ebenfalls unberücksichtigt lässt. Das Bild von einem „organisierten Chaos“ in der NS-Besatzungspolitik, das er durchgängig zeichnet, vermag insofern nicht zu überzeugen.
Aus Mazowers Versäumnis, die institutionellen Komponenten der NS-Besatzungspolitik zu analysieren, resultiert ein weiteres Problem. Der Begriff des Imperiums, den er etwas freihändig zur Kennzeichnung der NS-Besatzungsherrschaft gebraucht, bleibt im Grunde genommen völlig in der Luft hängen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Konzept hätte es erfordert, etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum klassischen Nationalstaat herauszuarbeiten. Damit wären wichtige weiterführende Fragen verbunden gewesen, etwa nach den Mechanismen der imperialen Integration. Dazu gehörten so unterschiedliche Aspekte wie die Bindung der einzelnen territorialen Segmente an das Zentrum, dessen Kommunikation mit der Peripherie, die politische Partizipation in den unterjochten Gebieten sowie der Stellenwert des Rechts und der wirtschaftlichen Beziehungen. Mazower konzentriert sich auf Terror und Gewalt, die sicherlich die wichtigsten Ingredienzien der NS-Besatzungsherrschaft bildeten, aber beileibe nicht die einzigen. Es fehlen Kultur, Wissenschaft, Erziehung und Religion, die der polnische Historiker Czeslaw Madajczyk in seiner zu Beginn der 1980er-Jahre publizierten Darstellung „Faszyzm i okupacje“, die niemals ins Deutsche übersetzt worden ist, als integrale Bestandteile der NS-Herrschaft über Europa identifiziert hat. Im Unterschied dazu bleibt nach der Lektüre von Mazowers Buch, bei aller Brillanz im Detail, die irreführende Vorstellung haften, ein Imperium könne ohne Institutionen auskommen.
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