stranded people

Fabrizio Gatti schreibt mit „Bilal“ ein Buch, das die Gründe und Mechanismen illegaler Migration von Afrika nach Europa aufdeckt

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich habe mich immer gefragt, was im Umfeld eines Menschen geschieht, wenn sein Geist sich entschließt aufzubrechen. Welches Ereignis, welcher Moment, welches Motiv führen Monate oder Jahre, bevor sich der Körper auf den Weg macht, zu der blitzartigen Einsicht, dass keine Alternative bleibt. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt und der Kopf stillschweigend seinen Weg geht. Plötzlich tauchen geheime, ehrgeizige Zielsetzungen auf, bereits getroffene Entscheidungen. Die Wende. Sich aufmachen oder unterliegen. Und zu unterliegen, bedeutet nicht notwendigerweise zu sterben. Es gibt Schlimmeres als den Tod. Es gibt ein Leben in Mühsal. Von Almosen leben, Lastwagen entladen oder Müll sortieren und für ein paar Cent verkaufen. Tag für Tag und Nacht für Nacht hören müssen, wie die eigenen kleinen Kinder vor Hunger weinen. Während die Reisenden, die Zeitungen, die Reporter der BBC einem Bilder von einer reichen und unerreichbaren Welt vor Augen führen. Das Eingeständnis des ganz persönlichen Versagens vor Freundinnen, Frauen und Vätern. Und vor dem eigenen Ehrgeiz.“

Mit diesen Worten zitiert Fabrizio Gatti einen berühmten afrikanischen Musiker, dessen Worte stellvertretend für viele andere Menschen nicht nur aus Afrika stehen, die in der Hoffnung, in Europa ein besseres, zufriedenes und sicheres Leben führen zu können, sich in Richtung dieses fremden Kontinents aufmachen. Der 1966 geborene italienische Journalist berichtet seit dem Beginn seiner Laufbahn über die Lebens- und Arbeitsbedingungen vom Immigranten in Italien und ist dafür bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Für ein Buchprojekt, das 2007 in Mailand unter dem Titel „Bilal. Viaggiare, lavorare, morire da clandestini“ erschienen ist, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, aus Italien hinauszugehen und illegale Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa zu begleiten. Seine große Reportage, die 2009 in einer Übersetzung von Friederike Hausmann und Rita Seuß auch auf Deutsch erschienen ist, gibt ein umfassendes Bild von den politischen, wirtschaftlichen, vor allem aber den sozialen Umständen im nördlichen Teil Afrikas, die viele Bewohner veranlasst, aus der Gegend der westlichen Sahelzone in Richtung Libyen zu fliehen, um von dort in das wohlhabende Europa zu gelangen.

Die Flucht der Menschen aus Afrika wird dabei im ersten Teil von „Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ dargestellt. Gatti fliegt dafür von Mailand nach Dakar in den Senegal. Von dort geht es mit dem Auto weiter über Bamako in Mali nach Niamey im Niger und schließlich bis in den Norden dieses Landes, in die Grenzregion zu Libyen. Unterwegs lernt Gatti aller Art Menschen kennen, Männer und Frauen, Akademiker und Ungelernte, vor allem aber junge Leute, die der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, der Arbeitslosigkeit, der Armut und dem Hunger, aber auch bewaffneten Konflikten zwischen Staaten sowie Bürgerkriegen und Putschen in ihren Heimatländern entfliehen möchten. Ihre Verzweiflung ist so groß, dass sie bereit sind, ihr bisheriges Leben, das heißt ihre Heimat, Sprache und Kultur aufzugeben, sich von ihren Familien zu trennen und für viel Geld nach Europa bringen zu lassen.

Gatti macht deutlich, dass das Geschäft der Schleuser mit den illegalen Migranten, den „stranded people“, die in den Nordosten des Niger kommen, um anschließend mit Last- und Geländewagen auf geheimen Pfaden nach Libyen transportiert zu werden, ein äußerst hartes und langwieriges ist. Dabei stellt diese Art Handel freilich nur einen Wirtschaftszweig neben anderen, noch größeren und äußerst lukrativen Unternehmungen dar. Dieselbe Route wie die Flüchtlinge nimmt beispielsweise auch der Drogen- beziehungsweise Kokainhandel, der seit den verschärften Kontrollen an der Südgrenze der USA einen großen Umweg von Lateinamerika über Afrika und Europa nach Nordamerika macht. Ferner herrscht ein regelrechter Sklavenhandel, bei dem insbesondere Frauen zur Prostitution gezwungen werden, bis sie das Geld für ihre Fahrt in Richtung Libyen zusammenhaben. Waffen und Zigaretten sind ebenfalls beliebte Waren, die über die Wüstenpisten zwischen der Sahelzone und dem Mittelmeer geschmuggelt werden.

Dass die Illegalen nach ihrer Reise durch die Wüste unversehrt nach Europa kommen, ist, das stellt Gatti ebenfalls ausführlich dar, nicht immer der Fall. Denjenigen, die es bis ans Mittelmeer schaffen, muss noch die gefährliche Überfahrt nach Lampedusa, der kleinen, auf dem Weg nach Sizilien liegenden Insel gelingen. Kritik übt der italienische Journalist in diesem Zusammenhang zum einen an den Lebensbedingungen dort, die gegen die Menschenrechte verstoßen würden, zum anderen an den Zensurmaßnahmen, die eine kritische Berichterstattung unmöglich machten, und zum dritten an den Abkommen, die der italienische Staat mit der Regierung vom Muhammed Ghaddafi geschlossen hat, die nun wieder Öl- und Gasverträge aus EU-Staaten bekäme, um im Gegenzug die Ausreise von illegalen Migranten nach Europa zu verhindern.

Im zweiten Teil seines Buchs konzentriert sich Gatti stärker auf Lampedusa als dem Eingangs- und Ausgangstor der Europäischen Union. Er erzählt, wie er sich in den kurdischen Flüchtling Bilal verwandelt, um die Erfahrung der Internierungslager auf Lampedusa am eigenen Leibe zu machen. Eine schlechte Behandlung der Insassen durch einen Großteil der Wachmannschaften sowie mangelnde hygienische Verhältnisse im Lager gehörten genauso zum Alltag auf der Insel wie die Tatsache, dass die Illegalen trotz aller Diskriminierung und Abschiebung gerade in Italien als billige Arbeitskräfte gesucht würden. Gatti zitiert einen Flüchtling: „Wenn wir nicht auf See umkommen würden, würde ein Teil von uns von Lampedusa aus nach Libyen abgeschoben, der andere Teil nach Italien gebracht und dann mit einem Ausweisungsbescheid freigelassen. Wenn du erst mal in Italien bist, zerreißt du den Bescheid und machst das, was ich mache: Schwarzarbeit. Alle, die den Sprung nach Europa wagen, hoffen, dass sie diese Chance bekommen. Ihr Italiener beschäftigt Schwarzarbeiter, um Steuern zu sparen. Maurer, Maler, […], Pflegekräfte, Kellner, Hilfsarbeiter. Das ist der Motor der illegalen Einwanderung.“

Gatti gelingt es mit „Bilal“ eine Reportage zu schreiben, die dem Leser unter die Haut geht, weil sie ihm die Lebenswirklichkeit afrikanischer Flüchtlinge vor dem Aufbruch in der Heimat, während der Reise und schließlich nach der Ankunft in Europa sehr nahe bringt. Durch seine Fähigkeit, das Erlebte plastisch wiederzugeben, hat man das Gefühl, mit auf eine Reise zu fahren, die freilich für die betroffenen Menschen in der Sahelzone, in Libyen und auf Lampedusa lebensgefährlich ist. Der italienische Journalist zeigt jedoch nicht nur die Leiden und Schrecken, die den Migranten auf ihrer Odyssee widerfahren, er deckt auch die, für die meisten Leser möglicherweise bisher unbekannten, Handelsbeziehungen mit ihren diversen Warenströmen zwischen Afrika und Europa auf und weist auch daraufhin, wer von dem modernen Menschenhandel auf beiden Kontinenten besonders profitiert. „Bilal“ ist, zusammengefasst, in seiner Art eine Mischung aus Reisebericht, Thriller und Aufklärungsschrift, sein Autor gewissermaßen Sprecher einer großen Gruppe von Menschen, die in Afrika und Europa ansonsten keine Stimme haben oder nur sehr selten wahrgenommen und angehört werden: „Unsere einzige Chance auf Rettung besteht darin, dass ihr erfährt, was hier geschieht.“

Titelbild

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.
Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß.
Verlag Antje Kunstmann, München 2009.
457 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975875

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