Wege aus der Sprachlosigkeit

Frode Grytten erzählt „Liebesgeschichten zu Bildern von Edward Hopper“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann es kaum glauben, aber es ist wahr: Es wird auch noch skandinavische Literatur ins Deutsche übersetzt, die kein Krimi ist. Angesichts der Flut schwedischer, norwegischer und dänischer Krimis übersieht man leicht, dass es auch jenseits dieses beliebten Genres lesenswerte Bücher aus Skandinavien gibt. Ein Beispiel dafür ist Frode Grytten, der 1960 im norwegischen Odda geborene Autor. Allerdings muss man zugeben, dass der gelernte Journalist neben Gedichten und anderer Prosa auch einen Kriminalroman geschrieben hat. Dieser Krimi mit dem Titel „Die Raubmöwen besorgen den Rest“ ist 2006 auf deutsch in der Übersetzung Ina Kronenbergers erschienen.

Nun ist ein Band mit „Liebesgeschichten zu Bildern von Edward Hopper“, wieder in der Übersetzung von Ina Kronenberger, im Verlag Nagel & Kimche herausgekommen. Und er zeigt, dass auch Liebesgeschichten spannend sein können. Denn wenn es um Liebe geht, sind Hass oder Eifersucht nicht fern.

Und wenn man die Gemälde Edward Hoppers zum Ausgangspunkt von Geschichten macht, dann ist das Geheimnisvolle automatisch immer präsent. Denn die verlorenen Menschen in oft steriler Umgebung sind das Markenzeichen des 1967 gestorbenen amerikanischen Malers, der sich einem strengen Realismus verpflichtet sah. Dabei sind seine Bilder zwar stark von den Gegenständen und Situationen abhängig, doch die Personen, die in jenen Umgebungen auftauchen, scheinen fast nur vereinsamte, melancholische Menschen zu sein, die, wenn mehr als eine Person abgebildet ist, nicht miteinander kommunizieren können. Diese offensichtliche Sprachlosigkeit ist das, was den norwegischen Schriftsteller Frode Grytten gereizt haben dürfte, Geschichten aus diesen Bildern zu entwickeln.

Zum Beispiel die Geschichte zum Bild mit dem Titel „Hotel am Bahndamm“: Es zeigt einen Mann rauchend am Fenster stehen, links hinter ihm sitzt in einem Sessel eine lesende Frau. Frode Gryttens Geschichte beginnt so: „Er stand am Fenster und rauchte. Wenn er jetzt in das Schwimmbad zurückkehrte, würde er die beiden Mädchen vielleicht noch einmal sehen. Sie waren gerade ins Becken gestiegen, als er und seine Frau es verließen.“ Grytten erzählt aus der Perspektive des Mannes, die Frau auf dem Sessel kommt nur als kurze Reflexionsfläche vor. Der Mann ärgert sich über sie. „Sie saß hinter ihm im Sessel und las in einem Buch. Nach ihrer Rückkehr aus dem Schwimmbad hatte sie über die Hitze geklagt und ihr Kleid ausgezogen. Es ärgerte ihn, wenn sie nur halb angezogen herumlief.“ Der Mann steht am Fenster und wenn er hinaussieht, sieht er eine Hauswand und eine kurze Strecke Eisenbahngleise. „Er beschloss zurückzugehen, falls ein Zug vorbeifuhr, bevor er zu Ende geraucht hatte. Immer wenn sich ein Zug näherte, fing das Zimmer an zu beben. Das Beben wurde stärker, bis der Zug vom Fenster aus ein paar Sekunden lang zu sehen war.“

Bisher, so könnte man sagen, bewegte sich die Erzählung im Rahmen dessen, was das Bild Hoppers darstellt. Doch dann verlässt die Person seine Position und der Erzähler führt den Leser aus dem Hotelzimmer heraus. Er sagt zu seiner Frau, dass er Zigaretten holen wolle. Das berühmte Zigarettenholen, natürlich. Oder nicht? Der Erzähler Grytten lässt uns an den Gedanken des namenlosen Mannes teilhaben: „Das Hotel war seit ihrem letzten Besuch ziemlich heruntergekommen. Er hatte seine Frau gewarnt, als sie es buchen wollte, aber sie hatte darauf bestanden, im selben Hotel zu wohnen wie auf ihrer Hochzeitsreise.“ Der Mann verlässt also das Hotel, ohne sich an der Rezeption Zigaretten zu holen, und geht schnell ins Schwimmbad. Doch dort findet er die Mädchen nicht, die er vorher ins Becken hatte steigen sehen. Bedauernd rekapituliert er, warum sie ihn so fasziniert haben: „Die selbstverständliche Art, mit der sich die Mädchen im Wasser bewegt hatten, hatte irgendetwas in ihm angesprochen. Die eine war kurzhaarig und trug einen hellblauen Badeanzug. Die andere hatte lange schwarze Haare und einen roten Bikini. Die Träger ihres Oberteils waren heruntergerutscht und hatten makellose Haut freigegeben.“ Während er in der Cafeteria bei einer Tasse Kaffee sitzt, kommen die Mädchen aus der Garderobe. „Sie sahen jetzt anders aus, angezogen und mit getrockneten Haaren. Die Blonde trug ein beiges Sommerkleid, die Dunkelhaarige Jeans und T-Shirt. Er zögerte einen Augenblick, dann stand er auf und folgte ihnen.“ Diese Verfolgung der beiden Mädchen wird zu einer spannenden, beklemmend-erotischen Angelegenheit. Er ist den Mädchen stundenlang auf den Fersen und denkt dabei sogar gelegentlich an seine Frau, die er im Hotelzimmer zurückgelassen hat. Er würde ihr Rechenschaft über sein Ausbleiben ablegen müssen, wenn er zurückkäme. Doch eine solche Rechenschaft, so stellt er sich vor, würde er ablehnen: „Das Leben eines Mannes ist ein Geheimnis, dachte er, so einfach ist das. Das konnte er zu ihr sagen. Das würde er sagen. Wo warst Du?, würde sie fragen. Das Leben eines Mannes ist ein Geheimnis, würde er antworten.“

Wie die Geschichte ausgeht, wird nicht verraten. Denn diese Liebesgeschichte hat durchaus eine Spannung, die einer Kriminalgeschichte würdig wäre. Doch sie auf das Spannungselement zu reduzieren, das fast alle der zehn Geschichten zu Bildern Hoppers haben, wäre fatal. Denn es sind lakonisch erzählte, in der Tradition der amerikanischen short stories stehende Geschichten, die von der Betrachtung der Bilder in Gang gesetzt werden. Gut gebaut, knapp erzählt, voller Andeutungen, sind es Geschichten, die im Kopf des Lesenden ein ganzes Leben entfalten können. Ina Kronenbergers Übersetzung findet dafür im Deutschen genau den richtigen Ton.

Titelbild

Frode Grytten: Eine Frau in der Sonne. Liebesgeschichten zu Bildern von Edward Hopper.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
208 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004287

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