Fahrt ins Blaue

Ein Prachtband mit einer Neuübersetzung der „Odyssee“ hält nur ansatzweise, was er äußerlich verspricht

Von Malte DreyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Dreyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Malmot, man habe sich seinen Homer eigens zu erarbeiten, erhält mit dem Erscheinen dieser neuen Übersetzung eine verblüffend wörtliche Bedeutung. Der prachtvoll ausgestattete Band hat einen stolzen Preis von rund 90 Euro. Sicherlich nichts für Zeitgenossen, die beim Namen „Homer“ zunächst an das chronisch faule Familienoberhaupt der Simpsonsfamilie denken, anstatt den mutmaßlichen Verfasser der „Odyssee“ im Sinn zu haben. Und die Arbeit geht nach dem Erwerb in der Studierstube des Liebhabers weiter.

Denn um den mächtigen Folianten aus dem schmucken Schuber wuchten und aufgeschlagen vor sich platzieren zu können, muss zuerst der für gewöhnlich verrümpelte Schreibtisch des Lesers gründlich abgeräumt werden. Geöffnet misst die Diagonale dieses schicken Bandes knapp einen halben Meter. Eine Neuübersetzung des über 2500 Jahre alten Evergreens ist immer ein Ereignis, dem der ohnehin für seine kunstvollen Ausgaben bekannte Manesse Verlag einen gebührenden Rahmen verleiht. Das maritime Blau des Leineneinbandes korrespondiert farblich mit den 16, zum Teil doppelseitigen Graphiken, die dem geräumig gesetzten Text eine geistreiche Visualisierung zentraler Szenen an die Seite stellen und dabei dezent ihre illustrative Funktion bewahren. Wie schon bei der vor zwei Jahren in derselben Reihe erschienenen Prachtausgabe von „Gullivers Reisen“ stimmt hier in ästhetischer Hinsicht vom Rückenschild bis zum Lesebändchen einfach alles.

Ob sich der Eindruck überlegter Gestaltung und hochwertiger Ausstattung auch inhaltlich bestätigen lässt, ist indes umstritten. Neuübersetzungen kanonischer Texte sind wie mehrfach beschriebene Pergamente, die dazu anhalten, in ihnen nach den verborgenen Spuren früherer Bearbeitungen zu suchen. Zu einer grundsätzlichen Erörterung lädt die Frage ein, ob die Versform des antiken Originals metrisch imitiert oder zugunsten der besseren Lesbarkeit des Textes in fließende Prosa übersetzt werden sollte. Steinmann schreibt in einer angesichts seiner Leistung bescheiden kurzen Anmerkung zur Übersetzung, dass für ihn von vornherein feststand, „daß nur eine hexametrische Wiedergabe in Frage kam, ist doch die äußere Form des homerischen Epos mit ihrem Inhalt untrennbar verschmolzen“.

Diese Wahl macht einen Vergleich mit der bis heute maßgeblichen Übersetzung von Johann Heinrich Voß nahezu unausweichlich. Die Meinungen über den Erfolg von Steinmanns Projekt sind allerdings geteilt. Während Hans Albrecht Koch die Entscheidung Steinmanns, für die Dauer weniger Verse auf die Anfangsbetonung der klassischen Form zu verzichten, als zeitgemäße Erneuerung feiert, moniert Johan Schloemann in der SZ, dass die neue Übersetzung dadurch unelegant wirke und eines ästhetischen Mehrwertes entbehre. Tatsächlich zeichnet sich die Voß’sche Übersetzung durch eine sprachliche Geschmeidigkeit und rhythmische Kohärenz aus, die von Steinmann bei Weitem nicht erreicht wird. Eine vergleichende Gegenüberstellung allein der ersten Zeilen beider Übersetzungen macht das Urteil der Kritiker Steinmanns nachvollziehbar. Voß übersetzt den bekannten Beginn der Odyssee wie folgt: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet, / Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.“

Dagegen übersetzt Steinmann: „Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den oft es / abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte. / Vieler Menschen Städte sah er und lernte ihr Denken / kennen und litt auf dem Meer viel Qual in seinem Gemüte, / trachtend sein Leben zu sichern und seinen Gefährten die Heimkehr.“

Während die Voß’sche Übersetzung durch ihre fließende Rhythmik besticht und Alliterationen sowie klangmalerische Mittel wie das trabende, fünfsilbige „vielgewanderte“ verwendet, bremsen die Häufungen einsilbiger Pronomen in Steinmanns Version den Lesefluss und verleihen dem klanglichen Bild seines Homers einen harten Nachhall. Dem schwungvollen „Städte gesehn und Sitte gelernt“ bei Voß steht Steinmanns nüchtern feststellendes „Städte sah er und lernte ihr Denken“ gegenüber, und aus dem vieldeutigen „Seele“ wird schlicht „Leben“. Zwar könnte der Einsatz der gebräuchlicheren Vokabel „Leben“ anstelle des religiös konnotierten Wortes „Seele“ als behutsamer Modernisierungsversuch gewertet werden, und tatsächlich ist das Vokabular in Steinmanns gesamter Übersetzung vergleichsweise zeitgemäß. Aber es scheint, als würde der Versuch, Homer in ein gegenwärtiges Deutsch zu kleiden, von dem rhythmischen Diktat der griechischen Vorlage durchkreuzt werden; beispielsweise wenn heute ungebräuchliche Worte sich dem metrischen Schema besser fügen als aktuelle Varianten. Dieses Problem hatte allerdings jeder Übersetzer, der an der Versform festhielt und ob Steinmanns Lösungsversuche im Einzelnen als misslungen oder geglückt zu bezeichnen sind, bleibt dem Urteil jedes einzelnen Rezipienten überlassen.

Wieviele Leser die „Odyssee“ Homers nach dem vielbeweinten Ende der humanistischen Bildung und der daraus resultierenden Auflösung ihres verbindlichen Kanons künftig haben wird, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit die Werke der klassischen Antike auf unsere gegenwärtigen ästhetischen, politischen und individuellen Praktiken bezogen werden können. Weil sich im Zeitalter fortschreitender Spezialisierung die Vermittlung von Literatur immer weniger auf kollektive Wissensbestände stützen kann, werden Kommentare, Nachworte, Fußnoten und andere didaktisch wertvolle Begleittexte immer unabdinglicher. Aber dem Nachwort von Walter Burkert gelingt es nur partiell, gegenwärtige Bezüge herzustellen. In Ansätzen wird das Phänomen Homer mit aktuellen ästhetischen Konzepten konfrontiert, um im Kontrast kultureller Differenzen unsere heutigen Vorstellungen beispielsweise von Autorenschaft oder Schriftlichkeit neu zu beleuchten. Wenn er etwa erwägt, ob Homer eine Person gewesen ist, oder ob nicht vielmehr von einem Autorenkollektiv ausgegangen werden muss, scheint der Vergleich zu den heute bekannten Konzepten kollektiver Autorenschaft im Internet zwar naheliegend, aber er wird nicht explizit thematisiert. Dafür wird der Einsatz erzählerischer Fertigbausteine, die als antike Spur einer lebendigen mündlichen Vortragspraxis lesbar sind, etwas ungelenk mit einer „Computerprogrammierung“ verglichen, was unweigerlich die Frage nach sich zieht, was sonst außer Computern noch programmiert werden kann. Etwas unterbelichtet ist auch die Frage, welche Funktion die eigentümliche Doppelstellung der Epen zwischen historischem Bericht und fiktiver Geschichte in den damaligen Selbstverständigungsdiskursen eingenommen hat und vor allem: welchen Gewinn wir heute aus dieser Beobachtung hinsichtlich der in unserem Kulturkreis so rigeros verfolgten Trennung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion ziehen können. Stattdessen analysiert Burkert die Widersprüche auf der Ebene der Figurenhandlung und widmet sich ausführlich den üblichen Datierungs- und Lokalisierungsfragen; leider ohne ihre Relevanz für die heutige Rezeption der Odyssee ausreichend zu verdeutlichen. Wenigstens die Anmerkungen und das ausführliche Namensverzeichnis lassen nichts zu wünschen übrig.

Wer sich erst mit Homers „Odyssee“ vertraut machen oder sein Exemplar lediglich zum Nachschlagen benutzen möchte, wird sicherlich auf die günstigen Taschenbuchausgaben der anerkannten Übersetzungen von Voß und Wolfgang Schadewaldt zurückgreifen. Des Altgriechischen mächtige Leser werden sich dagegen eine differenzierte Meinung über die philologische Arbeit Steinmanns machen wollen. Vor diesem Hintergrund wäre es schön gewesen, wenn Manesse eine zweisprachige Ausgabe bestellt hätte, um den direkten Vergleich des griechischen Originals mit der vorliegenden Übersetzung zu erleichtern.

Mit dem vorliegenden Titel ist dem Verlag dennoch ein bibliophiles Glanzstück gelungen. Auf die beste Übersetzung müssen wir indes noch weiter warten.

Titelbild

Homer: Odyssee.
Übersetzt aus dem Griechischen von Kurt Steinmann.
Manesse Verlag, Zürich 2007.
441 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783717590200

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