Der leuchtende Westen

Jutta Voigt bilanziert in ihrem Buch „Westbesuch“ den deutsch-deutschen Traum

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1945 und 1961 flohen etwa 3,5 Millionen meist junge, gut ausgebildete Leute aus dem östlichen, sowjetischen Deutschland ins westlich-amerikanische, und was die westdeutschen Massenmedien „Abstimmung mit den Füssen“ und die ostdeutsche Propaganda „Republikflucht“ und „Staatsverrat“ nannten, bedrohte die Wirtschaftskraft und letztlich den Bestand des sozialistischen Staates. So kam die Regierung in Ostberlin auf eine bewährte Idee: Wie das chinesische Kaiserreich im 5. Jahrhundert vor Chr. und die europäischen Städte im Mittelalter sollte nun der sozialistische Arbeiter- und Bauerstaat durch eine Mauer geschützt werden. Am 13. August 1961 begannen Bauarbeiter unter der Aufsicht von Volkpolizisten und Soldaten der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, mitten in Berlin eine Mauer zu bauen, die den sowjetischen von den anderen Sektoren der Stadt trennen und den Osten vom Westen hermetisch abriegeln sollte. Sie war 167,8 Kilometer lang, war schwer bewacht und nahezu unüberwindbar. Als „befestigte Staatsgrenze“ oder auch als „antifaschistischer Schutzwall“ war die Mauer fast drei Jahrzehnte lang Teil der innerdeutschen Grenze und trennte nicht nur West- von Ostberlin, sondern auch den kapitalistischen Westen vom sozialistischen Osten. Tatsächlich war die Mauer ein markantes – und tödliches! – Symbol des Kalten Krieges.

„Raketen werden ins Weltall geschickt, Menschen fliegen zum Mond, es muss doch möglich sein, von Ostberlin nach Westberlin zu kommen“, schrieb einmal Regina aus dem Osten, die Eckard im Westen liebte. Regina ist die Figur in einer der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichten, die die Berliner Journalistin Jutta Voigt über die Jahre der Trennung, die sie „Zeiten der Sehnsucht“ nennt, erzählt. Sie hat in Archiven recherchiert, Zeitzeugen interviewt, eigene Erfahrungen überprüft und aus diesem Material vierundzwanzig Geschichten destilliert, die die Imagination des Westens im Osten vorführen. In einer Mischung von dokumentarischem, autobiografischem und fiktionalem Erzählen unternimmt Voigt eine Art Phänomenologie des Westbesuchs – die Mitbringsel, die Gesten, die Redensarten – und zugleich auch jener abstrakten Sehnsucht nach dem besseren Leben im Westen, die die Leute im Osten pflegten. „Obwohl die Mauer das Westberliner Gebiet umschließt, sind es die Ostberliner, die zu Gefangenen werden, die man nur mit Genehmigung besuchen darf. Die Bundesbürger steigen zu Missionaren einer schöneren Welt auf, zu strahlenden Boten des Lichts. Sie verwandeln sich in bunte Wesen, die im Grau des Ostens auftauchen wie Schmetterlinge in der Wüste und wieder wegflattern in ein Jenseits, von dem die Besuchten alles wissen und nichts, eines aber ganz bestimmt: dass es dort besser sein muss als hier. Dass Himmelreich auf Erden – diese atheistische Sehnsucht leisten sich die Ostdeutschen bei vollem Verstand. Seit er nicht mehr mit eigenen Augen zu sehen ist, wird der Westen zur Augenweide.“

Voigt, die für ihre realistischen Großstadtgeschichten bekannt ist, stammt selber aus dem Osten Berlins: Sie kennt die Illusion, die durch den Westbesuch jahrzehntelang bestätigt zu sein schien, und sie kennt die Desillusionierung, die die Wiedervereinigung mit sich brachte. Sie beschreibt die merkwürdig selbstverständliche Unwürdigkeit der Eingeschlossenen, wenn Westbesuch kam, und das ebenso selbstverständliche Auftrumpfen der Westbesucher. Dabei erzählt sie Lebensgeschichten – Geschichten, die das Leben tatsächlich geschrieben hat, so wie diejenige von Regina, die die Mauer nicht passieren durfte und ihren Geliebten nicht sehen konnte.

Die Geschichten, die teils gefunden und teils erfunden sind, veranschaulichen den Traum vom leuchtenden Westen, der nur angesichts der Mauer geträumt werden konnte – und erklären implizit die Ernüchterung, die durch den Fall der Mauer eingetreten ist. Voigts narrative Geschicklichkeit liegt nicht nur in der gelungenen Verbindung von Reportage und Erzählung, sondern vor allem in der selbstironischen Geste, mit der sie jede Ostalgie erstickt.

Titelbild

Jutta Voigt: Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
230 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783351026752

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