Zerstörung, was sonst?

Thomas Boyken, Ina Cappelman und Uwe Schwagmeier haben einen Sammelband zu Rolf Dieter Brinkmann herausgegeben

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1995 veröffentlicht Dirck Linck im „FORUM Homosexualität und Literatur“ einen ebenso geschliffenen wie polemischen Essay mit dem Titel: „’Geilheit des Aufbruchs‘. Etwas gegen Rolf Dieter Brinkmann und über Hubert Fichtes Reise-Begehren“. Linck mag dem jungen Mann aus Vechta, der dem Krieg und der Provinz zunächst als neurealistischer Schriftsteller entspringt, dann auf die Suche nach Amerika geht und ästhetisch die ungeschliffenen Ereignisse des Spontanen preist, Linck also mag es Brinkmann nicht verzeihen, dass er 1972 mit dem Zug Richtung Villa Massimo aufbricht und in Rom seine schriftstellerische Vergangenheit vehement und bärbeißig verabschieden zu müssen glaubt; dass der inzwischen Zweiunddreißigjährige in der alten Welthauptstadt wie der schiffbrüchige Robinson immer nur auf seine eigenen Spuren stößt und alles Fremde allein im Ausmaß der Angst zu registrieren weiß, die das Fremde bei ihm auslöst; dass Brinkmann zur Angstabwehr auf das komplette Repertoire der Überwältigungs- und Schutzmaßnahmen zurückgreift, die ihm sein latenter und konservativer Idealismus bereitstellt; dass er sich wider alle eigene Programmatik gegen das Konkrete, Tagtägliche, Auseinanderstrebende puritanisch wappnet, indem er es als aufdringliche, penetrierende, verfallssüchtig-totalitäre Zumutung verschreit; dass sein Schandmaul überhaupt alles, was sich dem Regime seiner selbstverblendeten Selbstzentrierung versagt, mit männlich-herrischer Stammtischgeste verwirft.

Kurz: Dass da ein heterosexueller Pauschalreisender in den Reichen des wuselnd Vielfältigen unterwegs ist, dem die Worte und Bilder, die er auf seine vielen Manuskriptblätter tippt und klebt, lediglich zur Zeugenschaft seiner eigenen Kulturbetriebs-Paranoia geraten. Und dass gegen solcherlei Selbstverstockung der homosexuelle, immer wieder in die fernen Fernen aufbrechende, politisch untadelige und überaus neugierig-sensualistische Hubert Fichte mit seiner Passion für Synkretistisches, Umbenutztes, begehrlich Strömendes als wahrer literarischer Glücksbringer erscheinen darf und muss. So ungefähr.

Wie auch immer man zu dieser inzwischen fünfzehn Jahre alten, aber immer noch lesenswerten Kritik stehen mag (mir gefällt sie, auch wenn ich sie nicht teile), und jenseits der Frage, ob man zwei ohne Zweifel überaus begabte Autoren, die nicht nur derselben Generation entstammen, sondern zunächst gar demselben literarischen Ziehvater huldigen – Hans Henny Jahnn –, unbedingt gegeneinander ausspielen muss, so wird doch an diesem Katalog der Inkriminata klar, dass Brinkmann in der Folgezeit der französischen Postmoderne, in den anbrechenden Jahren der Gender Studies und den späteren Cultural Studies mit ihrem dreifachen Om Om Om der „Alterität“ schlechte, sehr schlechte, ja wirklich richtig schlechte Karten haben musste. Tatsächlich bleibt bis heute die Frage virulent, wieweit Brinkmann eigentlich verfangen ist in diese seine dichotome Konstruktion von (hypostasierter) tendenziell totalitärer gesellschaftlicher Gewalt hier, gegenaggressiver Verbalattacken und ersehnter sprachloser Eskapismen dort. Und ob da noch anderes zu entdecken ist, was die Lektüre lohnt (sie lohnt sich).

Wie schwer es tatsächlich zu sein scheint, dem repetitiven Muster der Brinkmann’schen Arbeiten zu entkommen, zeigt im nun vorliegenden Sammelband des Oldenburger Brinkmann-Kongresses von 2009 mit dem unscharf breitwandigen Streu-Titel: „Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper“ bereits der Eröffnungsbeitrag von Bernd Stiegler. Der Aufsatz, der Brinkmanns sich im Werk selbst fortentwickelnde Reflexion auf Glanz und Elend des Bildes zum Thema hat, ist sicher eine feine und geschmeidige tour de force und auf den ersten Blick erfreulich eloquent; bei der zweiten Lektüre aber enttäuscht er. Und er enttäuscht eben deshalb, weil er das gängige Brinkmann-Bild und das bekannte Brinkmann-Dilemma nur reproduziert, nicht rekonstruiert oder gar dekonstruiert. Brinkmanns frühe Hoffnung, so der Gedankengang, habe nämlich den Bildern gegolten, deren reine Oberfläche er als ideale Hinterwelt der verwerflichen Sprache im Vordergrund meinte konterkarieren zu können. Bei näherer Hinsicht habe Brinkmann jedoch feststellen müssen, dass die Bilder so unschuldig nicht seien, wie sie ausschauten, im Gegenteil: dass sie allenthalben von einer „Entfremdung und Zerstörung“ redeten, die sie selbst archivalisch belegten. Ja, mehr noch, die Bilder dokumentierten nicht nur derlei äußere und veräußernde Gewalt, sie trügen vielmehr selber aktiv zur Zerstörung bei, insofern sie sich als „zerebrale Parasiten“ regulativ und konnektiv in Köpfen und Gehirnen einnisteten. Dieser als zerstörerisch aufgeplatzten Welt der zerstörerischen Bilder begegne Brinkmann seinerseits zerstörerisch, mit der Schere nämlich – Theodor W. Adornos Mimesis an das Verhärtete glockt im Hintergrund.

Nun wäre es sicher interessant gewesen zu erfahren, wie Brinkmann derlei Destruktionen präformierter Bild- und Textwelten ins Werk setzt, ist doch die Geschichte des zerschneidenden Umgangs mit vorgegebenem und kritisch beäugtem Material recht vielfältig – man denke nur an die Zerschneidungsgelüste von Karl Kraus, an Döblins Montagefreuden mit Schere und Kleister oder auch, zeitgleich zu Brinkmann, an die Technik des Plakate-Reißens im Italien der 1960er-Jahre; und es wäre wichtig gewesen zu wissen, wie das Verhältnis von gesellschaftlich-regulativer Stereotypen-Verordnung und ästhetischer Gegenaggression, von Shot und Schnitt sich darstellt: als identisch, als analog, als komplementär, als osmotisch, als asymmetrisch? Aber Stiegler bremst ab, wo es Schubkraft bräuchte, und konstatiert defensiv: „Brinkmann präsentiert die zerstörerische Macht der Bilder, indem er sie schlicht und einfach nebeneinanderstellt und miteinander kombiniert.“ Einen Ausweg aus diesem Patt, in das sich der Aufsatz selbst gesetzt hat, findet, so die knappe Konklusion, Brinkmann nur in dem Wunsch nach reiner Gegenwart oder in der Sehnsucht nach dem Erlöschen der Worte. So keilt Stieglers Essay den Autor exakt in den Rahmen von übermächtiger Außendrohung und präverbaler Verschwindung, aus dem man Brinkmann endlich einmal herausgelöst sehen möchte.

Zumindest zwei Beiträge versuchen dagegen bewusst, die unglückliche Opposition aufzulockern und ein Instrumentarium für andere Vermessungen des heterogenen Werkes zu entwickeln. So demonstriert der behutsame Beitrag von Carsten Lange, wie Brinkmann zwar Stadträume als permanent vorkonstruierte, strategisch eingesetzte Koordinierungs- und Konditionierungskonzepte in Wort und Bild („WALK – DON’T WALK“) sichtbar macht und dadurch die tiefe Korrespondenz von Raumkontrolle und Sprach-Imperativen aufdeckt. Zugleich aber kann Lange nachweisen, dass Brinkmann diese seine Diagnose topologisch nicht mit einem eindeutigen Gegen-Raum kontert, sondern es sich in Zwischenräumen und Ambivalenzen besser gehen lässt: Er bevorzuge auffällig nicht das Erreichen des Ziels, sondern die Stagnation zwischen Stadt und Stadt. Hier, im Transit, platze der raumgewordene, ubiquitäre Gehorsam ebenso als sinnlos auf, wie sich in den sinnlos gewordenen (räumlichen wie sprachlichen) Topoi vielfältige Figurationen des Unverwertbaren, des intentionslos Geworden, des Identitäts-Sperrigen ergäben. Die Baustelle, das ist nach Lange die Brinkmann’sche Topografie der Dysfunktionalität, und das Brachland, die Ruderalfläche, sie ist ihm eine „Sphäre des Statischen“, in der die Zeichen endlich nichts mehr bedeuten müssen und endlich nicht mehr dekodiert werden wollen.

Was Lange im Raum verfolgt: die Orte des Uneindeutigen, Entstellten, Verdorrten und Verwachsenen in den Blick zu bekommen, das verfolgt Sabine Kyora in der Zeit, und das heißt: in Brinkmanns Erinnerungsbildern. Zwar nämlich sei bei Brinkmann die Erinnerung als Reanimation einer vorgängigen Einschreibung zu verstehen, als Inskription der symbolischen Ordnung in den Leib des Delinquenten: Im erinnerten Keller etwa vermischen sich Familie und Krieg zu einer Art emotionaler Dunkelhaft; im erinnerten Schul-Stock verknüpfen sich der Drill der Schrift mit der Disziplinierung des Körpers. Dennoch aber produziere die lyrische Reinszenierung geringe Fehler, faktische Abweichungen, kleine Ticks, die den großen Trick der Verfügung ins Schlenkern bringen und die Texte mit Miniatur-Explosionen und Intensitäten durchziehen. Kyora bezeichnet dieses Verfahren als „produktives Unverständnis“ – ein Begriff, der weiteren Brinkmann-Analysen tatsächlich neue Spielfelder eröffnen kann, weil er den Texten eine Mikrologie der Abwege und Aberrationen zugesteht, ohne die Makrologie die Inskriptionen zu unterschlagen.

Was sich an Aufsätzen darüber hinaus anschließt, arbeitet sich zwar nicht mehr dezidiert am Ausgangsdilemma ab, ist aber erfreulich vielfältig und changiert zwischen distanzierenden Analysen, euphorischen Identifikationen und aufschlussreichen Horizonterhellungen. So nimmt Christoph Rauen Brinkmanns habituelle Selbstaufwertung in „Keiner weiß mehr“ einleuchtend kritisch in den Blick, vergisst gleichwohl nicht, auf den Sarkasmus hinzuweisen, mit dem der Autor sich zum Schluss von seinem reintegrierten Schützling verabschiedet; Liesa Piecyk präpariert Brinkmanns „typisiertes Frauenbild“ in den „Godzilla“-Gedichten heraus mit all dem, was medial dazu gehört und sich menschlich nicht schickt.

Überhaupt erfreuen sich Körperbilder in Brinkmanns Lyrik und Prosa großer Aufmerksamkeit: Thomas Boyken untersucht die Verbindung von Musik, Maschine, Körper und Sprache im Zeichen von Fragmentierung und organischer Neu-Kollektivierung, Ina Cappelmann macht die mediale Vermittlung und die inszenierte Vermitteltheit von Brinkmanns „Körper-Bildern“ zum Thema. An der Rezeption und produktiven Applikation von US-Literatur, von Amerika-Fantasma und Stanley Kubricks Space-Odyssey setzen Johannes G. Pankau, Uwe Schwagmeier und Jan Röhnert an; die literarische Brinkmann-Rezeption durch Jan Röhnert himself untersucht Branka Schaller-Fornhoff. Dass sich die großen Materialbände durch ihre bewusste typografische Gestaltung nicht leicht lesen lassen und eine sperrige und sich sperrende Lektüre erzwingen, weiß Anita-Mathilde Schrumpf. Und Gunter Geduldig gewinnt dem kleinen Gedicht „Vechta i.O.“ aus „Le Chant du Monde“ eine erfrischende Schlusspointe ab, wenngleich Geduldigs Ceterum Censeo – keine gescheite germanistische Interpretation ohne exakte Vechta’sche Ortskenntnisse – auch deshalb hätte einmal ausbleiben dürfen, weil der schöne Clou der Auslegung recht eigentlich ohne regionale Ressourcen plausibel wird.

Bemerkenswert ist endlich, dass der Kongress und die Publikation es sich offensichtlich zur Verpflichtung gemacht haben, frühzeitig auch jüngere Wissenschaftler universitär und wissenschaftlich einzubinden. Das ist ohne Zweifel eine notwendige und außerordentlich schätzenswerte, auch andernorts bemerkbare Entwicklung, die mit diesem Band allerdings noch einen Schritt weitergeführt wird. Den „Newcomern“ wird nämlich nicht nur ein notwendiger Platz eingeräumt, sondern noch die Herausgabe des Kongressbandes selber übergeben. Und das ist definitiv ein wohlgemeinter Schritt zu viel. Denn was der Band leider an stilistischen orthografischen und editorischen Stolpersteinen in den Weg legt, übersteigt das Maß des Tolerierbaren deutlich. Das sei nicht den Herausgebern angelastet, wohl aber dem Verlag, der ein doppelt waches Auge auf den Band hätte haben müssen, zumal ihm im Vorwort für die gute Zusammenarbeit gedankt wird. Welche Zusammenarbeit mag das gewesen sein? Ein Lektorat scheint Fink zumindest nicht mehr zu beschäftigen. Man kann seinen guten Ruf auch verspielen.

Titelbild

Uwe Schwagmeier / Thomas Boyken / Ina Cappelmann (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte - Helden - Körper.
Wilhelm Fink Verlag, München 2010.
253 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770549450

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