Ein buntes Kaleidoskop von Erfahrungen und Befindlichkeiten
Zu Martin Sabrows Anthologie über unterschiedliche Erinnerungen an die DDR
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor etwa zwei Jahrzehnten hörte die DDR auf zu existieren. Doch in vielen Erinnerungen ist sie noch allgegenwärtig, wenn auch in unterschiedlicher Couleur. Für die einen war sie ein Unrechtsregime, andere verklären sie nostalgisch und andere wiederum denken dabei vor allem „an die Mühen um ein aufrechtes Leben in gedrückten Verhältnissen“. Zudem ist der Blick auf die DDR, den die Zeugnisse einer verzweifelten Suche nach Fluchtmöglichkeiten vermitteln, völlig verschieden von dem Eindruck des „Leselandes DDR“, das die sorgfältig gestalteten Einbände der belletristischen Buchreihen des Aufbau Verlages transportieren.
Mittlerweile wurde der einstige ostdeutsche Staat zu einer Projektionsfläche von Erinnerungen, auf der unterschiedliche Sichtweisen heute sehr viel lauter um ein stimmiges Bild der zur Geschichte gewordenen DDR streiten als dies in den ersten zwanzig Jahren bei der NS-Zeit der Fall war, wobei sich nicht selten gerade jene lautstark zu Wort melden, die den Handlungsbedingungen der Ostdeutschen gar nicht ausgesetzt waren. Um so wichtiger und notwendiger ist eine allgemeine Verständigung über die unterschiedlichen DDR-Gedächtnisse in der Aufarbeitungskultur unserer Tage. Dieses Bedürfnis hat der 1954 in Kiel geborene Zeithistoriker Martin Sabrow – er ist Dozent an der Berliner Humboldt-Universität und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam – erkannt und zum 20. Jahrestag des Mauerfalls eine umfangreiche und überaus informative Anthologie von DDR-Erinnerungsorten mit einer überraschenden Perspektivenvielfalt herausgegeben, in der über die wichtigsten Bezugspunkte der Erinnerung an ein untergegangenes Land fünfzig Autoren zu Wort kommen, die als historische Fachwissenschaftler und publizistische Beobachter, aber auch als handelnde Bürger und als politische Protagonisten selbst am Formungsprozess von Erinnerungsorten beteiligt waren und sind. Eine Reihe von ihnen ist in der DDR groß geworden sind. Aber auch jene Autoren, die im Westen aufgewachsen sind, sind mit dem Umbruch und der Szenerie im Osten wohl vertraut.
Kein Erinnerungsmuster hat offensichtlich, das zeigen zahlreiche Aufsätze deutlich, die Zeitenwende um 1989/1990 unbeschadet überstanden. Nach dem unvermuteten Untergang des zweiten deutschen Staates, an dessen Dauerhaftigkeit zuvor kaum jemand gezweifelt hatte, schien dieser zunächst auch seine eigene Geschichte verloren zu haben. In den Monaten von Wendehoffnung, Revolutionserfahrung und Vereinigungsjubel fanden sich nur wenige Stimmen, die an das Bewahrenswerte der von ihren Bürgern aufgegebenen Gesellschaftsordnung erinnern mochten. Erst in der Vereinigungskrise der frühen 1990er-Jahre, die mit enttäuschten Zukunftshoffnungen auch das Bewusstsein einer ostdeutschen Identität schärfte, formten sich neue Erzählmuster heraus. Selbst jene, die sich von der DDR-Diktatur befreit fühlten, verloren durch die Schwierigkeiten des Übergangs in die vergrößerte Bundesrepublik häufig ihren anfänglichen Enthusiasmus.
Anders als das „Dritte Reich“ hat die deutsche Variante des europäischen Kommunismus offenbar noch keine eindeutig markierte Position im kulturellen Gedächtnis gefunden. Klar ist nur, dass die letztlich pervertierte Weltanschauung der kommunistischen Bewegung humanere Ziele angestrebt hat als die Ideologie des Nationalsozialismus, dass beispielsweise Anna Seghers und Bertolt Brecht einen anderen Stellenwert in der literarischen Moderne einnehmen als etwa ein Artur Dinter oder ein Erich Edwin Dwinger.
Aber schauen wir uns die verschiedenen Erinnerungen an die DDR, so wie sie sich aus der Anthologie darstellen, einmal genauer an. Da haben wir zunächst das „Diktaturgedächtnis“, das im Zentrum des öffentlichen Gedenkens steht und auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutigen Überwindung in der friedlichen Revolution von 1989/90 abhebt und unter anderem darauf pocht, dass zum Verständnis der DDR die Stasi wichtiger sei als die Kinderkrippe.
Das sogenannte „Arrangementgedächtnis“ erzählt von alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen, aber auch von einer gewissen Mitmachbereitschaft und vom Stolz auf das in der DDR Erreichte. Es verweigert die säuberliche Trennung von Biografie und Herrschaftssystem.
Noch stärker im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung existiert das sogenannte „Fortschrittsgedächtnis“, das an der Idee einer legitimen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung festhält und seine Erinnerungen auf der vermeintlichen moralischen und politischen Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten aufbaut. Hier geht es um die Rückbesinnung auf die vermeintlich zu Unrecht verkannten Vorzüge des DDR-Bildungssystems und um die Vorstellung von einer DDR-Welt, für die der Mensch keine Ware war und die für die Gleichstellung der Frau sorgte.
Als Erinnerungsorte im engeren Sinne existieren mittlerweile Untersuchungsanstalten und Dienstsitze der Staatssicherheit. Immerhin sei die Stasi, schreibt Jens Gieseke, ein relevanter Kristallisationspunkt der Erinnerung an das Beunruhigende in der alltäglichen Diktatur – Geschichte sei sie deshalb noch lange nicht.
Annette Leo setzt sich mit dem „Antifaschismus“ auseinander, der in Ost und West mit recht konträren Vorstellungen besetzt war. Im DDR-offiziellen Antifaschismusbild galten Kommunisten als die wichtigste Opfergruppe des Nazi-Terrors und gleichzeitig als die führende Kraft im Widerstand. Das Vermächtnis der Millionen Ermordeten, so hieß es stets, sei in der sozialistischen DDR erfüllt worden. Lange Zeit fühlten sich daher die DDR-Bürger nicht verpflichtet, sich mit den alltäglichen Verstrickungen in der NS-Zeit im Heimatort, im Betrieb und in der Familie auseinanderzusetzen. Silke Klewin, wissenschaftliche Leiterin der Gedenkstätte Bautzen, äußert sich über ihre Arbeitsstätte, die einst ein berüchtigter DDR-Knast war und in der etliche prominente Leute eingesessen haben, wie etwa Walter Kempowski, Erich Loest, Rudolf Bahro, Wolfgang Harich, Karl Wilhelm Fricke und Walter Janka. Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora, thematisiert die lange tabuisierte Geschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar, wo von September 1945 bis Februar 1950 ein sowjetisches Speziallager existierte. Anschaulich schildert Silke Satjukow, wie die russische Besatzungsmacht von der ostdeutschen Bevölkerung wahrgenommen wurde, zunächst als bedrohlich und später als fremde Freunde.
Viele unterschiedliche Themen werden in der Anthologie angesprochen, die hier nur durch Stichworte angedeutet werden können wie „Brigadefeier“, „Bückware“, Sandmännchen, Trabiland, Planwirtschaft, Plattenbau, Bitterfelder Weg. Alexander von Plato beschäftigt sich mit sowjetischen Speziallagern, Siegfried Lokatis mit der „Zensur“, mit heißen Eisen und Tabus, die keinesfalls berührt werden durften, wie etwa die Vergewaltigung deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee bei der Befreiung oder der GULag. Andere Beiträge befassen sich mit „Eisenhüttenstadt“, mit den am 1. Mai üblichen Demonstrationen, mit der Jugendweihe, dem Palast der Republik, auch „Erichs Lampenladen“ genannt, mit den unpolitischen Nischen, die es in der DDR auch gegeben hat, mit den einst heiß begehrten Urlaubsplätzen an der Ostsee, der Rockgruppe Puhdys, dem Intershop, der Ständigen Vertretung in Berlin-Mitte, mit der Transitautobahn und den Westpaketen. Erwähnt werden verschiedene Fluchtversuche durch selbstgebaute Tunnels. Ein Bild zeigt den Abtransport des tödlich verletzten Peter Fechter durch DDR-Grenzsoldaten am 17. August 1962, nachdem ihm eine Stunde lang jede Hilfe verweigert worden war.
Insgesamt verdeutlichen die Aufsätze recht gut die Entwicklung in der DDR und das sich allmählich verändernde Verhältnis der Bundesrepublik zum ostdeutschen Staat. Am 7. Oktober 1949 hatte sich bekanntlich der deutsche Volksrat der Sowjetischen Besatzungszone als Provisorische Volkskammer konstituiert. Die Partei, die sich im Besitz der Wahrheit über den historischen Prozess wähnte und ein Gesellschaftsprojekt symbolisierte, das seine Bürger gegen den eigenen Willen zum (sozialistischen) Glück zwingen wollte, forderte absolute Unterordnung, denn wie sagte einst Mielke: „Der Kommunist gibt sein Leben und ist bereit, auf alles zu verzichten.“ Der „Sozialismus“ ließ sich in dreierlei Gestalt verorten, meint Martin Sabrow, als heilsgeschichtlicher Hoffnungsort, als machtpolitischer Geltungsort und als inner- und postkommunistischer und inzwischen erkalteter Erinnerungsort.
Im Rahmen der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre veränderte sich in der Bundesrepublik die Wahrnehmung der DDR. Nunmehr setzte man sich stärker mit Menschenrechtsverletzungen im jetzt de facto anerkannten Nachbarstaat auseinander. In Pankow, dem Machtzentrum der DDR, litt dagegen die politische Klasse zunehmend an einem Realitätsverlust, der 1989 seinen Höhepunkt erreichte, während sich in der Bevölkerung ein Stimmungswandel bemerkbar machte, abzulesen an den wöchentlichen Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche und an den sich anschließenden Montagsdemonstrationen, die am 4. September 1989 ihren Anfang nahmen. Ulrike Poppe erinnert an die ersten Sitzungen am „Runden Tisch“, die vom 7. Dezember 1989 an bis zum 12.März 1990 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus stattgefunden haben, und Lutz Niethammer weist auf die letzte und stärkste Gemeinschaftserfahrung in der DDR, auf die friedliche Revolution, hin und meint, dass wir im Osten wohl eine tiefer verwurzelte und fröhlichere Opposition gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise erwarten dürften als bei den ungläubig Überraschten im Westen.
Welche Orte hat die Erinnerung an die Ohnmacht, fragt Joachim Gauck. „Inzwischen sind die Ruinen von einst beseitigt, die Herrschaft des Rechtes ist zurückgekehrt, die demokratischen Strukturen sind fest etabliert dort, wo einst die DDR war […]. Aber bei einem Teil der Bevölkerung nistet die Ohnmacht noch immer in den Seelen.“ Nun habe der „Kapitalismus“ die Rolle der übermächtigen Instanz übernommen, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit angeblich verhindert. Andere indes hätten den Aufbruch gewagt und als Wähler und Gewählte Verantwortung übernommen. Doch bei vielen wirke die Ohnmacht, die sie in der DDR gefühlt haben, noch fort. Wichtig sei es, sich zu erinnern, zu besprechen und wenn nötig, zu betrauern, was „unsere Ohnmacht“ war, mahnt Gauck und fordert, „treten wir heraus aus dem dunklen Schatten einstiger Prägung.
Konrad H. Jarausch wiederum zitiert den Theologen Richard Schröder, der hinsichtlich des Umbruchs 1989/1990, in ironischer Umkehrung des Mitscherlich-Diktums eine „Unfähigkeit zur Freude“ konstatierte.
Der mit umfangreichen Anmerkungen versehene dickleibige Band (leider enthält er kein Personenregister) gewährt einen nachhaltigen Einblick nicht nur in die Strukturen und Entwicklungen der einstigen DDR und in vergangene und gegenwärtige ostdeutsche Befindlichkeiten, er liefert auch ein buntes Kaleidoskop von Erfahrungen, Eindrücken, Strömungen, Hoffnungen und erzählt eine abenteuerliche Geschichte, die manche Ausführungen erst richtig lebendig machen.
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