Versöhnliche Altersstimmung
Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger
Von Peter Mohr
„Nicht immer macht mein Gehirn, / was ich will. Missverständnisse, / Kräche bleiben nicht aus. / Wenn es dunkel wird, / versuche ich, es ganz einfach / abzuschalten. Vergebens.“ Diese Zeilen aus Hans Magnus Enzensbergers jüngstem Gedichtband „Rebus“ lassen sich durchaus als lyrisches Selbstzeugnis eines Schriftstellers lesen, der sich im Laufe von mehr als 50 Jahren vom impulsiven, rebellierenden „Bürgerschreck“ zu einem der pointiertesten Intellektuellen des Landes und zum vehementen Verteidiger des klassischen Bildungsgutes entwickelt hat.
In Zeiten multimedialer Banalisierung des Alltags bricht Enzensberger eine wortgewaltige Lanze für die geistreiche Konversation, für das Zwiegespräch auf hohem intellektuellem Niveau und für eine anspruchsvolle Streitkultur – so in seinem 2004 erschienenen Band „Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten.“
Schon häufiger in jüngerer Vergangenheit zeigte Hans Magnus Enzensberger, der vor 80 Jahren als Sohn eines Oberpostdirektors in Kaufbeuren geboren wurde, eine starke Affinität zu historischen Stoffen: bei den Theaterstücken „Eine romantische Frau“ (1990) und „Diderot und das dunkle Ei“ (1993), bei der Calderon-Interpretation „Die Tochter der Luft“ (1993), beim ein Jahr später erschienenen Band „Diderots Schatten“ und bei den Theaterstücken „Nieder mit Goethe“ (1996), „Der Untergang der Titanic“ (1999) und beim großen erzählerisch-dokumentarischen Band „Hammerstein“ (2008). In diesem Buch, das den Untertitel „eine deutsche Geschichte“ trägt, beschäftigt sich Enzensberger mit dem rasanten Aufstieg des Berufssoldaten Kurt von Hammerstein, der 1930 als General Chef der Heeresleitung ist und vier Jahre später vom Dienst suspendiert wird, weil er Adolf Hitler die Gefolgschaft versagt hatte.
Enzensbergers Faible für Dichter und Denker vergangener Epochen hat auch einen handfesten biografischen Hintergrund, denn schon 1955 promovierte er mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos. Doch die künstlerischen Anfänge des literarischen Multi-Talents waren von ganz anderem Kaliber. 1957 stieß der erste Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ auf ein beachtliches Echo, und Enzensberger gehörte fortan (als eines der jüngsten Mitglieder) zur renommierten „Gruppe 47“. Deren Gründungsmitglied Alfred Andersch attestierte nach dem Erscheinen des Lyrikbandes „Landessprache“ (1960), dass es sich um „große politische Gedichte“ handelt.
Im Vorwort dieses Werkes schrieb Enzensberger: „Diese Gedichte sind Gebrauchsgegenstände, nicht Geschenkartikel. Zur Erregung, Vervielfältigung und Ausbreitung von Ärger sind diese Texte bestimmt.“ Enzensberger, der 34-jährig bereits mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, präsentierte sich in seinen frühen Gedichten als vehementer Gegner der Wiederaufrüstung und fand vor allem im linken Lager ein nachhaltiges Echo.
1965 gründete er die politisch-literarische Zeitschrift „Kursbuch“, die für undogmatische Linke eine neue „publizistische Heimat“ bieten sollte. Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung schrieb Enzensberger: „Die ganze Veranstaltung schmückt sich mit dem Namen Kulturrevolution, aber sie sieht einem Jahrmarkt verdammt ähnlich.“
Damit hatte er sich wieder Luft verschafft, den notwendigen politischen Freiraum für seine literarische Arbeit, die fortan von vielen Kritikern jedoch nicht nur nach künstlerischen, sondern auch nach politischen Kriterien seziert wurden. Mit dem Image des „enfant terrible“ konnte der skeptische Querdenker Hans Magnus Enzensberger all die Jahre gut leben. Seine Töne sind mit der Zeit versöhnlicher geworden, seine Bissigkeit ist einer altersweisen, leichten Melancholie gewichen. Bezeichnend dafür ist der letzte Satz in seinem Lyrikband „Rebus“: „Verzeiht mir, dass ich Glück gehabt habe“.
Hans Magnus Enzensbergers öffentliche Wirkung im Kulturbetrieb (als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Klassikerinterpret, Hörspielautor, Kritiker, Herausgeber, Verleger und polemischer, dabei höchst streitbarer Essayist) ist noch immer weitaus größer als es die künstlerische Summe all seiner Werke vermuten lässt.