Hilflose Wissenschaft?

Leidiges Thema Plagiate: Volker Rieble schreibt über das Versagen der Wissenschaftsmoral

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom verderblichen Wirken des Plagiats ist immer wieder die Rede, in der Literatur zuletzt erst im Fall Helene Hegemanns, die Teile ihres Romans – bedeutende, selbstverständlich – aus einem Blog geklaut haben soll, und in der Popmusik im Fall des Hip-Hopers Bushido, der sich die Melodien anderer Musiker angeeignet haben soll und dessen Platten deshalb nun eingestampft werden müssen. Nun sind solche Vorwürfe keine Neuheit – Bertolt Brechts Laxheit etwa ist unter Literaten bekannt genug. In der Wissenschaft nun ist der Kampf ums echte Werk freilich nicht unbedingt anders gelagert, vielleicht aber deutlich ernsthafter zu betreiben.

Das beginnt schon bei Studienarbeiten, die aus dem Netz abgeschrieben werden, geht über Dissertationen, die abgekupfert werden, und endet bei Publikationen, die Professoren von ihren Assistenten fertigen lassen. Der Begriff des Plagiats selbst ist dabei im Allgemeinen nicht unbedingt scharf gefasst. Rieble macht sich also an eine juristisch einigermaßen tragfähige Abgrenzung: Abschreiben ohne Nennen des eigentlichen Autors wird ebenso als Plagiat verstanden wie die oberflächliche Paraphrasierung, die den benutzten Text nicht ausreichend kenntlich gemacht. Schließlich gehört auch die Aneignung fremder Ideen (Ideenklau) dazu, also die Aneignung einer Überlegung, eines Arguments, einer These oder einer Theorie, ohne dass deren Urheber genannt würden. Sogar die Mehrfachverwendung eines Textes durch denselben Autor fasst Volker Rieble als Plagiat, zumindest dann, wenn nicht ausdrücklich auf diese Mehrfachverwendung aufmerksam gemacht wird. Kollektiv verfasste Texte, die anonym bleiben, genügen seiner Meinung nach gleichfalls nicht wissenschaftlichen Ansprüchen, denn, so Rieble, eine wissenschaftliche Arbeit müsse einem eindeutig benannten Verfasser zuzuordnen sein. Arbeit und Autor werden also unbedingt individualisiert: Derjenige, der einen Text zeichnet, soll ihn also auch geschrieben haben. Die Beiträge anderer müssen ausreichend gekennzeichnet sein.

Zu dieser Position kommt Rieble über einen bedenkenswerten Weg, nämlich über den des Rezipienten. Der nämlich gehe von der Originalität des Gelesenen und von der Identität des Zeichners mit dem Verfasser des Textes aus. Werde dieses Urhebervertrauen des Lesers enttäuscht, leide der Gesamtzusammenhang der Wissensproduktion und -distribution. Wenn ich nicht mehr davon ausgehen kann, dass derjenige, dessen Name über einem Text steht, dessen Verfasser ist, dann kann ich auch nicht mehr auf die Belastbarkeit des Textes setzen. Und wenn ich zudem nicht davon ausgehen kann, dass der Text, den ich lese, untrennbar mit dem Publikationsort verbunden ist, wird der Autor-Leser-Pakt, wie man Riebles Denkform nennen könnte, gleichfalls gebrochen. Nicht also die Verletzung des Urheberrechts, sondern der Vertrauensbruch gegenüber dem Leser ist Riebles Argument.

Nun wird man die negativen Auswirkungen des Plagiats nicht bagatellisieren können: Sich Texte anderer anzueignen, ohne sie als Urheber zu nennen, ist ein eklatanter Verstoß gegen das Recht des Urhebers, dass seine Arbeit angemessen gewürdigt und entlohnt wird. Insbesondere in den Fällen, in denen der Plagiator Geld mit seinem Treiben verdient, hört der Spaß auf. Aber auch dann, wenn der Textdieb sich eine Position oder Qualifikation erschleicht, sollten Konsequenzen gezogen werden. Und am besten ist es, wenn solchen Verstößen eine klare Absage erteilt wird. Soweit der Konsens.

Allerdings ist die Situation bei genauem Hinsehn längst nicht so klar und eindeutig, wie man sie gern auch aus rechtlicher Sicht hätte. Und das hat eben auch mit Riebles Ansatz zu tun: Denn der Autor-Leser-Pakt ist – wenn er denn besteht – nur als informelle Prämisse denkbar, greift zudem – was Rieble aber selber sieht – in der Wissenschaft deutlich stärker als etwa in der Politik oder Publizistik. Politikerreden sind nun mal von den Referenten geschrieben – wenngleich dem Auftraggeber auf den Leib: In der Wissenschaft ist dies hingegen mindestens ein Verstoß gegen die guten Sitten, der freilich eine lange Tradition hat. Mit anderen Worten: Wer als Wissenschaftler heute auf sich hält, wird immer die Mit- und Zuarbeit anderer angemessen würdigen – in der Vergangenheit war das allerdings anders Usus. Auch wird ein ernstzunehmender Wissenschaftler keinesfalls einen Mitarbeiter bloßstellen, dessen Arbeit er gezeichnet hat (was schon gegen das ernst nehmen spricht), auch wenn die sich wiederum als abgekupfert erweist. Aber mehrfach schlechter Stil wird bis heute nicht wirklich bestraft. Soweit, so schlecht.

Wie aber steht es mit mehrfach verwendeten Texten eines Autors? Riebles Ansatz hält das spätestens dann für illegitim, wenn der Ursprungstext nicht mehr erkennbar wird. Dem steht allerdings entgegen, dass Vorarbeiten welcher Art auch immer notwendig in größere Zusammenhänge einfließen können oder von dort wieder in Handbüchern wiederverwertet werden. Dagegen zu halten, dass ein Käufer all dieser Werke am Ende nur ein- und denselben Inhalt, vielleicht nur notdürftig neu aufgemischt erworben hat, greift nicht. Aufsätze, Monografien oder Handbücher haben unterschiedliche Verwendungsbereiche, und dabei sind Überschneidungen (bis hin zu direkten Textübernahmen) nicht nur zwangsläufig, sondern auch sinnvoll. Gerade die Leserperspektive macht dies plausibel.

Problematisch wird es hingegen bei Werken, die durch mehrere Hände gehen: Die Leistung des Ursprungsverfassers muss ebenso gewürdigt werden wie die der Bearbeiter, was in der Regel dazu führt, dass sie allesamt auf dem Titelblatt geführt werden müssen. Die Bearbeitungsstufen jedoch werden nicht mehr kennzeichenbar sein, damit der Text überhaupt noch benutzbar wird. Allerdings sind solche Regelungen Sache des Verlagsvertrags und damit in die Hände der Vertragspartner gelegt. Den Leser treffen solche Textmodifikationen nicht, wenn er denn davon ausgeht, dass er eine bearbeitete Fassung des benutzten Textes vor sich hat, nicht den Originaltext (unabhängig davon, ob Bearbeitungen gekennzeichnet worden sind oder Bearbeiter genannt sind).

Anders hingegen bei den Paraphrasierungen anderer Texte, die in der wissenschaftlichen Praxis gang und gäbe sind. Gerade dann, wenn Sachzusammenhänge referiert werden, die in einem Referenztext aufgearbeitet worden sind, greifen Autoren in der Regel zu einer Mischung aus Paraphrase und Zitat, wobei es bei Abschlussarbeiten und Dissertationen Usus ist, die Quellen des benutzten Textes selbst aufzusuchen und direkt zu nutzen (womit eigentlich die Nutzungsquote verdeckt wird). Die Nutzung des paraphrasierten Textes wird in der Regel durch einen Generalverweis nachgewiesen („Im Weiteren nach Name“ oder „In den folgenden Abschnitten beziehe ich mich auf Name“). Nach Rieble wäre das zustimmungspflichtig, die Verweispraxis selber hält er für den untauglichen Versuch, die mangelnde Eigenleistung zu verdecken.

Freilich kommt es auch hier darauf an – und die Lösung kann in keinem Fall darin bestehen, die Paraphrase zustimmungspflichtig zu machen. Zum einen würde damit jeder Autor überfordert, man stelle sich nur vor, Jacques Lacan oder Michel Foucault hätten jeder Paraphrase ihrer Überlegungen zustimmen müssen. Zum anderen würde das zu dem merkwürdigen Phänomen führen, dass sich der Urheber seine Verarbeiter aussuchen dürfte, was mit wissenschaftlicher Freiheit nichts zu tun hat. Schlimm genug, dass Literaturarchive heute mit Verweis aufs Nutzungs- und Urheberrecht den Zugang und die Zitierung (nicht den Nachdruck) von nachgelassenen literarischen Schriften limitieren und steuern wollen.

Schließlich die berühmte Praxis des Copy and Paste: Dass das Internet heute zu den wichtigsten Recherchequellen geworden ist, beinahe unabhängig vom Fach, ist unbestritten. Dass es zudem Materialien zur Verfügung stellt, die einfach nur kopiert und in andere Arbeitszusammenhänge eingefügt werden können (Seminararbeiten, Thesenpapiert etc.), bestreitet auch niemand. Dass diese Praxis von Lehrenden selten erkannt und vom System eher belohnt als bestraft wird, ist zudem festzuhalten. Wer eine gute Papierform bietet, wird auch mit guten Noten belohnt.

Die Frage ist aber damit noch nicht beantwortet, in welchem Umfang dies Praxis ist. Der Generalverweis, den Rieble gelegentlich macht, ist kaum tauglich. Kein Zweifel, Studenten (wie Journalisten, Texter und auch gestandene Wissenschaftler) machen sowas, aber wie oft und in welchem Umfang? Wer weiß das? Die Zahlen jedenfalls, die genannt werden, sind vage. Die Beispiele, die gefunden werden, sind für die Betroffenen blamabel (Professoren seien als Plagiatoren Dilettanten, mein Rieble zurecht), aber lassen sie sich als Phänomen verallgemeinern?

Der veränderte Zeit- und Qualifikationsdruck im BA und MA begünstigt allerdings solche Praktiken auf Studierendenebene, führt aber vor allem zu der grundsätzlichen Unsicherheit, wie wissenschaftliche Hausarbeiten zu verfassen sind und wie insbesondere dabei Quellen zu qualifizieren sind. Dass Wikipedia-Einträge etwa wertvolle Informationsquellen darstellen, ist nicht zu bemängeln. Dass sie freilich den Charakter von Konversationslexika haben und dass solche Quellen in den meisten Fällen nicht zitierfähig sind (es sei denn, der darin erkennbare Common Sense ist Thema), dieses Bewusstsein geht den Studierenden deshalb verloren, weil sie von den Lehrenden nicht angemessen ausgebildet werden. Nicht zitierfähig heißt aber vor allem: Wikipedia-Einträge dienen der Vorinformation, nicht das sachlich fundierten Reflexion. Dazu muss die Fachliteratur benutzt werden.

Unsicherheiten dieser Art reichen eben auch bis in das Verfassen, in die Struktur und die Sprache und die Quellenbehandlung von wissenschaftlichen Übungsarbeiten – womit wir schnell bei der Schelte von Kolleginnen und Kollegen wären, die Hausarbeiten nur noch bewerten, aber nicht mehr besprechen (was alte und neue Studiengänge leider allzu häufig verbindet).

Auch die Problematik des Open-Access, die Rieble aufgreift, weist in eine ähnliche Richtung: Wer Wissenschaftler dazu zwingen will, ihre Texte offen ins Netz zu und zur Verfügung zu stellen, befördert in seiner Perspektive vor allem die illegitime, wenn nicht illegale Aneignung fremden Gedankenguts. Dass öffentlich bezahlte Projekte allerdings auch öffentlich und kostenfrei zugänglich sein sollten, bleibt davon unberührt (und das meint nicht die Gehälter der Hochschullehrer). Je nach Perspektive wechselt auch der Gegenstand seine Eigenschaften, wie es aussieht. Und die Diskussion endet nicht.

Aufschlussreich ist nun, dass Rieble weniger auf die strafrechtliche Verfolgung setzt. Nur dort, wo das Urheberrecht verletzt wird, können solche Sanktionen auch nur greifen. Denkbar wären noch dienstrechtliche Sanktionen, die aber bei freien Autoren nicht greifen.

Die Selbstverpflichtungen der Wissenschaftsinstitutionen wie der DFG hält Rieble für untauglich, zumindest solange die Universitäten die ertappten Plagiatoren nicht für ihr Fehlverhalten abstrafen, etwa durch Aberkennung der Qualifikationen, die dadurch erworben wurden. Auch den Widerspruch zwischen der Förderung von Open Access und der zahnlosen Selbstverpflichtungspolitik ist für Rieble nicht hilfreich.

Dennoch setzt er mehr auf Öffentlichkeit und Diskussion – und damit meint er die jeweilige Fachöffentlichkeit – als auf rechtliche Maßnahmen. Wer als Wissenschaftler agiert, steht mit seinem Namen für seine Arbeiten in der Fachöffentlichkeit ein. Das bedeutet, dass er dann auch aushalten muss, wenn er attackiert wird, fachlich und auch unsachlich. Man müsse als Wissenschaftler eben auch Verdächtigungen aushalten, die erst später entkräftet werden können. Wissenschaft sei gefährlich für ihre Betreiber, schließt er seine schmale Schrift, wie wohl Öffentlichkeit überhaupt.

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Volker Rieble: Das Wissenschaftsplagiat. Vom Versagen eines Systems.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2010.
120 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783465041016

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