Mailende Therapeuten oder Danke für den Mangel

Die Kunst des Liebens in Zeiten des Internets: Jorge Bucays Roman „Liebe mit offenen Augen“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ und „Geschichten zum Nachdenken“ ist der 1949 in Buenos Aires geborene Psycho- und Gestalttherapeut Jorge Bucay auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden. Im vergangenen Jahr folgte mit „Liebe mit offenen Augen“ sein erster Roman, 2000 unter dem Titel „Amarse con los ojos abiertos“ publiziert, in der deutschen Übersetzung von Petra Willim.

Um es gleich vorweg zu sagen: „Liebe mit offenen Augen“ ist – wie bei Bucay, der im spanischen Sprachraum große Erfolge feiert, nicht anders zu erwarten – kein auf therapeutischen Einsichten beruhender Roman, geschweige denn eine auf psychologischen Erkenntnissen basierende umgesetzte Romantheorie, sondern wie „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ (deren Held Demian im neuen Buch „Zähl auf mich“ wieder das Zentrum bildet) ein literarischer Psychoratgeber. Der als „Roman“ apostrophierte Text ist eher ein leichtes – stellenweise durchaus unterhaltsames – Sachbuch.

„Liebe mit offenen Augen“ ist ein Text, der paartherapeutische An- und Merksätze über die „Kunst des Liebens“ (mehr als ein halbes Jahrhundert nach Fromm und fast ein Jahrhundert nach Fromms) in Zeiten des Internets in einer romanhaften Handlung zusammenfügt, wie der Autor im Vorwort zur deutschen Ausgabe selbst bemerkt: „Die vorliegende ‚romanhafte Paartheorie‘ oder dieser ‚paartheoretische Roman‘, der all das zu vermitteln versucht, was man bis heute über die Eintracht oder Zweitracht zwischen zwei Liebenden weiß, entspricht meiner Art, die Sache in die Hand zu nehmen.“

Und in die Hand nimmt der Autor „die Sache“ dergestalt, dass er die Geschichte einer Paarbeziehung anhand eines (anonymen) Dritten erzählt. Allerdings wirkt der Plot mit zunehmender Dauer mehr und mehr vorhersehbar, weil die Geschichte allzu streng konstruiert ist: Roberto, argentinischer Werbe- und Marketingfachmann, erhält anstelle eines Psychotherapeuten namens Fredy oder Alfredo fälschlicherweise regelmäßig E-Mails. Absender ist die Gestalt- und Paartherapeutin Laura, die mit Fredy – via Internetdistanz – ein gemeinsames Buchprojekt über Paarbeziehungen plant. Das trifft sich gut, steckt doch Robertos Beziehung mit seiner Freundin Christina in einer Sackgasse. Nach anfänglichen Bedenken übernimmt Roberto – für Laura nicht erkennbar – Alfredos Part und tauscht sich – auch erotisch mehr und mehr von der ihm unbekannten Laura angezogen – mit „seiner“ unbekannten Therapeutin aus. Die beiden diskutieren per Mail jede Menge Theorien und Merksätze, unter anderem von Milan Kundera, Erich Fromm, Antoine de Saint-Èxupèry und anderen, um sie in das Buchprojekt zu integrieren.

Die vom Autor eingangs erwähnte „Sache“ gewinnt an Dynamik, bis schließlich der reale Fredy, Dr. Alfredo Daey, auftaucht und sie sich zum Guten wendet. In einem Epilog schenkt Alfredo nämlich „als Zeichen meiner ehrlichen Anerkennung“ – für Bucay-Leser nicht sonderlich überraschend – Roberto am Ende ein Märchen: „Es war einmal in einem Dorf ein Mann, der als Wasserträger arbeitete. […] Eines Morgens bekam einer der Tonkrüge einen Sprung und verlor Wasser. Somit konnte er mit diesem Krug nicht mehr so viel Geld verdienen. Der Krug wollte sich dafür bei dem Mann entschuldigen, doch dieser erwiderte: Austauschen konnte ich dich nicht, und so fasste ich einen Entschluss: Ich kaufte Blumensamen in allen erdenklichen Farben und säte sie zu den Seiten des Weges aus. Bei jedem Fußmarsch, den ich machte, besprenkelte das Wasser, das du verlierst, den Wegrand und in diesen zwei Jahren hast du diesen Unterschied bewirkt. […] Ich habe dir für deinen Mangel zu danken.“

Dieser literarischen Mangel-Theorie mangelt, wenn man nicht die Tatsache, dass ein Laie wie Roberto sich via Internet und angelesener Theorien ein Buchprojekt über Paarbeziehungen allererst zustande bringt, als ironische Distanzierung von der eigenen Zunft begreifen mag, leider die Selbstironie, wie sie noch in „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ zum Ausdruck kommt. Dort etwa nimmt der Autor auch die eigene Gestalttherapie auf die Schippe, wenn er Demian anhand eines „Hosenscheißers“ den Unterschied der Therapie-Schulen erklären lässt. Die Psychoanalyse lenke den Blick auf das Verstehen der Vergangenheit, so dass der „Hosenscheißer“ die Wurzeln seines Übels kenne. Die behavioristische Richtung lenke den Blick auf die Zukunft, weshalb der Patient dann Gummihosen trage, während die Gestalttherapie den Blick in die Gegenwart richte: die Symptome sind nicht verschwunden, aber sie sind dem Patienten egal.“ Auch so wird einmal mehr der von Adolf Muschg in seinen Frankfurter Vorlesungen benannte Unterschied zwischen „Literatur als Therapie“ und Therapie als Literatur überdeutlich.

Titelbild

Jorge Bucay: Liebe mit offenen Augen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Petra Willim.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
269 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783250601173

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