Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit

Antonio Dal Masettos Schlüsselroman „Als wärs ein fremdes Land“ zum Themas Migration

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jahren zeichnet sich der Züricher Rotpunktverlag unter anderem dadurch aus, dass er nach und nach die Werke des argentinischen Schriftstellers Antonio Dal Masetto einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht und damit nicht nur zum Schaffen eines der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller, sondern auch Bücher von großer poetischer und sprachlicher Kraft vorstellt. Waren „Noch eine Nacht“ und „Blut und Spiele“ eine Einheit, die beide in der argentinischen Kleinstadt Bosque spielten, folgte mit „Unten sind ein paar Typen“ ein klassischer Kriminalroman, den Dal Masetto um das WM-Finalspiel 1978 zwischen Holland und Argentinien ansiedelte, mitten in der brutalen Militärdiktatur.

Im 2008 erschienen Roman „Als wäre alles erst gestern gewesen“ begann er mit der literarischen Aufarbeitung der Geschichte seiner Familie. Damals ließ er die 80-jährige Agata zurückblicken auf die Zeit in ihrer Heimat, auf die Zeit, bevor sie mit ihrer Familie von einer kleinen italienischen Stadt am Lago Maggiore nach Argentinien aufbrach. Mit großem erzählerischem Pathos ließ Dal Masetto Agata, die seine Mutter sein könnte, vom italienischen Faschismus berichten, den sie immer stärker und kritischer wahrnimmt. Er lässt vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte einer jungen Frau das Bild einer ganzen Region und einer ganzen Epoche Italiens entstehen, Agata wandert, so wie Dal Masettos eigene Mutter, nach Argentinien aus und lässt dennoch nie die innere Verbindung zu ihrem Heimatland abreißen.

Der vorliegende Roman „Als wärs ein fremdes Land“ liest sich wie eine Fortsetzung des eben erwähnten Buches. Wieder ist Agata die Hauptperson, die Ende der 1990er-Jahre beschließt, noch einmal in ihre alte Heimat am Lago Maggiore zurückzukehren und dieses Vorhaben auch gegen alle Bedenken ihrer Kinder und Enkel durchsetzt. Jahrelang hat sie geträumt davon, noch einmal die Orte ihrer Kindheit und Jugend zu sehen, vielleicht noch mit dem einen oder anderen ehemaligen Bekannten zu sprechen, der noch lebt, und sie hat lange darauf gespart.

Sie setzt sich in den Flieger, landet in Rom, macht dort erste Erfahrungen in einem von Nonnen geführten Übernachtungsheim, bevor sie dann nach einigen Tagen mit dem Zug in ihre ehemalige Heimat fährt. Vieles von dem, was sie einst verlassen hat, ist immer noch vorhanden, anderes ist komplett verschwunden, das meiste ist kaum wieder zu erkennen. Agata versucht, stellenweise regelrecht verzweifelt, das, was ihre Welt war, wieder zu gewinnen, sie versucht permanent, das, was sie sieht, hört und erlebt, mit ihrer Erinnerung in Einklang zu bringen. Anstrengend ist das und oft sitzt sie abends traurig da, weil sie es wieder nicht geschafft hat, das zu finden, was sie doch so sehnsüchtig erwartet hatte.

Ihre gleichaltrige ehemalige Freundin Carla ist ihr bei ihrer Suche keine große Hilfe: „Andere Zeiten“, sagt sie lapidar. „Es war eine andere Welt. Die jungen Leute heutzutage haben keine Vorstellung, sie können das nicht verstehen. Das Leben war hart, man musste große Opfer bringen.“

Doch das weiß Agata selbst, und so lässt sie sich mit jedem Tag und jedem gemeinsam unternommenen Ausflug mehr berühren von der Person und dem Leben der jungen Silvana, der Enkelin Carlas. Aufopfernd ist sie bereit, geduldig mit Agata all die Stellen aufzusuchen, die sie sehen will und wo sie hofft, das wieder zu finden, was sie nicht beschreiben kann. Die junge und die alte Frau nehmen ehrlichen Anteil am Leben der jeweils anderen und es entsteht schnell eine außergewöhnliche Freundschaft, in der beide Frauen viel voneinander lernen – und der berührte Leser von beiden.

Was daherkommt wie die Suche Agatas nach ihrer Vergangenheit, ist tatsächlich Dal Masettos Versuch, vom gegenwärtigen Italien ein schonungsloses Bild zu zeichnen, mit seiner Korruption und seinem Umgang mit den Fremden im Land. Im Fernsehen sieht Agata in den Nachrichten, dass es in Deutschland nicht besser ist. Sie sieht Bilder eines Trauerzugs aus Mölln, wo Neonazis ein von Türken bewohntes Haus angezündet und drei Frauen und Mädchen getötet hatten. Und Dal Masetto lässt (von Argentinien aus!) den Fernsehsprecher über zwei Seiten die Orte und Namen aller fremdenfeindlichen Attentate und Morde von Skinheads und Neonazis in Deutschland aufzählen. Agata erinnert sich an die Kämpfe der Partisanen gegen die Nazis und will immer wieder zusammen mit Silvana Gedenksteine aufsuchen in der Region, wo den tapferen Kämpfern gedacht wird.

Dal Masetto hat nicht nur einen Roman geschrieben, in dem er sich seiner eigenen Geschichte annähert, sondern sein Buch ist ein Schlüsselroman zum Thema Migration. Eingebunden in eine liebevoll beschriebene Gesichte der tiefen Freundschaft einer alten und einer jungen Frau strahlt das Buch eine große Zuversicht aus. Indem es ihm gelingt, in den Schilderungen der Erfahrungen Agatas sowohl Neugier und Interesse, als auch Distanziertheit zu verbinden, ist ihm ein Buch gelungen, das eine einzige Teilnahme ist am Schicksal von Migranten, heute und früher. Ein Buch, das dem heutigen Italien schonungslos den Spiegel vorhält.

Titelbild

Antonio Dal Masetto: Als wärs ein fremdes Land. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Susanna Mende.
Rotpunktverlag, Zürich 2010.
292 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783858694140

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