Die Liebe als fixe Idee

Der Erzähler Sung Suk-je verfügt über eine Vielzahl von Tönen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie blickt ein alter Fasan auf die Welt? Der sich an acht Winter erinnert und allen Menschen, Hunden, Fallen, Giftködern entrann, während doch der vorletzte seiner Generation nur fünf Winter überstand! Als der sonst stets vorsichtige Vogel auf einem kahlen Feld ein junges, hilfloses Fasanenweibchen sieht und mit ihr wider jede Vernunft die kargen Vorräte teilt, ahnt man schon, dass dieser Winter sein letzter sein wird.

Wie blickt eine Schwalbe auf die Welt? Doch keine Sorge, der koreanische Erzähler Sung Suk-je hat kein ornithologisches Lehrbuch verfasst. Eine Schwalbe in Korea kann ein Mensch sein, der einen Frack trägt, für einen ganz bestimmten Zweck: zum Gesellschaftstanz. Der Tanz wiederum dient dem nicht minder bestimmten Zweck, gelangweilte Ehefrauen zu verführen und sie dann zu erpressen. Sungs Schwalbe tanzt freilich aus Passion: Seitenlang wird über Eleganz und Würde des Tanzens geredet, um dann zur Sache zu kommen. Der allseits respektierte Schwalbenkönig erzwingt sein Geld nicht, sondern beherrscht die Mitleidstour. Freilich, einen großen Teil der Beute verliert er, weil er schließlich selber eins seiner Opfer bemitleidet und dann, als er selbst als vorgeblicher Schänder einer Braut zusammengeschlagen und erpresst wird.

Sungs Geschichten gehen selten gut aus, der Titel des Buchs deutet das schon an. „Die letzten viereinhalb Sekunden meines Lebens“ bedeuten die Zeit, in die ein Auto braucht, um vom Brückengeländer zum Grund einer Schlucht hinabzustürzen. In dieser kurzen Frist zieht vor dem Auge des ziemlich unerfreulichen Fahrers sein bis zu jenem Zeitpunkt für ihn erfreuliches Leben vorüber. Sein Aufstieg begann als Messerstecher und führte über eine Kette von Gewalttaten bis hin zur Position des Mafiachefs in einer Kleinstadt. Was auf diesem Weg geschah, weiß Sung so trocken wie burlesk zu schildern. Karnevalistisch, fast comicartig sind die Aktionen beschrieben.

In dieser Erzählung überwiegt das Lustige; so traurig-ernüchternd es auch ist, wenn diesem klug kalkulierenden und gefühlsarmen Schläger Sekundenbruchteile vor dem Aufprall doch nicht anderes mehr einfällt als nach der Mama zu rufen. „Die Lebensgeschichte des Cho Donggwan“ stellt dann einen anderen Typ Schläger vor – einen, dem überhaupt nichts mehr einfällt, der blind auf die Macht seiner Fäuste vertraut und lange Zeit damit durchkommt, bis die Staatsmacht für Ordnung sorgt. Nirgends erzählt Sung weniger psychologisch als hier, denn auf beiden Seiten – bei Cho wie bei dem neuen Polizeipräsidenten, der ihn schließlich zur Strecke bringen lässt – regieren blinde Reflexe, die unweigerlich die Konfrontation auf die Spitze treiben.

Derart eingestimmt, überraschen manche der anderen Erzählungen und werden sie zum Problem. In den burlesken Texten entfernt sich Sung weit vom sozialen Realismus der älteren Generation unter den koreanischen Erzählern; andere Geschichten hingegen wirken weniger eindeutig. Zwei der Erzählungen stellen traurige Schicksale von Frauen vor. Der „Abschiedsbrief der Hasegawa Tomiko, Konkubine eines alten Trinkers“ erzählt die Geschichte eines japanischen Mädchens, das 1945 – am Ende der japanischen Kolonialherrschaft – von einem edlen jungen Mann vor rachsüchtigen, befreiten Koreanern gerettet wurde: von eben jenem „alten Trinker“, der sie, kombiniert man nur alle Informationen, vergewaltigt und jahrzehntelang ausgenutzt hat.

Hier gibt es noch Signale der Distanz: Die „Konkubine“ berichtet über den Schurken in respektvollem Ton, doch stets so, dass der Sachverhalt eindeutig ist. Doch wenn „Im Schatten des Oleander“ eine andere Frau jahrzehntelang auf ihren im Koreakrieg verschollenen Mann wartet, sind die Verhältnisse weniger klar. So deutlich die repressiven Familienverhältnisse auch werden, so vielfach gebrochen die Naturbilder auch sind: am Ende wirkt diese Erzählung wie ein Hohelied sinnloser Treue. Und die Lebensgeschichte des Bauern Hwang, der in seiner arg beschränkten Intelligenz fast als Dorftrottel gelten muss und jedenfalls als solcher behandelt wird, endet zwar mit einem verfrühten Tod. Hwang erreichte nie den Stand der Weisheit und, der Erzähler muss es zugeben: er stinkt, denn leider wäscht Hwang sich nie. Da er stets stark, gut, und hilfsbereit ist, entspricht er dennoch konfuzianischen Normen und es ist anhand der Übersetzung schwer zu entscheiden, ob man es mit einer naiven Dorfgeschichte oder mit der Parodie einer solchen zu tun hat.

Immerhin liebt Hwang, wenn auch unerwidert, seine Mutter und den Sohn seiner Frau, der wohl nicht sein eigener ist. Der vergebliche, oder: fast vergebliche Liebesdienst ist das Motiv, das die meisten der Erzählungen in diesem Band verbindet, vom allzu vorsichtigen Fasan, der schließlich doch etwas wagt, über die scheiternde Schwalbe bis hin zur Konkubine des Trinkers und zur jahrzehntelang Wartenden.

Die Entsprechung zur Liebe zwischen Mann und Frau kann die Freundschaft zwischen Männern sein; und manchmal ist die Grenzziehung schwieriger als es die Protagonisten wissen wollen. „Erste Liebe“ ist eine der in der koreanischen Literatur häufigen Schulgeschichten, doch anders als sonst ist nicht ein intelligenter Junge dem Terror des Klassenchefs ausgeliefert. Hier tritt einer der Übeltäter ungewohnt brav auf, weil er die Zuneigung des Klassenbesten zu erringen sucht – und jede Zurückweisung verstärkt noch die Liebe. Und ganz ähnlich ist die Konstellation in „Einsam Umhertreibende“, der Erzählung, die den Band wie eine Umkehrung des „Abschiedsbriefs der Hasegawa Tomiko“ beschließt. Schrieb dort eine Liebende mit Verehrung über einen Unwürdigen, so ist hier aus der Sicht eines Unwürdigen erzählt, der in grobem Ton die Verehrung eines Freundes zurückweist.

Über Jahre hinweg werden Zeugnisse einer unerklärbaren Freundschaft immer wieder mit Gemeinheiten beantwortet, und nur ganz selten lässt sich der Umworbene herab, einer Einladung nachzukommen. Die Abwehr zeigt Wirkung, der Freund wagt kaum mehr eine direkte Annäherung, sondern lässt durch einen gemeinsamen Bekannten nachfragen. Dennoch scheint gerade vom Unerreichbaren eine Anziehungskraft auszugehen, der nicht zu widerstehen ist.

Das ist wohl das Gemeinsame dieser in Stil und Form so unterschiedlichen Erzählungen: dass die Figuren einer fixen Idee folgen, die ihr Leben ganz ausfüllt. Sogar der bis kurz vor seinem Ende erfolgreiche Gangster der Titelgeschichte hat sein Leben an nur einem Satz ausgerichtet, den er bis zum Überdruss seiner Umgebung wiederholt hatte: „Ein richtiger Mann läßt los, wenn er mit nur einer Hand am Ast einer Kiefer über dem Abgrund hängt.“

Die Wahl ist ihm genommen – er stürzt bereits ohne sein Zutun. Dieser Sturz ist das Schicksal fast aller Helden bei Sung. Sie können ihn nicht aufhalten, sie können ihn im besten Fall mit etwas Haltung absolvieren. Dies, und nicht die zuweilen parodistische Oberfläche, ist der Kern von Sungs Erzählen.

Titelbild

Sung Suk-je: Die letzten viereinhalb Sekunden meines Lebens und andere Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Inwon Park und Anja Michaelsen.
Edition Peperkorn, Thunum 2009.
287 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181821

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