Wenn die Lichter ausgehen

Robert Åsbackas Roman „Das zerbrechliche Leben“ handelt vom Untergang der Estonia

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman „Das zerbrechliche Leben“ ist das siebte Buch des finnlandschwedischen Autors Robert Åsbacka. Aber es ist das erste, das auf Deutsch erschienen ist. Übersetzt wurde es von Verena Reichel, die eine gute Übersetzerin aus dem Schwedischen ist. Gelegentlich vorkommende Skandinavismen hätte ein aufmerksames Lektorat vermeiden können.

Der heute westlich von Stockholm wohnende Autor ist gelernter Literaturwissenschaftler, der als literarische Vorbilder neben finnischen Autoren Samuel Beckett nennt. Sein nun im Hanser Verlag herausgekommener Roman war für den bedeutenden Nordischen Literaturpreis nominiert, und kreist um ein Trauma der skandinavischen Länder: den Untergang des Fährschiffs Estonia am 28. September 1994, bei dem 852 Menschen ums Leben kamen. Robert Åsbacka hat in den 1980er-Jahren auf dem Schiff gearbeitet.

Man kann den Roman als eine zarte, bedächtige Geschichte über einen alten Mann lesen, dessen Frau Siri beim Untergang der Estonia 1994 ums Leben gekommen ist. So gesehen ist „Das zerbrechliche Leben“ eine Art Liebesroman. Vordergründig aber ist es die Geschichte des fast 80-jährigen Thomasson, der bei einem seiner morgendlichen Spaziergänge einem Jungen hilft, der von Mitschülern gehänselt wird. An einer abschüssigen Stelle verstaucht er sich den Fuß und wird so aus seinem selbstgesponnen Kokon gerissen, weil er nun Hilfe braucht. Die bekommt er von einer Nachbarin, die Krankenschwester ist, und vor allen von der jungen Kunststudentin Agnes. Ganz vorsichtig und behutsam entwickelt sich außerdem ein Verhältnis Thomassons zu dem Jungen, dem er geholfen hat. Er ist der Sohn der Familie, die in das Haus gezogen ist, in dem Siri und Thomasson früher gewohnt haben. Durch den erzwungenen Kontakt zur Außenwelt eröffnet sich auch für den Leser die Gedankenwelt des Alten. Denn Thomasson hat die Kirchenorgel, an der seine Frau als Kantorin gespielt hatte, in seinem Wohnzimmer nachgebaut. Der Originaltitel des Romans lautet übrigens „Der Orgelbauer“. Warum, fragt ihn die Kunststudentin Agnes: „Er konnte ja nicht sagen, das er es tat, damit Siri etwas hätte, um darauf zu spielen, an dem Tag, an dem sie wieder heimkehrte. Er wusste, dass sie nicht heimkehren würde. Trotzdem hatte er die Orgel aus diesem Grund gebaut.“

Er kann einfach nicht glauben, dass sie tot ist. Denn sowohl Siri als auch die vielen anderen Toten haben kein Grab, keinen Ort, an dem die Hinterbliebenen trauern können. Die Toten bleiben in dem schnell gesunkenen Schiff eingeschlossen.

Immer wieder kommen die Gedanken von Thomasson, dieses ungläubigen Thomas’, zurück auf die letzten Minuten der Estonia, auf der Thomasson viele Jahre als Lagerleiter gearbeitet hat. Er versucht zu rekonstruieren, wie das Unglück abgelaufen sein könnte. Welche Fluchtmöglichkeiten seine Frau Siri gehabt haben könnte. Es ist ein Zwang, sich das Ende seiner Frau zu imaginieren, auch weil zwischen ihnen noch etwas unklar war. Thomasson hatte ein Verhältnis zu einer Kollegin an Bord, worüber er mit seiner Frau Siri noch nicht im Reinen war. Das nagt an seinem Gewissen. Und auch, dass er seine Frau auf dieser Reise zufällig nicht begleitet hat: „An Bord der Estonia würden alle Lichter ausgehen, wenn die Schlagseite so stark wurde, dass die Maschinen stoppten. Die Lampen blinkten auf und es wurde dunkel, Panik breitete sich aus, bis der Notdiesel am Schornsteinfuß ansprang und das Licht zurückkam, schwächer und nur an strategischen Orten. Aber mit dem Licht kam doch ein Hoffnungsschimmer. Zum letzten Mal, und definitiv, erloschen die Lichter, als das Schiff beinahe auf der Seite lag. Danach gab es nur die Schreie, das Geräusch von strömendem Wasser und Dunkelheit.“

Es ist nachgerade erschütternd zu verfolgen, wie Thomasson die minimalen Chancen seiner Frau auf Rettung gedanklich durchspielt, sich die Fluchtwege ausmalt und immer wieder erkennen muss, dass es wirklich keine Rettung für sie geben konnte. Das alles ist faszinierend und auf unspektakuläre Weise spannend zu lesen.

Als der alte Thomasson endlich nach Wochen wieder ohne Krücken laufen kann, wird er auf seinem ersten Abendspaziergang von einem Politiker mit dem Auto angefahren und schwer verletzt. Spätestens dann wird – auch anhand seiner Verletzungen – deutlich, es ist das menschliche Leiden, die Passion, die Åsbacka hier erzählt – und zwar genau nach Dietrich Buxtehudes Passionsmusik „Membra Jesu nostri“, die Musik die die Organistin Siri Thomasson so gern gespielt hat: Diese frühbarocke Passionsmusik ist eine Betrachtung Jesu am Kreuz, von den Füßen über Knie, Seite, Brust, Herz bis zum Gesicht. Genau so ist auch der Roman aufgebaut, die Kapitel entsprechen den betrachteten Körperteilen ganz so wie in der Passionsmusik.

„Das zerbrechliche Leben“ von Åsbacka ist ein ruhiger, spannender und ganz unprätentiöser Roman – der sich jedoch darin nicht erschöpft, sondern regelrecht einen sinnlich-intellektuellen Extrabonus (wie man das heute sagen könnte) bietet. Wenn Roman und Passionsmusik beim Gesicht angekommen sind, stirbt Jesus, und auch Thomasson stirbt ganz ruhig und mit sich im Reinen – und das ausgerechnet bei einer Aufführung von Samuel Becketts „Glücklichen Tagen“. Denn Åsbackas Roman ist auch eine Reflexion und Ausmalung von Becketts Theaterstück, das die Absurdität des menschlichen Lebens so zwingend vorführt. Mit „Das zerbrechliche Leben“ ist Åsbacka ein großartiges Buch gelungen, das zugleich höchst kunstvoll und fessselnd ist – eine Verbindung, die es nicht oft gibt.

Titelbild

Robert Asbacka: Das zerbrechliche Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
312 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234864

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