Zwielicht

Der Band „Eichendorff heute lesen“ wird seinem Anspruch nur teilweise gerecht

Von Christian RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stattliche 25 Beiträge versammelt ein jüngst im Bielefelder Aisthesis Verlag publizierter Tagungsband unter dem Titel „Eichendorff heute lesen“, der auf eine Tagung anlässlich des 150. Todestages des schlesischen Spätromantikers im Jahr 2007 zurückgeht. Ausrichter waren das Germanistische Institut der Universität Katowice, das Oberschlesische Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum Lubwice und das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit. Bereits der Titel des Bandes zeigt die Absicht, aktuelle Einsichten für das Verständnis des Werkes von Eichendorff zu liefern, und die Lektüren der Forscher zielten – so das Vorwort – auf eine „differenzierende Sichtung von Werk, Dichter- und Berufsbiographie“ des Autors sowie auf die „Erschließung neuer Kontexte“.

Die Beschäftigung mit Eichendorff aus einer interkulturellen Perspektive – der Band versammelt Beiträge von polnischen, deutschen und internationalen Geisteswissenschaftlern – ist rundherum begrüßenswert und weckt positive Erwartungen, wurde dieser Autor doch allzu lange in seiner Rezeptionsgeschichte national vereinnahmt. Man erinnere sich etwa an die unsägliche Apostrophierung Eichendorffs als „deutschester aller deutschen Dichter“, die der Wahrnehmung dieses Autors sicherlich Schaden zugefügt hat. Dass Eichendorff für derartige Etikettierungen und Verkürzungen nie getaugt hat, hat zuletzt etwa Hartwig Schultz in seiner Biografie kundig herausgestrichen.

Wer in diesem Tagungsband jedoch auf Neues hofft, wird keinesfalls durchgängig, aber doch über weite Strecken enttäuscht sein. Wie soll man auch Neues bieten, wenn man – das gilt leider für zahlreiche Beiträge – die Forschungsliteratur mindestens der letzten zehn Jahre – einige Interpreten sind gleich bei Seidlin oder Alewyn stehengeblieben – kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Die Fußnoten vieler Aufsätze sind hier aufschlussreich, finden sich doch für einen Band, der das ‚Heute‘ seiner Eichendorff-Lektüren schon im Titel vor sich her trägt, viel zu selten einmal aktuelle Texte der Forschung als Bezugs- oder Reibungspunkte. Zudem gehen einige Autoren ohne eine eng gesteckte Fragestellung in einer Art Parforceritt über weite Teile des Gesamtwerks hinweg. Etwas mehr ‚Close Reading‘ hätte manchem Beitrag sehr gut getan.

So spürt etwa Wolfgang Nehring in weitem Bogen dem Aspekt des ‚Unzeitgemäßen‘ in Eichendorffs Texten nach. In Bezug auf Eichendorffs Novelle „Eine Meerfahrt“ heißt es: „Die Erzählung ‚Eine Meerfahrt‘, in der spanische Glücksritter, ein problematisches Gesindel, sich als Kreuzritter fühlen und sich aufgrund ihres Christentums ungestraft die größten Übergriffe gegenüber den ‚Wilden‘ Mittelamerikas leisten können, stellt Eichendorffs Menschlichkeit ein bedenkliches Zeugnis aus“. Eine solche Einschätzung kann im Jahr 2009 nur verwundern, widerspricht sie doch der Forschung der letzten 20 Jahre. Interpreten wie Klaus Köhnke, Peter Schnyder und zuletzt Axel Dunker haben in dieser lange Zeit von der Forschung vernachlässigten Novelle gerade in Bezug auf die Darstellung des kulturell ‚Anderen‘ weit Differenzierteres herausgearbeitet.

Derartiges ist beileibe kein Einzelfall: Welche aktuelle Perspektive bietet etwa ein Beitrag, der auf wenigen Seiten unter dem allgemeinen Titel „Zur religiösen Aussage der Poesie Joseph von Eichendorffs“ (Marcin Worbs) einige Zitate aus dem lyrischen Werk zusammenstellt, in der ersten Fußnote freimütig einräumt, dass es sich um eine fast 15 Jahre alte Wiederveröffentlichung handelt, um dann lediglich Binsenweisheiten auszubreiten, wie etwa, dass die Tageszeiten in Eichendorffs Werk auch symbolische Bedeutungen haben, oder dass sich häufig die Lebensentwürfe von Romantikern und Philistern kontrastiv gegenüberstehen. So neu klingt das nun nicht. Ähnliches gilt für sich an Reclams Erläuterungen und Safranskis Romantik-Abriss entlang hangelnden Ausführungen zur Entstehungsgeschichte des Marmorbildes (Janina und Jörg Gesche), oder für Eugeniusz Klin, der feststellt, das Marmorbild solle „Keineswegs […] ausschließlich als Schauergeschichte oder thrillerhafte Gespenstererzählung gedeutet werden“. Wo findet man diesen undifferenzierten Blick auf das Marmorbild denn heute noch, möchte man fragen.

In diesem Umfeld gehen einige hervorragende Texte etwas unter. Und die gibt es: Gewohnt fundiert ist etwa der Beitrag Hermann Kortes über die literaturhistorischen Schriften des späten Eichendorff in den 1850er-Jahren, Texte, die den Spätromantiker als einen Theoretiker zeigen, der seine Werke – dies deutet sich ja auch in der späten Prosa schon an – „bereits im Bewusstsein eines Historikers der Romantik“ verfasst. Wie Korte überzeugend darlegt, betrat Eichendorff mit seinen literaturhistorischen Forschungen zu seiner Zeit ein bisher von der Eichendorff-Forschung noch nicht vermessenes Neuland. Eichendorff erkannte in seiner Kulturgeschichte des Romans bereits früh das polyphone, querschnitthafte Potential als Besonderheit gerade dieser Gattung. Den Roman bezeichnete er als „Musterkarte aller Gesinnungen und Narrheiten, Abgründe und Untiefen seiner Zeit“. An einem bisher nicht beachteten Teil des Eichendorff’schen Werkes zeigt Korte so auf überzeugende Weise die entschiedene Modernität gerade des späten Eichendorffs, die diesen fast als einen Vorfahren Bachtins erscheinen lässt. Hier ergeben sich wirklich neue Perspektiven und Kontexte.

Ebenfalls interessant und modernen Facetten des Werkes von Eichendorff nachspürend ist der Beitrag von Grazyna Barbara Szewczyk, die den Modulationen und Fiktionen, die Eichendorff in seinen biografischen Texten mit Versatzstücken der eigenen Biografie anstellt, ebenso nachspürt wie intertextuellen und metafiktionalen Zusammenhängen in seinen Texten. Wie der Beitrag überzeugend herausarbeitet, entwickelt Eichendorff neue und über das Repertoire der Romantik hinausgehende Darstellungsformen.

Auch die Beiträge von Ewa Jurczyk und Renata Dampc-Jarosz behandeln interessante Aspekte. Letztere verweist auf Eichendorff als einen unterschätzten Brief-Autor. Interessant, genau und sehr aufwendig recherchiert, wenn auch als Lesestoff zuweilen etwas spröde-positivistisch, sind weiterhin die Abrisse über Eichendorffs Rezeptionsgeschichte in Polen (Emil Feilert) und Italien (Enrica Yvonne Dilk).

Es finden sich also durchaus sehr gute Einzeluntersuchungen, und diese sind auch diejenigen, die an den aktuellen Forschungsstand anknüpfen und die spürbar für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Bei anderen Beiträgen ist die fehlende Überarbeitung ein Ärgernis: Wiederholt wird den ‚sehr verehrten Damen und Herren‘ höflich für die ‚nette Einladung‘ gedankt, die man ‚trotz vollem Terminkalender‘ hat wahrnehmen können. Bei einem Buch, das den Käufer fast fünfzig Euro kostet, könnte man derartig an den Redekontext gebundene Phrasen in der Endredaktion auch tilgen.

In der Summe bleibt also ein sehr heterogener Band: Wenn man mit einer so hohen Anzahl an Beiträgen aufwartet, werden selten nur gelungene Ansätze enthalten sein. Unter dem postulierten Anspruch auf Aktualität und neue Impulse wäre eine Straffung allerdings angebracht gewesen und die qualitative Bandbreite ist wirklich ungewöhnlich hoch. Es bleibt der Eindruck, dass die Messlatte bei Aisthesis schon höher lag.

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Grazyna Barbara Szewczyk / Renata Dampc-Jarosz (Hg.): Eichendorff heute lesen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
399 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783895287442

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