Stationen der unermüdlichen Poetik

Stephan Krauses Studie über „Topographien des Unvollendbaren“ untersucht die Intertextualität bei Franz Fühmann

Von Valéria LengyelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Valéria Lengyel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Beschreibung der Dichtung von Franz Fühmann (1922-1984) scheint es unausweichlich zu sein, ihre eventuelle Einstufung als DDR-Literatur zu kommentieren. Dies ist erstens deshalb nötig, weil der Begriff DDR-Literatur belastet ist, so dass der Terminus entweder eine Neudefinierung nötig macht oder gänzlich vermieden werden könnteund man statt dessen – wie Stephan Krause es tut – vom Erfahrungsmaterial DDR sprechen ließe.

In Fühmanns Texten kommt nämlich nicht nur die Erfahrung in der DDR vor, was wohl die Einordnung als DDR-Literatur ankündigen würde, sondern dies ist nur ein Punkt unter vielen dieser reichen und vielseitigen Dichtung. Bereits diese Änderung im Begriffsgebrauch Krauses deutet darauf hin, warum eine solche Einstufung literarischer Texte nicht vertretbar ist. Literarische Texte lassen sich nicht auf eine einzige Bedeutung festlegen, sondern die Bedeutung der Texte entfaltet sich im Laufe einer konkreten Lektüre. Krause bietet nun seine eigene Lesart an, während er sich im Vorwort von denjenigen Interpretationsansätzen distanziert, die Fühmanns Texte auf dessen Rolle in der DDR-Öffentlichkeit reduzieren. Der Verfasser stellt sich in die Reihe bisher verstreut auffindbarer Einzelaufsätze, die die poetische Verfasstheit dieser Dichtung hervorheben. Anhand ausgewählter Texte schlägt die Dissertation einen weiten Bogen durch die Dichtung Fühmanns, indem die Erörterung seiner nachdichterischen Tätigkeit, des Reisetagebuches „22 Tage oder die Hälfte des Lebens“ (1973) sowie des Mythosessays aufgeführt werden, die die poetische Konzeption des Bergwerkprojektes einleiten. Letzteres blieb ein Romanfragment, das unter dem Titel „Im Berg“ posthum 1991 erschien. Die Dissertation ist damit die erste eingehende literaturwissenschaftliche Darstellung des Bergwerkprojektes.

Fühmann dichtete tschechische, polnische und ungarische Lyrik nach. Auf der Grundlage der Fremdsprachenkenntnisse des Autors steht im ersten Kapitel der Dissertation die Fühmann’sche Nachdichtung ungarischer Lyriker im Vordergrund, die anhand von Gedichten Attila Józsefs, Miklós Radnótis und Ágnes Nemes Nagys betrachtet wird.

Ein deutlicherer Hinweis auf die Gründe für diese Auswahl wäre hier vielleicht für den Leser hilfreich gewesen. Fühmann hat nämlich auch andere ungarische Dichtungen übersetzt und sogar in einzelnen Bänden veröffentlichen lassen. Dies erfolgte im Rahmen eines groß angelegten Projektes der 1960er- bis 1970er-Jahre in der DDR, in dem Fühmann mit anderen Dichtern vor allem zeitgenössische Lyrik aus den sogenannten ‚kleinen‘ Sprachen nachgedichtet hat. Dies war mit Hilfe von Interlinearübersetzern möglich, die die Rohübersetzungen verfertigt haben, denen die Dichter poetische Form verliehen, so dass die Nachdichtung inhaltlich und formal dem Original glich.

Außer der eingehenden übersetzungskritischen Zusammenschau von Original und Nachdichtung stellt die Dissertation die Bemühung Fühmanns dar, mit seiner Version dem Original zu entsprechen, was vor allem aus nachgelassenen Notizen und aus Briefen an den Interlinearübersetzer Paul Kárpáti sichtbar wird. Diese bisher fehlende wissenschaftliche, in Einzelheiten gehende Darstellung nachdichterischer Arbeiten Fühmanns und ihre erste Erörterung von deren anerkennender Rezeption in Ungarn beweist den Erfolg des Lyrikers. Fühmann mag allerdings seine Tätigkeit nicht als ein Gelingen angesehen haben, da er wusste, dass inhaltlich und formal treue Übersetzungen oder Nachdichtungen wohl unmöglich sind. Sie waren für ihn eher eine stetige Anstrengung, ein einzig möglicher Ort dichterischen Tuns, da er sich einer Lyrik widmete, die ihm selbst sehr nahe stand. Das Wort Topografie im Titel der Studie ist dabei für Fühmann wichtig, während die Unvollendbarkeit die unmögliche formale und inhaltliche Treue zum Original meint, die meistens als Kriterien für die Repräsentierbarkeit fremder Lyrik in einem anderen Kulturgebiet angesehen werden. In dem betreffenden Kapitel fehlt allerdings die Intertextualitätsanalyse, die der Untertitel der Dissertation verspricht. In der Postmoderne kann die Übertragung oder Nachdichtung als eine Form intertextuellen Weiterschreibens verstanden werden, bei dem die Übertragung möglichenfalls als eigenständige Lesart betrachtet wird, bei der die Konsequenzen der unvertretbaren Treue zum Original bereits gezogen worden sind.

Der nächste behandelte Text der Topografien des Unvollendbaren ist das Reisetagebuch „22 Tage oder die Hälfte des Lebens“. Der offensichtlich fiktive Merkmale zeigende Text enthält die Tagebuchnotizen eines Dichters, der das erste Mal nach Budapest fährt, um seine Dichterkollegen zu besuchen. Er will von der Stadt einen möglichst authentischen Eindruck gewinnen und will die ausgeschilderten Touristenattraktionen meiden. Der Erzähler ist sehr beflissen, alle seine Eindrücke zu notieren, was in der aphoristischen Form des Textes zum Ausdruck kommt. Diese Eindrücke zeigen aber nicht Budapest an sich, sondern spiegeln genauso die Persönlichkeit und die Erfahrungen des Betrachters wider, anhand derer er das Bild von der ungarischen Hauptstadt entwirft. Zahlreiche Eindrücke werden anhand von vorhergehenden literarischen Lektüren konstituiert, die der Erzähler stets mit sich trägt und genommen hat, was in der ausführlicheren Analyse der intertextuellen Bezüge in der Dissertation deutlich wird. Ein Höhepunkt der Analyse ist die Darstellung der Lukácsbadszene, die gleichzeitig mit einer Joyce-Rezeption und einer Minotaurus-Allusion durchtränkt ist. Im Labyrinth dieses unterirdischen, „dampfenden“ Ortes verirrt sich der Erzähler und findet den Ausgang nicht mehr. Insgesamt zeigt Krause die Gültigkeit offener poetischen Strukturen bei Fühmann. Demgemäß könne Budapest nicht als ein endgültig beschreibbarer Ort erfasst werden.

Vor der Darstellung des Bergwerkprojektes werden die Fühmann’schen Überlegungen zum Mythos skizziert, die der Verfasser mit den theoretischen Überlegungen in Blumenbergs „Arbeit am Mythos“ vergleicht. Die Ähnlichkeit besteht kurz darin, dass der Mythos nicht auf einen Ursprung zurückgeführt werden kann und seine Bedeutung dementsprechend erst in der jeweiligen Konfiguration erhält. In der Fühmann’schen Gegenüberstellung der Poetik des Märchens und des Mythos verfügt ersteres über eine geschlossene, auf durchschaubare Gegensätze festgelegte Struktur, während der Mythos offen ist und (gerade deshalb) der menschlichen Erfahrung näher steht.

Nach Krause ist das Bergwerkprojekt vor allem deshalb Fragment geblieben, da es einen poetischen, im vorhinein zum Scheitern verurteilten Versuch darstellt, ein poetisches Gebilde auf ein Erlebnis als seinen Ursprung zurückzuführen. Dies ist „Im Berg“, das Urelebnis des Dichters, der sich das erste Mal in ein Bergwerk begibt, das noch in Betrieb ist. Er fühlt sich von den Umständen, von der Tiefe und der Dunkelheit des Bergwerks, von den mythisch erscheinenden Bergmännern angezogen. Er scheint dies auch nicht genau zu verstehen: das ist es eben, worüber er den Roman schreiben will, um durch das Schreiben diesem Erlebnis näher zu kommen. Die Dissertation schildert die verschiedenen Ansätze dieses poetischen Unterfangens. Während des Einfahrens wird die Faszination des Dichters stärker und stärker. In der Untiefe vor Ort, während die Bergmänner arbeiten, besinnt er sich im Dunkeln auf mythische Gestalten, auf die Bergmannsgeschichten der Romantik, während sein Grübeln auch in erotische Gedanken abschweift.

Krause zeigt, wie hier außer literarischen Bezügen auch eine Freud-Rezeption dem Text eingeschrieben ist. Während unter Tage die Bergleute sich für den Besucher in mythischer Dimension zeigen, wirken dieselben Arbeiter nachher in einer Tanzveranstaltung allerdings enttäuschend. In der ausführlichen Darstellung der Romantik-Rezeption wird zudem deutlich, wie bei Fühmann die Gestalt des Bergmannes dekonstruiert wird. Diese ‚Personenbeschreibung‘ wird außerdem mit poetologischen Reflexionen durchbrochen, die die Möglichkeiten jedweder realistischen Darstellung zu bezweifeln scheinen. Darüber hinaus kommt der Erzähler mit den Bergleuten, die ohnehin schweigsam sind, kaum ins Gespräch. Er ahnt selbst, dass sie wohl wenige gemeinsame Themen hätten. Die vereitelte sprachliche Verständigung spricht auch dafür, dass dieses Milieu für einen Dichter wohl unbeschreibbar bleibt.

Zwar ist jedes der vier Kapitel in sich gelungen, ihr konzeptueller Zusammenhang aufgrund des Haupttitels „Topographien des Unvollendbaren“ ist allerdings nicht sofort nachvollziehbar. Erst am Ende der Dissertation wird ersichtlich, dass das Wort Topografie stets metaphorisch im Sinne des jeweiligen, die Auswahl der Texte legitimierenden Zitates Fühmanns beziehungsweise des Erzählers verwendet wird und jeweils eine andere Station in der poetischen Entfaltung bezeichnet. Auch die poetischen Mittel zur Beschreibung der Unvollendbarkeit sind nicht völlig einheitlich. Während im ersten Kapitel die Unmöglichkeit des Umsetzung eines Übersetzungsprinzips der Grat der Analyse ist, fand der Verfasser im Kapitel über „22 Tage“ vielfältige interpretatorische Möglichkeiten, die poetische Unvollendbarkeit des Tagebuches zu demonstrieren. Entweder war er in diesem Kapitel besonders kreativ, oder die Fühmann’sche Poetik erreichte ihre höchste Ausprägung bei diesem Text, was aber während der Lektüre nicht zu entscheiden ist. Dagegen erscheint die Intertextualitätsanalyse im letzten Kapitel gegenüber der These der Unvollendbarkeit eigentlich stärker.

Diese Rezension kann nur einen Einblick in die beachtliche Alternative Krauses in der Fühmann-Forschung bieten, die nicht zuletzt von einer soliden Kenntnis des Fühmann’schen Lebenswerkes zeugt. Dies kommt nicht nur in den Interpretationen, sondern in den zahlreichen Hinweisen aus dem unveröffentlichten Nachlass zum Ausdruck. Der Reichtum an Informationen ist jedoch nicht störend, denn viele sind als Anmerkungen in den Fußnoten zu finden. Die Gestaltung der Publikation ist sorgfältig und es ist angenehm, das Buch in der Hand zu halten, was dem Verlag zu danken ist.

Titelbild

Stephan Krause: Topographien des Unvollendbaren. Franz Fühmanns intertextuelles Schreiben und das Bergwerk.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009.
391 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825356170

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