Wie gespielte Noten

Tiziano Scarpas preisgekrönter Roman ist ein geradezu sinnlicher Genuss

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses wunderbare kleine Buch des italienischen Autors Tiziano Scarpa, 2009 mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, dem „Premio Strega“, ausgezeichnet, ist eine Hommage an die Musik und an seinen Lieblingskomponisten Antonio Vivaldi. Die Erzählung atmet sozusagen die Musik, die sie beschreibt. Auch für den musikalischen Laien klingt sie permanent an beim Lesen.

Es ist ein Buch über das Motiv der „Stabat Mater“, eines elegischen Stückes von Vivaldi, um vieles ernster und schwerer als die berühmten und populären „Vier Jahreszeiten“ und andere Stücke von ihm. Es ist sicher hilfreich, sich vor, während und erst recht nach dem Lesen dieses faszinierenden Buches dieses Stück anzuhören und die Schwingungen aufzufangen, in die sich Tiziano Scarpa mit seinem eher weniger elegischen Roman hinein begeben hat.

Das Hauptthema des Stabat Mater ist das Leid, die Klage über das Elend, aber auch immer wieder der Trost. Im dem ursprünglich mittelalterlichen Gedicht besingt die Gottesmutter Maria ihren Schmerz über die Kreuzigung ihres Sohnes. Das Leid, die Klage und der Trost sind auch die Hauptthemen in Scarpas Erzählung, doch er bearbeitet sie nicht wehklagend, sondern eher nüchtern.

Die Protagonistin des Romans ist die fünfzehnjährige Cecilia. Im Venedig des 18. Jahrhunderts lebt sie im dortigen Kloster und Waisenhaus, dem Ospedale della Pieta. Scarpa selbst wurde dort 1963 geboren. Im Nachwort erzählt er: „Ich wurde dort geboren, wo einst die Zimmer der Waisenmädchen waren, wo Vivaldi unterrichtete und seine Schülerinnen dirigierte und für sie eine Unmenge an Konzerten und geistlicher Musik komponierte.“

Dieses Zusammentreffen nimmt Scarpa als Motiv für einen Roman über die dunklen Stimmungen und Seelenzustände des Mädchens Cecilia, die sich erst aufhellen, als der junge Priester und Violinlehrer Don Antonio (das ist Vivaldi) in der Schule zu wirken und zu unterrichten beginnt. Mit dessen Musik werden auch die Stimmungen des Mädchens heller: „Geräusche, die ich noch nie gehört hatte, drangen zu mir“, sagt Cecilia. „Ich versuchte mir vorzustellen, was sie wohl, bedeuten und wer sie hervorbrachte.“

So wie die Musik Vivaldis das Leben Cecilias aufschließt, so erschließt sie diesen Roman selbst. Das, was Cecilia gegen Ende des Buches für sich erhofft, ist der Traum vieler Menschen, gerade derjenigen, die schreiben oder musizieren: „Ich wünschte mir, ich hätte dieselbe Fähigkeit, Orte und Gedanken in Einklang zu bringen, das was mir durch den Kopf geht, und das, was ich schreibe. Ich möchte mit derselben Übereinstimmung schreiben können, die zwischen einer geschriebenen und eine gespielten Note besteht.“

In diesem wunderbaren Buch kann man fast auf jeder Seite Beispiele für diese Übereinstimmung finden. Seine Lektüre ist ein geradezu sinnlicher Genuss.

Titelbild

Tiziano Scarpa: Stabat mater. Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
136 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132253

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