Zu dieser Ausgabe

Was in der Literaturgeschichte genau unter dem ‚Label‘ Expressionismus zu verstehen sei, ist definitionsbedürftig. Es hat sich jedenfalls eingebürgert, die Jahre 1910-1920 als „expressionistisches Jahrzehnt“ zu bezeichnen. 1910 beginnt auch Herwarth Waldens bedeutsame expressionistische Zeitschrift „Der Sturm“ wöchentlich zu erscheinen. So gesehen feiern wir dieses Jahr tatsächlich das Jubiläum „100 Jahre Expressionismus“.

Auch die September-Ausgabe von literaturkritik.de widmet sich diesem Schwerpunkt-Thema. Sie bietet Essays und Rezensionen zu verschiedenen Aspekten der „Epoche“ des Expressionismus – wenn man denn bei einem nicht nur zeitlich, sondern auch zwischen den verschiedenen künstlerischen Medien der Moderne so weit ausdifferenzierten Phänomen von einer solchen überhaupt reden kann.

Ging es im Expressionismus doch vor allem um das Überschreiten überkommener Grenzen – sowohl historisch gesehen als auch zwischen den Künsten selbst, ihrer Materialität und ihren Sujets. In unseren Beiträgen geht es deshalb um paradigmatische Entwicklungen wie die der „Intermedialität“ in expressionistischen Kunstwerken. Es geht um die Rolle der Architektur im Expressionismus und um Waldens Zeitschrift. Nicht zuletzt suchen wir nach einer Antwort auf die Frage, inwiefern die Vielfalt apokalyptischer Szenarien im literarischen Expressionismus als Ausformung von „Warn-Utopien“ unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs verstehbar sei – sowohl im pazifistischen als auch im zivilisationskritischen Sinn.

Das wohl berühmteste expressionistische Gedicht, „Weltenende“ von Jakob van Hoddis, entstand 1910 und scheint aus heutiger Perspektive nicht nur auf unheimlich-beiläufige Weise auf den Ersten Weltkrieg vorauszudeuten, sondern auch auf die Shoah, etwa wenn es darin im zweiten Vers so geisterhaft heißt: „In allen Lüften hallt es wie Geschrei“. Der Autor, dessen Gedicht wir in unserer Ausgabe aus gegebenem Anlass mit einer kurzen Interpretation würdigen, wurde im Mai 1942 in Belzec, Chelmno oder Sobibor umgebracht, also einem der von den NS-Besatzern in den – heute wieder zu Polen gehörenden – Gebieten des „Warthelands“ sowie des „Generalgouvernements“ errichteten Vernichtungslagern. Auch dass viele derjenigen, die wie Jakob van Hoddis zu den Protagonisten des Expressionismus gehörten, dort von Deutschen qualvoll ermordet wurden, gilt es in Erinnerung zu rufen.

Darüber hinaus bemüht sich die Redaktion, die Entscheidungen der Frankfurter Buchpreis-Jury im Auge zu behalten, die am 8. September ihre „Shortlist“ mit sechs ausgewählten Titeln aus der bereits vorgelegten „Longlist“ mit 20 Romanen deutscher GegenwartsautorInnen bekannt geben wird. Eine Reihe von Büchern aus der „Longlist“ haben wir bereits rezensieren lassen und aktualisieren unsere Seite, auf der wir die nominierten Werke zusammengestellt haben, im Laufe des Monats stetig weiter.

Herzliche Nachsommergrüße
Ihres
Jan Süselbeck