Ekel – mit Maßen
Ästhetische Wahrnehmung in den Erzählungen Thomas Manns zwischen objektivem, gutem Geschmack und subjektivem Empfindungsvermögen
Von Bastian Strinz
Ich möchte beginnen mit einem Zitat aus „Der Tod in Venedig“, das die Selbstzweifel des anerkannten Schriftstellers Gustav von Aschenbach über seine gesellschaftliche Stellung und sein künstlerisches Schaffen ausdrückt. Dieses Zitat führt exemplarisch in das Thema dieses Vortrags – den Ekel bei Thomas Mann – ein. Aschenbach befindet sich noch in München, kurz bevor es ihn in die Ferne nach Venedig zieht. Der allwissende Erzähler reflektiert Aschenbachs Situation als schriftstellerische Autorität:
„Nicht, daß er [Aschenbach] Schlechtes herstellte: dies wenigstens war der Vorteil seiner Jahre, daß er sich seiner Meisterschaft jeden Augenblick in Gelassenheit sicher fühlte. Aber er selbst, während die Nation sie [seine Werke] ehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als ermangle sein Werk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein Erzeugnis der Freude, mehr als irgendein innerer Gehalt, […] die Freude der genießenden Welt bildeten.“
Das Zitat spiegelt die Erwartungshaltung eines vermeintlichen guten und objektiven Geschmacks an einen Schriftsteller, die Gustav von Aschenbach durch die Gesellschaft erfährt (vielleicht als alter ego von Thomas Mann?): Zwar entwickelt Aschenbach eine „Meisterschaft“, die ihm die „Gelassenheit“ vermittelt, der Erwartungshaltung eines bürgerlichen Publikums gerecht zu werden. Doch wird er durch diese Erwartungen zugleich in seiner „spielenden Laune“ als ein „Erzeugnis der Freude“ gehemmt. Aschenbach sieht einen Mangel an Freude in seinem Werk und ich möchte den Fokus auf eine Emotion in Manns Erzählungen richten, die der Freude als ein bejahendes Gefühl negierend gegenüber steht: den Ekel. Thomas Mann setzt den Ekel als eine heftige emotionale Abwehrreaktion ein, um sich gegen den guten bürgerlichen Geschmack zu stellen, für den er als etablierter Schriftsteller eigentlich schreibt. Seine Figuren drücken aus, dass die „die Freude an der genießenden Welt“, die Aschenbach beim Entstehen seiner Werke vermisst, mit den Ansichten der Gesellschaft nicht vereinbar sind. Thomas Manns Gesellschaftskritik ist ein raffiniertes Spiel mit dem Ekel, da er vordergründig den guten Geschmack nicht verletzt, ihn jedoch, versteckt auf einer zweiten Ebene, in Frage stellt. Mann orientiert sich dabei an einem ästhetischen Konzept von Ekel, wie es vor allem Friedrich Nietzsche für das 19. Jahrhundert geprägt hat. Ich möchte dies an fünf frühen Erzählungen aus den Jahren 1897-1912 illustrieren: „Der kleine Herr Friedemann“, „Luischen“, „Der Tod in Venedig“, „Tonio Kröger“, „Der Bajazzo“
1. Definition: Guter Geschmack
Geschmack, beziehungsweise. guten Geschmack definiere ich in Analogie zu Nietzsches Ausführungen über die Moral, die er in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“ 1873 dargelegt hat. Er entlarvte darin eine elitäre Schicht, die sich nach unten abgrenzt und zwar dadurch, dass sie Werturteile fällt, die gut und schlecht unterscheiden – nach Kriterien, welche sie selbst aufgestellt hat:
„[…] das Urtheil ‚gut‘ rührt nicht von Denen her, welchen ‚Güte‘ erwiesen wird! Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werthe geschaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen […].“
Als guten Geschmack verstehe ich das „Werthurteil“ einer Gemeinschaft über eine ästhetische Darstellung, oder auch die ästhetische Wahrnehmung dieser Darstellung. Dieser Konsens entscheidet darüber, was als gut, oder schlecht zu empfinden ist und was den Mitgliedern dieser Gemeinschaft zumutbar ist. Dies bildet den allgemeinen Geschmack aus, wie Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“ formuliert:
„Wie verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, dass Einzelne, Mächtige, Einflußreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urteil ihres Geschmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durchsetzen: – sie legen damit vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch mehrerer und zuletzt ein Bedürfnis aller wird.“
Der „Geschmack“ drückt hier die Zustimmung etwa gegenüber einem Kunstwerk aus, und der „Ekel“ dessen Ablehnung. „Ekel“ ist demnach nach Nietzsche ein Regulativ der Gesellschaft, um Missfallen gegenüber Erscheinungen auszudrücken, die nicht dem Urteil des Geschmacks, des guten Geschmacks, standhalten. Alles, was nicht mit dem Konsens des objektiv guten Geschmacks vereinbar ist, wird mit Ekel bedacht.
Im Falle Thomas Manns um die Jahrhundertwende sehe ich diesen Konsens in der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre „Werth- und Geschmacksurteile“ über vermeintliche Objektivitäten regelt, die ich an vier Punkten festmache: 1. An einem gemeinsamem Bildungskanon (Mythos, aber auch Wissenschaft: Medizin) 2. An gemeinsamen Moralvorstellungen (über Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft, speziell über Homosexualität, die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. ein Strafdelikt war) 3. An einer Leistungsethik im Sinne Max Webers, die im Rahmen der protestantischen Religion auf unbedingten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel abzielt, um einen größtmöglichen Gewinn zu erzielen (im Gegensatz zur Künstlertum, das nicht gewinnmaximierend denkt, sondern sich im Gegenteil oft über das Maß verschwendet) und schließlich die Verständigung darüber, was aus diesen Einflüssen resultierend in der Kunst vermittelt werden soll, beziehungsweise darf, ohne dabei den guten Geschmack zu verletzen.
Thomas Mann selbst agiert in einem Spannungsfeld zwischen seinem Künstlertum, seinen homoerotischen Neigungen und seiner Existenz als anerkannter Schriftsteller, der mit der Hochzeit mit der Bürgertochter Katja Pringsheim zu einem anerkannten Mitglied der Münchner Gesellschaft gehört. In seinen Erzählungen kommt deutlich zum Ausdruck, wie er damit ringt. Er greift dabei den von Nietzsche formulierten „Ekel“ auf, mit dem die elitäre Schicht der Gesellschaft ihren guten Geschmack gegenüber dem „hoc est absurdum“ verteidigt. Der Ekel ist nun nicht mehr ein Instrument der wenigen Bestimmenden der Gesellschaft, sondern wird stattdessen zum zentralen Gegenstand der Ästhetik.
Alles Hässliche – auch das Eklige – ist somit nicht mehr bloßes Gegenstück zu einem guten Geschmack, sondern kann ebenfalls ästhetisch verhandelt werden. Zwar sieht Mann – ähnlich wie Nietzsche – die Hohlheit und Verfallserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft in der westlichen Kultur. Als Beispiel: „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“. Oder den sprechenden Namen Gustav von Aschenbach, der als ein Bach aus Asche, den Tod des Schrifstellers in Venedig vorwegnimmt. Doch geht Mann nicht ganz so weit wie Nietzsche, der in seiner Philosophie die Umwerthung aller bestehenden Werthe postuliert und mit dem Hammer philosophieren möchte. Vielmehr entwickelt Thomas Mann ein raffiniertes Spiel mit den Grenzen des guten Geschmacks, indem er Ekel in seiner Prosa kalkuliert einsetzt. Thomas Mann vollführt damit eine Gratwanderung zwischen gesellschaftlicher Kritik, die ein Künstler in seinen Werken leistet und der Anerkennung als etablierter und anerkannter Schriftsteller auf dem literarischen Markt. Das genügt, um die Verfallserscheinungen der Gesellschaft aufzuzeigen und Kritik an dem vermeintlich objektivem Geschmack zu üben, geht aber nicht so weit, dass er nicht mehr als bürgerlich anerkannter Schriftsteller leben könnte. In Anlehnung an den Thomas-Mann-Aufsatz von 1946 über den Schriftstellerkollegen Dostojewski mit dem Titel „Dostojewski – mit Maßen“ möchte ich diesen Einsatz „Ekel – mit Maßen“ bezeichnen.
2. Physischer Ekel und moralischer Ekel
Für den Rahmen dieses Vortrags möchte ich zwei Hauptarten von Ekel unterscheiden und orientiere mich dabei an Aurel Kolnais Aufsatz „Der Ekel“ von 1929: Er liefert darin eine Phänomenologie des Ekels und definiert diesen dabei als eine starke emotionale Abwehrreaktion und als „eine personenausfüllende Macht“, die momentan das Handeln der Personen bestimmt, die vom Ekel befallen werden.
Kategorie: Physischer Ekel
Der physische Ekel wird durch Organisches beziehungsweise eine materielle Seite bestimmt. Nach Kolnai wird dieser physische Ekel etwa. durch Exkremente ausgelöst, durch Schleim oder andere Körperflüssigkeiten (Blut, Sperma, Urin) oder durch Fäulnis und Verwesung beziehungsweise durch die Verunstaltung von Körpern.
Zwar zeichnet Thomas Mann einige seiner Figuren derart, dass diese durch ihre körperliche Verunstaltung nach der Definition Kolnais physischen Ekel beim Leser hervorrufen könnten. Doch wirken diese Darstellungen durch die Ironie in ihrer Überladung und Detailgenauigkeit für den Leser als groteskes Element, das eher zum Schmunzeln anregt, als das es den Leser als heterogenes Element schockieren würde: Da gibt es den „Kleinen Herr Friedemann“ aus der gleichnamigen Erzählung, der zwergenhaft und mit einem Buckel verunstaltet ist; weiter gibt es den Anwalt in „Luischen“, der in Manns Beschreibung mit unzähligen Tiermetaphern bedacht wird – er hat „Beine eines Elefanten“, den „Rücken eines Bären“ und auf seinem runden Schädel wuchern „hellblonde Borsten […] wie bei einem überfütterten Hunde“. Und schließlich gibt es den Schriftsteller Detlev Spinnel in der Erzählung „Tristan“: „sein Äußeres war wunderlich“, heißt es über ihn, da er mit überdimensionalen Füßen und kariösen Zähnen auftritt.
Doch diese Beschreibungen wirken allenfalls grotesk. Sie erzeugen keinen Ekel beim Leser, da sie in eine apollinisch beruhigte Prosa eingebettet sind. Die elaborierte Form und die Detailgenauigkeit in der Beschreibung verhindern eine Schockwirkung. Des Weiteren handeln diese Beschreibungen von Körpern, die gesellschaftlich in Beschlag genommen sind, etwa durch einen Diskurs bestimmt werden. Das Organische, das Ekel hervorrufen könnte, ist in einen medizinischen Diskurs eingebettet und wird damit in seiner Ekelhaftigkeit veharmlost. So etwa die Agonie der lungenkranken Frau Klöterjahn im Sanatorium Einfried: Sie hustet das ekelerzeugende Organische, in ihrem Fall das Blut in einem Anfall heraus. „Sie hat so viel Blut aufgebracht, so fürchterlich viel […] Sie saß ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott, so übermäßig viel […]“ diesmal nicht aus der Luftröhre, sondern „aus der Lunge“. Doch von diesem Ereignis erfährt der Leser nicht direkt, sondern nur indirekt aus dem aufgeregten Bericht der besorgten Rätin Spatz. Zuvor war das Blut im Husten der Frau Klöterjahn allenfalls „unbedeutend“, genauso medizinisch überwacht wie die übrigen Sterbefälle im Sanatorium Einfried, denn „dann und wann stirbt jemand von den ‚Schweren‘ […]“ einen, weil nicht sichtbaren, sanften Tod. Das ekelhaft Organische wird von Thomas Mann allenfalls unmittelbar dargestellt, gemäß eines Gesellschaftskonsenses seiner Zeit, der alles Organische und damit verbundene Ekelhafte aus dem Blickfeld verbannte. Krankheit ist durch einen strengen Verwaltungsapparat des medizinischen Diskurses überwacht: Frau Klöterjahns Lungenkrankheit wird im Sanatorium Einfried von den Ärzten und die Cholera in der Erzählung „Der Tod in Venedig“ von den venezianischen Behörden „stadtväterlich“ entsprechend verwaltet.
Der physische Ekel ist somit kein verstörendes Element für den Leser, sondern vielmehr für die Figuren, die sich ob ihrer körperlichen Defekte vor sich selbst ekeln. Sie sind durch diese äußerlichen Defekte stigmatisierte Außenseiter der Gesellschaft.
Kategorie: Moralischer Ekel
Ein rein physischer Ekel, der durch abstoßende körperliche Defekte oder Organisches hervorgerufen wird, scheidet also als ein beim Leser ekelerregendes Moment bei Thomas Mann aus. Es ist vielmehr ein Ekel der Gesellschaft vor dem Lebendigen, der für den Leser augenfällig wird, und den Aurel Kolnai als einen moralischen Ekel definiert. Unter anderem durch eine „übermäßige oder am falschen Orte entfaltete Vitalität“, die abstoßend auf den Betrachter wirken kann. Solch eine „Überlebendigkeit“ findet sich etwa bei dem kleinen Säugling Anton Klöterjahn in der Erzählung „Tristan“, „jenes rücksichtslose und lebensvolle kleine Geschöpf“, dessen Schreie von „animalischem Wohlbefinden“ zeugen: Er atmet das Leben in vollen Zügen, das seiner sterbenden lungenkranken Mutter verwehrt bleibt und ist „von einer exzessiven Gesundheit“. „Rosig und weiß, sauber und frisch gekleidet, dick und duftig lastete er auf dem nackten, roten Arm seiner betressten Dienerin, verschlang gewaltige Mengen von Milch und gehacktem Fleisch, schrie und überließ sich in jeder Beziehung seinen Instinkten.“ Er strahlt die gleiche ungebremste Lebenslust aus wie sein Vater, der es liebt, „viel und gut zu essen und zu trinken“, sich angesichts seiner Vitalität „auch an anderen irdischen Dingen“ wie einem Stubenmädchen erfreut, und „dessen Verdauung sich in so guter Ordnung befindet wie seine Börse.“
Diesen Ekel, den der gute Geschmack vor dem Überlebendigen pflegt, überträgt Thomas Mann nun auf seine Figuren. Sie ekeln sich vor sich selbst. Dies sind meist Künstlerfiguren, die gemäß den Gedanken Nietzsches aus der „Geburt der Tragödie“ die Wirklichkeit nur durch eine ästhetische Überhöhung ertragen können: „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ und nur „die Kunst; […] vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt […].“
Doch die Kunst wird nun nicht mehr als Äußerung des guten (objektiven) Geschmacks angesehen, um den Ekel vor der Wirklichkeit zu überdecken, sondern als Ausdruck einer subjektiven Empfindung. Diese subjektive Empfindung ist der Ekel, den die Figuren vor sich selbst verspüren, da sie ihre Andersartigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Normen erkennen. Sei es durch einen körperlichen Defekt oder durch eine anders geartete Wahrnehmung. Die Funktion des Ekels ist dabei nicht, wie angedeutet, die Verunsicherung des Lesers als ein verstörendes Element. Seine Funktion liegt vielmehr darin, der subjektiven Empfindung der Figuren gegen den vermeintlich objektiven Geschmack der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen.
Ein erstes Beispiel hierfür liefert der Ich-Erzähler aus der Erzählung „Der Bajazzo“, der als Künstler nicht den Maßstäben einer Leistungsethik entspricht und aus dieser Erkenntnis heraus einen Ekel auf die Welt und auch vor sich selbst entwickelt. Der Ich-Erzähler reflektiert seine Künstlerposition, durch die sich der Bajazzo außerhalb der Gesellschaft sieht: „[…] und unwiderstehlich beschleicht dich ein Gefühl der Abneigung von aller Welt und dir selbst; die Ängstlichkeit befällt dich wieder, die übelbekannte Ängstlichkeit, und du springst auf und machst dich davon, um […] die Berufs- und Arbeitsleute zu betrachten, die geistig und materiell zu unbegabt sind für Muße und Genuß.“
Der Bajazzo befindet sich ob seiner subjektiven ästhetischen Wahrnehmung in einer „Außerhalb-Stellung“ gegenüber den fleißigen „Berufs- und Arbeitsleuten“, die den Ansprüchen einer Leistungsethik gerecht werden. Erst die Distanz zu den Leistungsethikern der Gesellschaft ermöglicht die „Muße und [den] Genuß“, die der Bajazzo in einer ästhetischen Betrachtung der Welt empfindet. Doch diese Haltung ruft bei den Figuren Manns nicht nur ein „Gefühl der Abneigung von aller Welt“ hervor, sondern vor allem auch von „dir selbst“. Zwar kann sich der Bajazzo von dieser momentanen Abneigung ablenken, doch kehrt diese immer wieder: „– Unzweifelhaft, daß sich ein Trost fand, eine Ablenkung, eine Betäubung für dieses Mal und ein anderes und wiederum ein nächstes. Aber es kehrte wieder, alles dies, es kehrte tausendmal wieder im Laufe der Monate und der Jahre.“
Das Abneigungsgefühl entwickelt sich zu einem Ekel, da es ständig wiederkehrt. Es ist ein quälender Ekel vor der Welt, aber vor allem vor sich selbst, der sich über Monate und Jahre hinzieht und vor dem es keine endgültige Betäubung zu geben scheint. Er ist nicht mit der Heftigkeit und Plötzlichkeit eines organischen Ekels vergleichbar, sondern erreicht seine Intensität in einer paradoxen Form, die man mit Roland Barthes als eine „Intensität eines Mangels an Intensität“ beschreiben kann. Der Ekel deckt das gesamte Wortfeld des französischen Wortes ennui ab: Langeweile, Ekel, Überdruss, Unannehmlichkeit. Diese Eigenschaften implizieren eine Distanz zum Geschehen und deswegen eine Passivität der Figuren, da sie sich aus gesellschaftlicher Konvention heraus von allem fernhalten (müssen), was die ennui verhindern könnte. Eine intensive Erfahrung kann nicht gemacht werden, da diese offen gegen den guten Geschmack der Gesellschaft stehen würde. Und so entsteht Intensität des Ekels bei Thomas Mann erst durch seine ständige Wiederkehr und seine Dauer
Die langsame Agonie des Gustav von Aschenbach in Venedig drückt diesen Zustand aus: Statt aktiv zu handeln, lässt er sich passiv von einer verführerischen Macht treiben. Sein Tod ist durch seinen sprechenden Namen bereits unausweichlich vorweggenommen und so bleibt ihm nichts anders übrig, als sich willenlos vom Fährmann in die Lagunenstadt übersetzen zu lassen. Die homoerotische Faszination an dem polnischen Jüngling Tadzio stellt sich gegen den guten Geschmack und kann in der Erzählung nur in einer ästhetischen Überhöhung dargestellt werden: Tadzio wird von Aschenbach künstlerisch als eine formvollendete Statue „parischen Marmors“ griechischen Stils wahrgenommen. Tadzio wandte „den Oberkörper, eine Hand in der Hüfte, in schöner Drehung aus seiner Grundpositur und blickte über die Schulter zum Ufer“. Die Darstellung des begehrten Jünglings kann Thomas Mann nur vor dem Geschmack des bürgerlichen Publikums vertreten, indem er sie ästhetisch und mythologisch überhöht und sie so zum Teil eines Bildungskanons macht.
Auch Aschenbachs Todessehnsucht, die aus einer Unzufriedenheit mit dem guten Geschmack erwächst, stellt Thomas Mann in einer mythologischen Überhöhung dar: Die Weite des adriatischen Meeres, in dessen Wellen, den „Rosse[n] Poseidons“, sich der verführerische kleine „Phäake“ Tadzio am Ende der Novelle ein letztes Mal den begehrenden Blicken des Sterbenden darbietet, zeugen davon.
Aschenbach kommt nicht mit seinem begehrten Objekt Tadzio zusammen, genauso wie Herr Friedemann. Seine Verunstaltung stigmatisiert ihn zum Außenseiter, der sich aus dem Leben zurückzieht und schließlich einen Ekel vor ihm selbst entstehen lässt. So beschließt er, auf alle Freuden zu verzichten. Die Beobachtung eines sich küssenden Paares auf einer Bank desavouiert den isolierten Jugendlichen derart, dass er auf die körperliche Erfüllung „verzichtete, verzichtete auf immer“. Die Begegnung mit der von ihm begehrten Gerda von Rinnlingen bringt ihm nicht die Erfüllung seiner Sehnsüchte, sondern treibt ihn stattdessen in den Selbstmord. Auslöser dafür ist die schroffe Ablehnung, die sie ihm offen entgegenbringt: „Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen, verächtlichen Lachen hatte sie ihre Hände seinen heißen Fingern entrissen“. Friedemanns jahrelanger Selbstekel gipfelt in der sich plötzlich entladenden Intensität ihrer Ablehnung, die ihn schließlich tötet. Das kurze verächtliche Lachen, der „Ruck“, mit dem sie Friedemann ihre Hände entreißt, legt mit einem Schlag seinen „große[n] Schmerz“ frei, den er jahrelang mit sich herumgetragen hat. Johannes Friedemann hält seine „Sehnsucht“ als subjektive Empfindung für sich geheim, da sie sich gegen das Urteil des guten Geschmacks stellt, gegen den Zwang „aus dem allmählich eine Gewöhnung noch mehrerer und zuletzt ein Bedürfnis aller wird“.
Ähnlich ergeht es dem Rechtsanwalt Jacoby, dessen Tod der Arzt in „Luischen“ lapidar mit dem Wort „Aus“ kommentiert. Er meint damit das Leben des Rechtsanwalts, sowie gleichzeitig das entsetzliche Treiben der Abendgesellschaft, das zu eben seinem Tod geführt hat. Zuvor muss er sich durch seine körperlichen Verunstaltung dem Spott der Abendgesellschaft aussetzen und die Demütigungen seiner Frau Amra aushalten, die ihn dazu treibt, in einer „fast kriechenden Selbstverkleinerung“ so weit zu gehen, dass er sich kaum „die notwendige persönliche Würde bewahrt haben könnte.“
Die Empfindung, der Ekel vor sich selbst, grenzt dabei an eine Selbstaufgabe, die das eigene Ich der Figuren in Frage stellt: Aschenbach vermisst die „Merkmale feurig spielender Laune, die ein Erzeugnis der Freude“ sein sollen. Eine Todessehnsucht befällt ihn schließlich, die ihn willenlos nach Venedig treibt und ihn am Strand der venezianischen Lagune sterben lässt. dem „Der Bajazzo“ kommt eine Sonderstellung zu, die ihm, ähnlich der meisten Künstlerfiguren Manns, eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft nicht zulässt. Johannes Friedemann verzichtet auf die Erfüllung seiner Sehnsüchte und begeht schließlich Selbstmord, da er die Ablehnungen und seinen Selbstekel nicht mehr aushält.
3. Ekel mit Maßen
Ihre zum Teil äußerlichen Auffälligkeiten (Friedemann, Spinnel) oder ihre eigene Haltung (Tonio Kröger, Aschenbach) erfahren die Figuren als einen gesellschaftlichen Defekt. Der Ekel, den der gute Geschmack zur Abgrenzung gegenüber nicht Konsensfähigem ausspricht, skandalisiert die Figuren in den Erzählungen Thomas Manns moralpsychologisch. Der Ekel des guten Geschmacks definiert ihre Haltungen und Äußerlichkeiten als etwas, was der Gesellschaft nicht zumutbar ist. Sei es die Außerhalbstellung und der Müßiggang der Künstlerfiguren, mit der sie sich gegen die Leistungsethik stellen (der Bajazzo, Gustav von Aschenbach), sei es die Abweichung von einem Bildungskanon (Gustav Aschenbach möchte anderes schaffen, als „ein Erzeugnis der Freude“, sucht mythische und ästhetische Überhöhung) oder das Ausleben von Sexualität (Herr Friedemann, Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach). All diese Phänomene werden vom guten Geschmack mit Ekel bedacht.
Thomas Mann verkehrt nun diesen Prozess: Die Figuren empfinden nun den Ekel über sich selbst und geben dabei einen großen Teil ihres Selbsts auf. Diesen Vorgang kann man am besten mit der Abjektvorstellung im Sinne Julia Kristevas beschreiben: Das Abjekt ist nach Kristeva etwas, das sich gegen das Ich stellt: „De l’objet, l’abject n’a qu’une qualité – celle de s’opposer à je.“ Diese Qualität wird als heterogenes Element empfunden, das sich gegen eine Einheit, etwas Geschlossenes, wie den guten Geschmack stellt. Es wird mit körperlichem und moralischem Ekel bedacht und verworfen.
In den Erzählungen Thomas Manns geschieht dieser Vorgang auf zwei Ebenen:
Zunächst werden die (Künstler)figuren von der Gesellschaft mit Ekel bedacht und somit verworfen. Ihre Stigmatisierung (Heinrich Detering) durch körperliche oder sonstige Besonderheiten ist dem guten Geschmack nicht zumutbar. Weiter findet dieser Vorgang in den Figuren selbst statt: Sie verwerfen einzelne Sehnsüchte, Begehren oder Verhaltensweisen, die dem guten, vermeintlich objektiven Geschmack der Gesellschaft zuwiderlaufen. Sie stellen dieser Selbstaufgabe jedoch eine subjektive Empfindung entgegen, die des Ekels – vor sich selbst und vor der Welt. Dieser (moralische) Ekel scheint zunächst nicht die gleiche Intensität wie die des körperlichen zu besitzen. Doch in seiner Dauer und seiner ständigen Wiederkehr, vor der es kein Entrinnen gibt, steht er der emotionalen Intensität des physischen Ekels in nichts nach. Dies zeigt sich zum einen in der Weltferne der Figuren, die zur Passivität verurteilt sind (Tonio Kröger, Aschenbach, der Bajazzo) und die dabei ständig eine „übelbekannte Ängstlichkeit“ verspüren. Zum anderen zeigt sich die Intensität des Mann’schen Ekels darin, dass die schleichende Selbstaufgabe der Protagonisten, die mehr und mehr ihre Sehnsüchte verwerfen, im Tod kulminiert: Der Tod Johannes Friedemanns und des Anwalts Jacoby kommt als Symptom des schon lange andauernden Selbstekels zu den Protagonisten und wird durch eine plötzliche, heftige Ablehnung hervorgerufen. Der Tod Aschenbachs geschieht sanfter, ist allerdings schon von Beginn seiner Reise an vorprogrammiert. Es ist dies ein langsames Sterben eines Außenseiters, der sich bereits abseits der gesellschaftlichen Konventionen, des guten Geschmacks gestellt hat.
Das Abjekte, das Verworfene des Selbstekels lässt sich nicht mit dem guten Geschmack vereinbaren. Thomas Mann integriert jedoch dieses Abjekte als eine Signatur der Brüchigkeit eines guten Geschmacks in seine Prosa. Doch nicht, um den Leser durch ein offensichtlich heterogenes Element zu verstören, sondern um seine Kritik in der Emotion des (Selbst-)Ekels seiner Figuren zu transportieren. Nicht als brachiale, physische Ekelerfahrung, sondern mit einem wohlkalkulierten Einsatz einer Emotion, die er geschickt in den Kanon des guten Geschmacks verpackt. Ekel – mit Maßen.