„Rothenburg ob der Mauer“?

Wilfried Rott setzt West-Berlin ins Bild

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

West-Berlin hat keine gute Presse: Ein Soziotop linksalternativer Subkulturen sei es gewesen, dabei heillos provinziell und unproduktiv. Wärmestube für Wehrdienst-Flüchtlinge und Fluchtburg Studentenbewegter, ruinöses Freilichtmuseum von Weltkrieg und Teilung – dies die schmeichelhaftesten Zuschreibungen. Mit Mauerfall und Vereinigung scheint West-Berlin im „tiefen Brunnen der Vergangenheit“ versunken zu sein. Bezirke im Osten – Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain – scheinen ‚Kulturschaffenden‘, Künstlern wie Lebenskünstlern, Publizisten und ‚Prekären‘, mithin der öffentlichen Meinung, bei weitem attraktiver. Dass der Literaturnobelpreis 2009 in eine westliche Vorstadt vergeben wurde: ins Friedenau und Herta Müllers, wo – immerhin – Günter Grass jahrzehntelang wirkte, gilt vielen als Betriebsunfall der Literaturgeschichte. Charlottenburg, Schöneberg, Dahlem – war da was?

Es war. Wilfried Rott – Moderator und Feuilletonist beim einstigen Sender Freies Berlin – führt auf 400 brillant geschriebenen Seiten den Nachweis, dass West-Berlin viel mehr war und weit Besseres als sein Ruf: Die deutsche Metropole der Freiheit – als „Schaufenster des Westens“, samt Meinungsfreiheit und parlamentarischer Demokratie, und Residuum jener, denen die Enge der westdeutschen oder gar schwäbischen Herkunft den Atem nahm.

Nun haben Retro-Shows, zumal im Privatfernsehen, Hochkonjunktur. Doch wäre es wenig erfreulich, wenn die geschichtliche Erinnerung Oliver Geissens und Aleksandra Bechtels überlassen bliebe. So ist Rotts „Insel“ bereits als bloßes Inventar der Vorwendezeiten viel wert: Wer erinnert sich an Eberhard Diepgen? An Walter Momper, samt dessen roten Schals? An die Hausbesetzer in Kreuzberg? Die Preußen-Ausstellung im Gropius-Bau?

Darüber hinaus bietet „Die Insel“ – um ein Beispiel zu geben – köstliche Reminiszenzen an die vom heutigen Standpunkt aus seltsam entrückt scheinenden Feierlichkeiten zu Berlins 750-jährigen Stadtjubiläum anno 1987: „Durch einen warmen Geldregen schossen die verschiedensten Projekte aus dem Boden, und in der alternativen Szene kursierte der Spruch, daß nur der nicht an die längst akzeptierte Staatsknete komme, der nicht imstande sei, einen Projektantrag zu stellen. So konnte etwa auch das ‚Frauenprojekt Pelzladen‘ die ‚Geschichte der Prostitution am Bülowbogen unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen seit der Industrialisierung‘ verwirklichen.“

Ein Gruß aus längst vergangenen Zeiten. An Schnauze und Sinn fürs Absurde fehlt es Rott, dem gebürtigen Wiener, durchaus nicht. Die Reihe herrlich treffender und witziger Zitate könnte beliebig fortgesetzt werden: „Da die Hälfte des West-Berliner Haushalts aus bundesdeutschen Steuermitteln aufgebracht wurde, sahen sich die Bundesbürger in der Rolle des etwas herablassenden Finanziers, der […] das Gefühl nie los wurde, daß mit seinem Geld ein Heer von Müßiggang und Allotria treibenden Kostgängern unterhalten werde.“ Für solche Worte, schillernd zwischen Hohn und Emphase, werden Rott noch in fernerer Zukunft Kränze geflochten: „West-Berlin zeigt sich zu Beginn der kurzen Ära Weizsäcker als eine in perikleischem Glanz strahlende kulturgesättigte Metropole.“

Wohlgemerkt: An Ernst fehlt es dem Autor nicht. Die Darstellung der West-Berliner politischen Klasse – Diepgen, Landowsky et alii – wächst sich zum krähwinkeligen Pandämonium von Nestroy’scher Unerbittlichkeit aus. Wo sich Berlins politische Klasse in herausgehobenen Einzelpersönlichkeiten selbst überwindet, das juste milieu dumpfen Spießertums transzendiert und Regierende Bürgermeister vom Range Ernst Reuters, Willy Brandts, Klaus Schütz’ oder Richard von Weizsäckers hervorbringt, schwingt Rott sich zu würdig respektvollen, psychologisch gehaltvollen Charakterskizzen auf: Er hält sich stets auf Augenhöhe mit dem Gegenstand. Seine Schilderungen des linksalternativen Milieus der 1970er-Jahre lassen trotz aller folkloristischer Lächerlichkeiten die ideologische Verblendung und verschlagene Brutalität terroristischer Gruppen wie der RAF und der genuin berlinischen „Bewegung 2. Juni“ durchscheinen. Rotts treffsichere Milieuschilderungen reizen zum Lachen – und tragen zuverlässig Sorge, dass es verstummt.

C. H. Beck zählt zu jenen Verlagen, die den professionellen Ehrgeiz aufbringen, ihren Hervorbringungen – was „Die Insel“ betrifft, durchaus erfolgreich – ein würdiges Äußeres zu verleihen: Setzfehler und orthografische Flüchtigkeiten – es wird die alte Rechtschreibung verwendet – begegnen einem überaus selten. Typografie, Layout und die Auswahl der Fotografien können als vorbildlich gelten.

Dies ist ein wichtiges Buch: als Vergegenwärtigung einer seit kurzem vergangenen, aber schon vorgestrig scheinenden Epoche. Vor allem führt es den Nachweis, dass West-Berlin trotz allen hoch subventionierten Provinzialismus’ weit mehr war als „Rothenburg ob der Mauer“. Wilfried Rott ist ein sprachlich meisterlicher Großessay gelungen, der viel Freude bereitet. Der Rezensent darf gestehen, dass ihn seit langem keine Neuerscheinung nach Inhalt und Form so enthusiasmiert hat. Niemand, dem deutsche Gegenwart und deren Herkunft am Herzen liegt, sollte auf diese Lektüre verzichten.

Titelbild

Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
478 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406591334

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