Lebens-Abriss

Zur Neuauflage des Tagebuchs „Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945“ der deutsch-jüdischen Ärztin Hertha Nathorff

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„30. Januar 1933. Hitler – Reichskanzler. Alle Leute sind erfüllt davon, meine Patienten reden von nichts anderem. Viele sind erfüllt von Freude, viele machen besorgte Gesichter. Einig sind sich alle in den Worten: ,Nun wird es anders‘. Ich aber, feinhörig wie ich bin, ich höre, wie sie an ihn glauben, glauben wollen, bereit, ihm zu dienen und mir ist, als hörte ich ein Blatt der Weltgeschichte umwenden, ein Blatt in einem Buche, dessen folgende Seiten mit wüstem und wirrem, unheilvollem Gekritzel beschrieben sein werden.“

Feinhörig, beinahe wie eine Seismografie ihrer Zeit erscheinen die Aufzeichnungen der Ärztin Hertha Nathorff, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 einsetzen und mit der Kapitulation Japans im August 1945 enden. Das erstmals 1987 von dem Historiker Wolfgang Benz herausgegebene und von ihm mit einer ausführlichen Einleitung und einem Nachwort versehene Tagebuch ist 2009 noch zusätzlich mit einem Nachruf neu aufgelegt und so wieder einem größeren Lesepublikum zugänglich gemacht worden. Dabei handelt es sich, wie der Herausgeber in seiner Einführung anmerkt, freilich um kein Tagebuch im strengen Sinne, sondern um eine Anfang 1940 rekonstruierte, an etlichen Stellen wohl auch verdichtete Version des Originals, das bei der Flucht aus Deutschland zum großen Teil verloren gegangen sei. Schließlich macht der Historiker noch darauf aufmerksam, dass es ursprünglich die Absicht der Autorin gewesen sei, ihre Erinnerungen zu schreiben, doch hätten die Kräfte der Ärztin in ihren späteren Lebensjahren dazu nicht mehr ausgereicht.

Lediglich ein kleines Stück davon sei verwirklicht worden. Der Herausgeber hat diese kurze Passage, die von der Kindheit bis zum Ende der Weimarer Republik reicht, gleichsam als Prolog vor das veröffentlichte Manuskript gestellt: Hertha Einstein kommt 1895 im oberschwäbischen Laupheim als Kind einer wohlhabenden und angesehnen jüdischen Familie zur Welt. Im Ersten Weltkrieg arbeitet sie als Krankenschwester und setzt es bei ihren Eltern durch, Medizin in Heidelberg, München und Freiburg zu studieren. 1920 zieht sie nach Berlin und wird leitende Ärztin am DRK-Frauen- und Kinderheim in Lichtenberg. 1923 wird Hertha Einstein zudem Leiterin einer Frauen- und Eheberatungsstelle in der Hauptstadt und heiratet im selben Jahr den Oberarzt Erich Nathorff. In der Folgezeit ist sie die erste und einzige Frau, die der Berliner Ärztekammer angehört. Bis hierhin gleicht ihr Berufsweg einer Bilderbuchkarriere, doch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben.

In ihrem Tagebuch berichtet Hertha Nathorff aus ihrer Sicht über ihr Leben als Ärztin in Berlin und schildert ihre Erlebnisse während der nationalsozialistischen Herrschaft – immer wieder auch in Form von Gedichten. Ihr Vorgefühl, dass bald alles anders werden würde, wie sie sich am 30. Januar 1933 notiert, stellt sich in der Folgezeit als nur allzu richtig heraus. Ihre Aufzeichnungen machen deutlich, wie schnell sich schon Anfang 1933 die Diktatur in Deutschland festsetzt und wie die bereits 1937 bestimmende, sozusagen staatlich verordnete Mangelwirtschaft auf den kommenden Krieg hinweist. Zugleich dokumentieren Hertha Nathorffs Tagebucheinträge die zunehmende Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung im Reich durch Entlassungen und Berufsverbote, Boykotte und Rassengesetze, sogenannte Arisierungen und Enteignungen im persönlichen Umfeld der Ärztin. Ihre Aufzeichnungen machen aber ebenfalls deutlich, dass es auch Widerstand, Abneigung und Empörung gegen die Nationalsozialisten in ihrem Bekanntenkreis wie in bürgerlich-konservativen, protestantischen und katholischen Kreisen gegeben hat.

Doch um Hertha Nathorff, ihren Mann und Sohn zieht sich die Schlinge mit der Dauer der NS-Herrschaft immer enger. Mag sie anfangs noch an keine Emigration denken, so gelingt es ihr im Frühjahr 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nur mit viel Glück, Ausreisepapiere zu bekommen und mit ihrer Familie über Großbritannien in die USA zu fliehen: „Kein Blick geht mehr zurück nach diesem Lande, das mir immer mehr entschwindet, arm, bettelarm, zerrissen an Leib und Seele, so geh ich in die unbekannte Ferne, voller Sorge um die, die zurückgeblieben, voller Sorge um das eigene Geschick, aber ich bin frei, ich darf schlafen ohne Angst, gehen ohne Gefahr, und ich darf hoffen, hoffen auf Arbeit und Aufbau für mich und mein Kind, in einem freien Lande, dem ich dienen will, wie ich einst der Heimat diente. Ich will mir eine neue Heimat verdienen!“

Es zeigt sich allerdings sehr schnell, dass sich Hertha Nathorff in der Neuen Welt keinen Illusionen hingeben darf. Das Tagebuch zeugt von den großen Sorgen und Nöten der Ärztin. Geringe Unterstützung von Freunden und Bekannten, Sprachbarrieren, Geldmangel und Unverständnis seitens vieler Amerikaner kennzeichnen den Alltag der Emigrantin und ihrer Familie. Besonders schmerzlich ist für sie die Einsicht in die Unmöglichkeit, in ihrem früheren Beruf zu arbeiten, der sie ausgefüllt und ihr Halt gegeben hat. Wie im ersten verbinden die Aufzeichnungen auch im zweiten Teil das persönliche Schicksal mit weltgeschichtlichen Ereignissen. Trauer und Leid über beides ist groß, doch der Überlebenswille der Vertriebenen, die sich in den USA ein neues Leben aufbauen möchte, ist schließlich immer stärker.

„Das Tagebuch der Hertha Nathorff“ ist ein großes Erinnerungswerk. Es sticht aus der Fülle von Berichten, Memoiren und Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft heraus – und zwar deshalb, weil das Leben der Autorin, wie es auch Wolfgang Benz betont, exemplarisch ist. Hertha Nathorff schildert die Situation der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ab 1933, „die einzelnen Stufen der Diskriminierung und Entrechtung, bis zum Kampf ums nackte Überleben durch die Flucht aus der Heimat“ auf beispielhafte Art und Weise. Dabei geht sie im Gegensatz zu anderen Autoren weiter und hält auch fest, wie es ihr in der Emigration ergeht. Es handelt sich für sie um kein reines Happy End. Der Kampf ums Überleben, das zeigen ihre Aufzeichnungen aus den USA, geht in anderer Form weiter. Ihr Leben ist neu aufzubauen, ihre Arbeit muss von vorn begonnen werden, neue Freundschaften sind zu schließen. Doch die Erinnerungen an das Erlittene, der Verlust der Sprache, Heimat und Kultur, damit zusammenhängend auch der des Berufs, der gesellschaftlichen Stellung und finanziellen Sicherheit kehren immer wieder zu der Emigrantin zurück. Sie stirbt 1993 in New York, ohne ihre alte Heimat je wieder gesehen zu haben.

Titelbild

Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin - New York ; Aufzeichnungen 1933 bis 1945.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
223 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783596183753

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