Patriotisches Würgen

Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Peter Bichsel

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Ich habe weder das Bedürfnis, noch fühle ich mich verpflichtet, ein großer und produktiver Schriftsteller zu sein oder zu werden“, bekannte Peter Bichsel schon vor 30 Jahren in einem Interview. Bichsel, der vor 75 Jahren in Luzern als Sohn eines Handwerkers geboren wurde, ist ein Sonderfall in der deutschsprachigen Literatur. Er schrieb nur wenige literarische Texte (im Vergleich mit anderen Schriftstellern seines Ranges), hat aber dennoch Werke von bleibendem Wert veröffentlicht, erhielt zahlreiche renommierte Literaturpreise, die Ehrendoktorwürde der Universität Basel und wurde zu Gastdozenturen im In- und Ausland eingeladen.

Bichsels besonderer Stellenwert wird auch dadurch deutlich, dass nun unter dem Titel „Zimmer 202“ ein Filmporträt von Eric Bergkraut in den Schweizer Kinos anläuft. Der Film liefert mehr als eine Momentaufnahme anlässlich des runden Geburtstages. Der Regisseur hat Bichsel nach Paris verfrachtet und ist mit ihm auf eine Art Zeitreise gegangen. „Ich bin immer noch Sozialist mit marxistischem Hintergrund“, bekennt der Autor trotzig vor laufender Kamera. Sein ambivalentes Verhältnis zur Schweiz drückt sich auch darin aus, dass ihn (nach eigenem Bekunden) ein „patriotisches Würgen“ befällt, wenn er Schweizer Sportler auf dem Siegertreppchen sieht.

„Meine Kolumnen mögen nach Beobachtungen aussehen. Aber das stimmt nicht. Bei mir geht es immer um den ersten Satz, den ich finden muss. Das ist zwar ein unendlich qualvolles Geschäft, aber mit Beobachten hat es nichts zu tun“, klärt Bichsel über sein „Tagesgeschäft“ auf. Seit mehr als 35 Jahren betätigt er sich für diverse Schweizer Printmedien als Kolumnist – mal spottend, mal feinfühlig, dann wieder bissig oder romantisch.

Als Bichsel 1964 mit seinem 21 schmale Texte umfassenden Geschichtenband „Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ debütierte, gehörte Marcel Reich-Ranicki zu den lautstärksten Bewunderern dieser radikal verknappten Prosa, für die Bichsel mit dem angesehenen Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet wurde. Seine stilistischen Eigenheiten hat er sich bis heute bewahrt. Das ausschweifende Erzählen war nie seine Sache, und so hat er in der Kolumne, die bei ihm zur Mischform aus Journalismus und Literatur wird, seine Heimat entdeckt.

Poetische Zustandsbeschreibungen über das Leben ganz gewöhnlicher Figuren und der Unerfüllbarkeit ihrer latenten Sehnsüchte stehen in seinen literarischen Arbeiten immer im Vordergrund. „Das Erzählen, nicht sein Inhalt, ist das Ziel der Literatur“, gab der einstige Volksschullehrer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Anfang der 1980er-Jahre Auskunft über sein dichterisches Credo.

Oft – und nicht zu Unrecht – wurde er mit seinen Landsleuten Johan Peter Hebel und Robert Walser verglichen, den Meistern der Prosaminiaturen. In seinen „Kindergeschichten“ (1969), in denen auch der wohl bekannteste Bichsel-Text „Ein Tisch ist ein Tisch“ enthalten ist, und im Band „Der Busant“ (1985) kam er ihnen am nächsten.

Peter Bichsel, der seit geraumer Zeit in Bellach bei Solothurn lebt, ist einer der letzten, leicht skurrilen Individualisten der deutschsprachigen Literatur: „Die Geschichten dieser Welt sind geschrieben und müssen trotzdem immer wieder geschrieben werden, nicht weil wir neue Geschichten brauchen. Sie müssen geschrieben werden, damit die Tradition des Erzählens, des Geschichtenschreibens nicht ausstirbt.“