Wissenschaft zwischen Eigenlogik und Zwang

Rainer Rosenberg skizziert eine Fachgeschichte der Germanistik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann mit riesigem Kopf, der auf breiten Schultern ruht, die Augen hinter Brillengläsern und geschlossen; dann eine schmale Taille, Beinchen nur noch von der Größe etwa der Unterkiefer und zwei offensichtlich zappelige Füßlein; der eine Arm ruhig aufs Katheder gestützt, vom anderen nur eine geöffnete Hand mit einladender Geste sichtbar: eine Ansammlung von Widersprüchen. Diese Zeichnung schmückt den Titel von Rainer Rosenbergs Untersuchung über die deutschen Germanisten. Erfasst die Kombination aus viel Kopf und wenig Leib, aus Ruhe und Bewegung, aus dem Platz hinterm sicheren Pult und dennoch der Aufforderung, doch näher zu kommen, die Haltung der Vertreter dieses Berufs?

Wenn es Rosenberg unternimmt, im Anschluss an den Begriff Pierre Bourdieus den Habitus der Germanisten zu bestimmen, jedenfalls der Literaturwissenschaftler unter ihnen, so gilt seine Mühe einem Gebiet, das in der fachgeschichtlichen Forschung bislang nicht im Mittelpunkt steht. Zwar dürfte kaum jemand leugnen, dass wissenschaftliche Wirkung nicht allein durch die Kraft des besseren Arguments eintritt, sondern es auch eine Rolle spielt, ob der Wissenschaftler von seinem Auftreten her, von Lebensführung, Meinungen, Sprachstil und Benimm Erwartungen zu entsprechen vermag. Auch in der universitären Lehre mögen atmosphärische Details zuweilen mehr an Prägekraft entfalten als das tatsächlich Gesagte und mögen sie einen bestimmten Umgang mit Literatur nahelegen.

Doch ist die Erforschung solcher Umstände schwierig. Auseinandersetzungen über Methoden, Forschungsarbeiten, politische Stellungnahmen führen zu Veröffentlichungen, die in Bibliotheken überdauern. Dokumente von Konflikten innerhalb der Institutionen haben häufig Eingang in Archive gefunden. Doch Informationen über Lebensweise oder menschlichen Umgang kann man, wenn überhaupt, nur schriftliche Erinnerungen entnehmen, die nachträglich und selten ohne Interessen angefertigt wurden. So ist man gespannt, wie sich Rosenberg diesem methodischen Problem stellt.

Die Antwort lautet kurz: gar nicht. Sein „Versuch über den Habitus“ der deutschen Germanisten handelt nur selten vom Habitus. Zuweilen ist zwar die Rede davon, dass dieser oder jener Gelehrte asketisch lebte, wer mit Künstlern Umgang pflegte oder genau dies als strenger Wissenschaftler vermied, wer durch kollegiales oder autoritäres Verhalten auffiel. Doch werden alle diese Aspekte kaum berührt. Sogar die vergleichsweise einfach zu beantwortende Frage, welchen Schreibstil die Germanisten in bestimmten Epochen pflegten und was dies über den Umgang mit Literatur und über das universitäre Feld aussagt, wird allenfalls gestreift.

Dagegen bringt Rosenberg eine relativ konventionelle Fachgeschichte, die methodische und politische Entscheidungen der Germanisten miteinander in Beziehung setzt. Er orientiert sich dabei am gut Erforschten: Es treten vor allem jene Ordinarien in der Linie Wilhelm Scherer – Erich Schmidt – Julius Petersen auf, deren Leben und Werk bereits dargestellt ist, und es fehlt die Mehrzahl der Unbekannteren aus der Provinz, bei denen doch zahlreiche Deutschlehrer lernten. Schon gar nicht finden sich die Gescheiterten, denen eine Universitätslaufbahn verwehrt blieb oder die sich von Hörergeldern als Privatdozenten durchschlagen mussten. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den beiden Systemen, die als die „zwei deutschen Diktaturen“ des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder untersucht wurden, nämlich dem „Dritten Reich“ und der DDR.

Was Rosenberg bringt, bringt er nicht schlecht. Für die Zeit bis 1945 lässt sich sein Buch durchaus als zuverlässiger und gut formulierter fachgeschichtlicher Überblick lesen und taugt als Literaturangabe für jeden BA-Kurs zu diesem Thema; zumal Rosenberg exemplarisch deutlich zeigt, was er der vorliegenden Forschung zu verdanken hat. Die westdeutsche Entwicklung bis 1989 ist dann stimmig (aber raumbedingt etwas holzschnittartig) skizziert, die der überschaubareren DDR mit deutlicher Differenzierung zur Germanistik der Nazi-Zeit wie auch einfühlsam, was interne Konflikte angeht. Die unterschiedlichen Erfahrungen von Vertretern und Vertreterinnen der Generation, die das Exil in verschiedenen Ländern oder Inhaftierung in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nazi-Diktatur erleben musste, sind ebenso berücksichtigt wie der Wandel der Sozialaufsteiger, die sich als neue Elite zunächst gegen die verbliebenen bürgerlich geprägten Ordinarien wendeten, in der späteren DDR aber zunehmend einer Eigenlogik der Wissenschaft folgten.

Im DDR-Kapitel wird noch am ehesten etwas wie ein Habitus als Prägekraft innerhalb der Wissenschaft anschaulich; es handelt sich um jenen Ausschnitt der Fachgeschichte, die der 1936 geborene Verfasser seit seinem Studienbeginn 1953 selbst miterlebt hat. Rosenberg haftet dabei keineswegs am Anekdotischen und systematisiert die unterschiedlichen Haltungen nach sozialer Herkunft sowie historischer Entwicklung. Freilich gelingt ihm dies auf einem quantitativ sehr überschaubaren Gebiet; wenn das Buch, wie in der Einleitung angekündigt, eine erste Skizze für eine Untersuchung über den Habitus deutscher Geisteswissenschaftler ist, so werden später andere Verfahrensweisen nötig werden.

Der Akzent auf Faschismus und DDR birgt die Gefahr, dass eine plumpe Totalitarismustheorie zur Anwendung kommt. Rosenberg entgeht einer solchen Analogiebildung, indem er auch die Eigendynamik der Wissenschaft benennt. Wenn die DDR-Germanistik schließlich als diejenige dasteht, die im Vergleich zu der im „Dritten Reich“ geschlossener der Staatsideologie folgte, so zeigt dies keineswegs, dass die Kommunisten eben besonders üble Gesellen gewesen wären. Nur hatten sie erstens vierzig Jahre Zeit, eigenen Nachwuchs auszubilden und zu installieren. Zweitens hatten es die Nazis mit einer ohnehin nationalkonservativen Germanistik zu tun, aus der es beim bösesten Willen kaum Juden und Linken zu vertreiben gab – die hatten schon zuvor kaum Chancen. Die DDR hingegen, auch wenn in ihren ersten Jahren „bürgerliche“ Germanisten fortwirkten, hatte, solange die Mauer noch nicht stand, mit der Abwanderung von Intellektuellen zu kämpfen. Dies freilich bot für die Gebliebenen Karrierechancen.

Die meisten Germanisten, soweit nicht ohnehin Nazis, hatten auf die Ereignisse nach 1933 so opportunistisch reagiert wie auf den Einschnitt 1945. Die Kontinuität zumal in der Bundesrepublik hatte eine Haltung begünstigt, bei der Anpassung und Lernprozess nur schwer zu unterscheiden waren. Den DDR-Germanisten hingegen blieb die Chance zum Opportunismus nach 1989 meist verwehrt – sie wurden einer Evaluation durch West-Wissenschaftler unterworfen, die, vorhersehbar genug, meist mit einer freien Stelle für deren arbeitslose West-Schüler endete.

Insofern hat sich gesamtdeutsch ein Habitus durchgesetzt, wie er sich seit etwa 1970 in der Bundesrepublik auszubilden begann. Die Germanistik orientierte sich immer stärker an internationalen wissenschaftlichen Entwicklungen; nach Literatursoziologie und Strukturalismus wurden bald auch Dekonstruktivismus und cultural turn Bestandteil des Fachs. Vielleicht ist damit die Besonderheit des deutschen Germanistik-Professors erledigt und das Fach nur noch eines unter vielen national und international gleichartigen. Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, immerhin eines Zehntels der Fachgeschichte, bleibt in Rosenbergs Schlusskapitel gleichwohl vage. Ganz richtig ist die Rede davon, dass die Position des professoralen Organisators und Managers im Fach immer wichtiger wird. Der letzte, skeptische Absatz hat dann zum Thema, dass der seit vierzig Jahren im Westen etablierte Methodenpluralismus nicht mehr Freiheit bedeutet, sondern Anpassungsdruck an den je herrschenden turn.

Dass der Druck wie Freiheit erscheint – die Freiheit, der Mode zu folgen –, das könnte der Schlüssel zum aktuellen Habitus der Geisteswissenschaftler sein; oder doch der erfolgreichen unter ihnen. Die „totalitären“ Regimes des 20. Jahrhunderts haben – mal mehr, mal weniger gewollt – der Wissenschaft doch auch ein gewisses Maß an Eigenleben belassen. Erst der Markt des frühen 21. Jahrhunderts vernichtet wirklich totalitär die Wissenschaft, indem er methodisch die Anpassung an das jeweils neueste Neue erzwingt, indem er jeden einzelnen Wissenschaftler zum Verkäufer seiner selbst erniedrigt.

Rosenberg ist gegenüber solchen Zuständen merkwürdig unentschieden. Er deutet ihren Zwangscharakter an, aber sieht sie auch als Befreiung von früheren Zwängen. Damit aber entgleitet ihm eine heute zentrale Fragestellung. Der Habitus des Germanisten im internationalen Markttotalitarismus hat wenig mehr mit den politischen Scheuklappen und dem wissenschaftlichen Ethos seiner Vorgänger zu tun. Bei individuellem Wissenszuwachs, bei allen nun glücklicherweise etablierten zivilen Umgangsformen geht es am Ende doch nur um Verkäuflichkeit bei Drittmittelgebern, als dem wirksamsten Zwang.

Titelbild

Rainer Rosenberg: Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
172 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783895287466

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