Gerettet

Erstmals erscheinen Siegfried Jägendorfs Erinnerungen an „Das Wunder von Moghilev“, durch das tausende Juden vor der Vernichtung bewahrt wurden, in deutscher Sprache

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1941 der Ingenieur Siegfried Jägendorf aus der rumänischen Bukowina, wo er 1885 als Schmiel Jägendorf noch als ein Bürger der Habsburger Monarchie geboren wurde, von den Rumänen mit seiner Familie und tausenden anderen Juden über den Fluss Dnjestr ins transnistrische Moghilevey deportiert wurde, war ihm sofort klar, dass hier nur überleben konnte, wer selber initiativ wurde. Die Chance bot sich bald: Jägendorf konnte den rumänischen Bewachern klar machen, dass er in der kriegszerstörten Stadt die Stromversorgung wieder herstellen könnte. Dafür brauchte er qualifizierte Arbeiter, die er unter den Deportierten auswählen wollte, und eine Fabrikhalle. Er bekam beides. So begann „das Wunder von Moghilev“. Jägendorfs ,Fabrik‘ in Moghilev rettete tausende Juden vor der Ermordung.

Nach dem Krieg schrieb der inzwischen nach den USA ausgewanderte Jägendorf seine Geschichte des „Wunders“ auf. Diese Aufzeichnungen sowie der weitere Nachlass Jägendorfs ging nach seinem Tod 1970 auf Veranlassung der Familie an die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Dort konnte man die Geschichte Jägendorfs bestätigen. Aber erst 1991 wurden Jägendorfs Erinnerungen erstmals in Amerika veröffentlicht. Der Publizist Aron Hirt-Mannheimer gab sie heraus. Er hatte inzwischen mit vielen Überlebenden aus Moghilev gesprochen und neue Dokumente eingesehen. Nun versah er den Text Jägendorfs mit kommentierenden Anmerkungen und erläuternden Hintergrundinformationen zur historischen Situation in Rumänien. Er bestätigte die teilweise von Jägendorf nur knapp skizzierten Umstände in Moghilev und korrigierte an den Stellen, wo Jägendorfs Erinnerungen vage oder unklar blieben. Diese Veröffentlichung liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Ein verdienstvolles Buch. Denn es lenkt die Aufmerksamkeit auf hierzulande wenig bekannte Geschehnisse und Umstände im Prozess der Vernichtung der europäischen Juden. Die kurze Einführung des Herausgebers in die zeitgeschichtlichen Umstände der Deportation der Juden im Herbst 1941 nach Tansnistrien macht die Verantwortung des mit Deutschland verbündeten faschistischen Regimes unter dem rumänischen Diktator Ion Antonescu deutlich. „Außer Deutschland“, so resümierte Raul Hilberg in seinem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ über diese Deportationen, insbesondere aber über die grausamen Mordaktionen der Rumänen an nahezu 150.000 einheimischen Juden in ,Transnistrien’, „war kein anderes Land in Judenmassaker solchen Ausmaßes verstrickt“.

Doch ist die Geschichte Jägendorfs auch noch aus einem anderen Grund interessant. Jägendorf glaubte, mit einem rationalen Argument den Mördern begegnen zu können. Wenn, so das Kalkül, er beweisen konnte, dass die Juden im Ghetto „produktiv“ sein könnten, dann würde die Widersinnigkeit der Terrormaßnahmen deutlich, und bei den Machthabern zu einer Einsicht in ihr ,kontraproduktives‘ Verhalten führen. Auf gleiche Weise versuchten auch die „Judenräte“ in den Ghettos Osteuropas das Verhängnis aufzuhalten. Man wollte den Deutschen entgegen kommen, indem man möglichst produktiv arbeitende Betriebe gründete, in der Hoffnung, sie könnten unentbehrliche Beiträge zur Kriegswirtschaft der Deutschen leisten. Die Peiniger ließen dergleichen zu, doch davon unberührt verlangten sie weiterhin die Erfüllung ihrer Todesquoten. Wie das zu leisten war, überließen sie den Judenräten. So zwangen sie diese, darüber zu entscheiden, wer auf die Deportationslisten kam und wer im Ghetto bleiben durfte. Eine Abwägung: es traf die Alten, Kranken und Schwachen, Kinder – damit die übrig gebliebenen überleben konnten. Eine unmenschliche Situation. Und doch vergebens. Am Ende wurden die Ghettos aufgelöst und auch die noch verbliebenen Bewohner wurden der geplanten Ermordung zugeführt.

In Moghilev aber lief es anders. Jägendorfs ,Argument‘ wurde akzeptiert, und er durfte seine Fabrik aufbauen. Der ,produktive‘ Faktor war für die rumänischen Verantwortlichen sofort messbar: nicht nur bauten die Arbeiter Jägendorfs eine vollkommen zerstörte Fabrik wieder auf, sie produzierten auch Strom für die Stadt. Jägendorfs technisches und organisatorisches Geschick schuf für die Bewacher unmittelbaren Nutzen. So ließ man ihn gewähren. Zwar waren auch die rumänischen Aufseher darauf bedacht, nicht als ,Judenfreunde‘ bezeichnet zu werden, aber anders als die Deutschen verfolgten sie die Vernichtung der Juden nicht mit deren systematischer Konsequenz. Ließ es sich – zumal zum eigenen Vorteil – einrichten, so war vieles möglich. Mit anderen Worten: die Korruptionsanfälligkeit der rumänischen Administration wurde den Verfolgten zum Vorteil. Jägendorf spielte diese ,Schwäche‘ der Rumänen geschickt aus. Sein korrektes Auftreten, die selbstbewusst vorgetragenen Absichten, seine Fähigkeiten, seine alten ,Beziehungen‘ – mit all dem konnte er die rumänischen Vertreter immer wieder beeindrucken. So gelang ihm das „Wunder“: Inmitten der erbarmungslosen Mordmaschinerie konnten tausende Juden als ,seine Beschäftigten‘ überleben.

Titelbild

Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Moghilev. Die Rettung von zehntausend Juden vor dem rumänischen Holocaust.
Transit Buchverlag, Berlin 2009.
205 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783887472412

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