Ein Kuss und seine Folgen

Louise de Vilmorins Roman „Julietta“ zerstreut die Befürchtung, es könne sich um nichts als Kitsch handeln

Von Frauke SchlieckauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Schlieckau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1902 geborene Autorin Louise de Vilmorin entstammte einer Familie des französischen Hochadels, was ihr erlaubte, im Stammhaus ihrer Familie führende Künstler ihrer Zeit zu versammeln. Sie war mit Jean Cocteau genauso befreundet wie mit Antoine de Saint-Exupéry, ihr Roman „Madame de…“, wurde von Max Ophüls verfilmt.

Kürzlich wurde ihr 1951 erschienener Roman „Julietta“ im Schweizer Dörlemann Verlag wieder aufgelegt. Nicht nur der Titel, sondern auch die Handlung des Buchs klingt auf den ersten Blick zugegebenermaßen, so als würde eine große Portion Kitsch auf den Leser warten. Am Strand von Arcachon trifft die achtzehnjährige Julietta bei einem Spaziergang auf den fünfzigjährigen Hector Prinz von Alpen, der sich nicht nur sofort in sie verliebt, sondern ihr zudem umgehend einen Heiratsantrag macht. Julietta, die das Gefühl des Begehrtwerdens mit Liebe verwechselt, stimmt zu, seine Frau zu werden. Als der Prinz sie wenig später zum ersten Mal küsst, wird dem Mädchen jedoch klar, einen großen Fehler begangen zu haben, denn der Kuss lässt Julietta völlig kalt.

Das liegt vor allem daran, dass sie nicht in Hector, sondern nur in eine Vorstellung verliebt ist, die sie sich von ihrem Leben an seiner Seite macht. Der kühle Kuss aber, der nichts in Julietta berührt, der nichts in ihr zum Schwingen bringt, fungiert im positiven wie im negativen als Gradmesser für das tatsächlich vorhandene Ausmaß der Zuneigung. Louise de Vilmorin setzt ihn als Schlüssel ein, am Kuss kann – unabhängig davon ob sich die Küssenden das nun eingestehen möchten oder nicht – das wahre Ausmaß ihrer Gefühle abgelesen werden. In Juliettas Fall ist es vor allem ihre Mutter, die, obwohl Julietta immer deutlicher erkennt, dass der Prinz nicht der Richtige für sie ist, der Tochter weiterhin ins Gewissen und zu der Heirat mit dem älteren Mann rät.

„Brauchst deinen Verlobten doch nur zu bitten, dich nicht zu küssen. Lass Dir eine Ausrede einfallen. Sag ihm, dass du von Küssen Ausschlag bekommst, es gibt solche Fälle. Sonst überwindest Du dich eben. Glaub mir, in der Ehe hat es sich bald ausgeküßt“ predigt sie Julietta, bevor beide ihr Feriendomizil verlassen, um nach Paris zurückzukehren, wo Hector sie bereits sehnsüchtig erwartet.

Statt aber in die französische Hauptstadt zu fahren, bleibt Julietta bei einem Zwischenstop auf einem kleinen Bahnhof im Nirgendwo zurück, wo sie der junge Anwalt André Landrecourt aufsammelt und in seinem Landhaus unterbringt, das er selbst am nächsten Morgen aber wieder verlassen muss, um zu seiner Verlobten zu reisen. Julietta verbleibt, anstatt wie vereinbart ebenfalls abzureisen, heimlich auf Landrecourts Anwesen, wo sie sich häuslich niederlässt und sich nach und in den einzelnen Räumen Besitz einrichtet. Als André mit seiner schönen Verlobten Rosie zurückkehrt, verbannt er, damit diese nichts bemerkt, Julietta auf den Dachboden. Julietta allerdings denkt überhaupt nicht daran, sich einsperren zu lassen, sondern streunt immer wieder heimlich durchs Haus. Und auch André schafft es, so sehr er sich auch bemüht, sich auf Rosie zu konzentrieren, nicht, das Mädchen zu vergessen, dass sich in sein Leben geschlichen hat und sich nun hartnäckig weigert, dieses wieder zu verlassen.

Fast scheint es André, als habe sich diese Person, die ihm doch – so dachte er zumindest – eigentlich gleichgültig ist, unmerklich in seinem Kopf eingenistet. Als dann auch noch der Prinz von Alpen erscheint, um Landrecourts Verlobte Rosie Facibey zu besuchen, mit der er seit Jahren eng befreundet ist, müssen alle Beteiligten lernen, zwischen den Vorstellungen, die sie sich von Liebe gemacht haben und dem, was Liebe in der Realität ist und wie sich diese tatsächlich anfühlt zu unterscheiden.

Das Buch, das statt der befürchteten romantischen Schmonzette erfreulicherweise eine Mischung aus Liebesroman und Gesellschaftskomödie ist und für das der Autorin deutlich erkennbar Jane Austen als Vorbild diente, entpuppt sich dann auch zumindest bis zum letzten Drittel als überraschend temporeich und humorvoll. Es lässt zwischen der rüschig-romantischen Handlung immer wieder etwas vom Duktus der neuen Sachlichkeit aufblitzen, die in den 1920er-Jahren in Mode kam und mit Begriffen wie Sportlichkeit, Wettkampf und Kameradschaft das romantische Liebesverständnis, von dem die meisten Romane bis dato geprägt waren, torpedierte. Dem Leser wird somit mit „Julietta“ ein gut konstruierter Unterhaltungsroman im lockeren Plauderton geboten, dessen 285 Seiten sich – vorausgesetzt, man mag Romane im Stil Jane Austens – gut am Stück lesen lassen.

Titelbild

Louise de Vilmorin: Julietta. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky.
Dörlemann Verlag, Zürich 2010.
284 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783908777533

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