„Ich kann lieben, du blöde Kuh!“

Mit „Mehr Liebe“ legt Frank Schulz, der Autor der „Hagener Trilogie“, eine Sammlung ganz wunderbarer Erzähltexte vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.“ Rund um dieses Motto seiner „Landsmännin“ Marie von Ebner-Eschenbach hat Frank Schulz, dessen „Hagener Trilogie“ (erschienen zwischen 1991 und 2006) immer noch mehr Geheimtipp denn allgemeines Bildungsgut zu sein scheint, 22 Erzähltexte gruppiert. Texte, die genau hinschauen – besonders intensiv auf Kleinigkeiten – und hinter der spröden Oberfläche menschlichen Tuns und Redens mit geschickt gesetzten Untertönen jene Abgründe aufspüren, in die man nicht gern blicken lässt. Denn just hier sind sie zu finden, aussortiert und abgeladen wie auf einer Müllkippe: all die Illusionen, die einst Glanz verbreiteten, ehe sie am Leben oder an der Zeit zerschellten. All die famosen Pläne, aus denen schließlich doch nichts wurde. All die Hoffnungen, die sich nicht erfüllten, und die vielen Träume, die wie Seifenblasen platzten. Kurzum: jede Menge Stoff, der erzählt werden möchte. Und Frank Schulz gehört zu jenen, die das können ohne Wenn und Aber. Mit „Mehr Liebe“ tritt er nun auch im Genre der kurzen und Kürzestprosa den Beweis dafür an.

Die Protagonisten der meisten Texte des vorliegenden Bandes sehnen sich nach menschlicher Nähe und hoffen, irgendwann auch einmal in den Genuss dieses Privilegs kommen zu können. Bis schließlich die Ernüchterung einsetzt und die Erkenntnis Raum gewinnt: Das, was man sich so lange erträumte, ist hinter dem, was man schließlich bekam, weit zurückgeblieben. Da hat sich zum Beispiel ein Pärchen bei einem Klinikaufenthalt kennen und lieben gelernt – nun macht man Urlaub auf Amrum und ihr geht plötzlich auf, dass der Geliebte dem Bild, welches sie sich ein wenig voreilig von ihm gemacht hat, kaum entspricht. Da endet in einer anderen Erzählung das Wiedersehen zweier Freunde aus Studientagen damit, dass sie sich auf einer Hamburger Hafenrundfahrt – für den einen ein Muss, für den anderen die folkloristische Zumutung schlechthin – hoffnungslos entzweien. Da gewinnt das Geheimnisvoll-Lockende eines scheinbar uralten Popsongs, vierzig Jahre nachdem man sich von ihm in die Geheimnisse der Liebe einführen ließ, plötzlich ganz neue Dimensionen. Indem das Lied nämlich erstmals bewusst zu Ende gehört wird, gibt der in ihm erklingende, süß-lockende Chor holder Weiblichkeit plötzlich seine wahre Identität preis: Es ist ein „Hurenchor“, der dem geradezu metaphysischen „Come on and let us go to bed“ sogleich das geschäftsmäßig-kalte „It’s time to pay the work my dear“ folgen lässt.

Desillusion, wohin man schaut! Aber es geht auch anders, wenngleich nicht weniger melancholisch. Etwa wenn eine Frau ihrem Mann nachspürt, in dessen Tasche sie nach 45 Jahren ehelicher Treue das Streichholzbriefchen eines anrüchigen Kiez-Etablissements gefunden hat. Eingelassen in die Lasterhöhle, steht „Muddi“ sich dann plötzlich selbst gegenüber, nur halt in einer wesentlich jüngeren Version. Der hat ihr Mann bei seinen harmlosen Besuchen nichts getan, nur angesehen hat er sie halt und sich dabei – wie die Frau am Ende zu verstehen beginnt – erneut in sie verliebt.

Das Lob, das Schulzes Bücher regelmäßig für ihre „Sprachmächtigkeit“ einfahren, wird auch nach den in „Mehr Liebe“ versammelten „heiklen Geschichten“ mit Sicherheit nicht verstummen. Da findet tatsächlich einer noch unverbrauchte Bilder, brilliert mit Dialekt und Dialog – und wo die vorhandene Sprache nicht ausreicht, um auszudrücken, was er ausdrücken will, da wird sie halt zurechtgebogen, bis es passt. Und natürlich muss er sie ausprobieren, die vielen Prosagenres, die einem Autor zur Verfügung stehen, der es genauso traditionsbewusst wie avantgardistisch kann. Also gibt es nicht nur schlichte Erzählungen zwischen vier und knapp 30 Seiten Länge, sondern auch eine Novelle – die allerdings nicht ganz so gelungen scheint, weil diese klassische Kunstform doch noch ein bisschen mehr Strenge als die hier erkennbare verdient hätte. Des Weiteren werden Schnurren, Feuilletons, Kalendergeschichten, Miniaturen und Collagen bunt durcheinandergemischt. Anekdotenhaftes findet sich und dann plötzlich ein Text, der sich in seinem Aufbau und der stilistischen Gestaltung ganz an der melancholischen Grundstimmung des Blues orientiert – was grandios gemacht ist und für den Rezensenten den Höhepunkt des ganzen Bandes darstellte, wunderbarerweise auch noch an dessen Schluss platziert. So dass es, nachdem man das Buch geschlossen hat, in einem noch eine geraume Weile nachklingt: „Dum. Badum. Badum. Badum… Dieser Rhythmus. O Mann, dieser Rhythmus. Dieser sinnliche, tröstliche Rhythmus. Der Blues eben. Dies Schaukeln. Hinken. Dum. Badum. Badum. Badum…. Dieses Wiegen. Dies Wiegen mit betontem Schub…was war das noch? Außer eben – der Blues…?“

Für weitere Verbindungslinien zwischen den einzelnen Stücken der Sammlung, von denen einige bereits vorher publiziert wurden, nun aber in ganz neue Zusammenhänge einrücken, sorgen außerdem: eine Trilogie („Trilogie der Gewalt“), in deren kurzen Einzeltexten es wirklich nicht zimperlich zwischen Menschen zugeht, ein Pop-Tetrameron, dessen Teile von je einem bekannten Song inspiriert wurden, und eine ganze Reihe von Figuren, die wir schon aus der eingangs angesprochenen „Hagener Trilogie“ kennen. In dieser tauchen sie als Erwachsene auf, nun wird ein Blick auf ihr pubertäres Vorleben riskiert, nimmt der Leser teil an ihren geheimen Ritualen, wird eingeweiht in ihre Sehnsüchte und durchlebt mit ihnen frühe Enttäuschungen. Das hat ein bisschen was von Kramen in alten Fotobänden. So dass man fast vergisst, dass man Frank Schulzens Helden nur vom Lesen kennt.

Titelbild

Frank Schulz: Mehr Liebe. Heikle Geschichten.
Galiani Verlag, Berlin 2010.
295 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783869710112

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