„Die Gesellschaft der Gesellschaft“

Daniyal Mueenuddin legt mit seinem Erzählband „Andere Räume, andere Träume“ ein Soziogramm der pakistanischen Gesellschaft vor

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pakistan war in den letzten Jahren immer wieder in den Schlagzeilen der internationalen Presse. Waren es früher vor allem Grenzkonflikte und das atomare Wettrüsten mit dem östlichen Grenznachbarn Indien oder Machtkämpfe innerhalb der pakistanischen Elite um die zukünftige Gestaltung des Landes, so sind es heute – neben den verheerenden Naturkatastrophen – die Verstrickungen von Regierung, Militär und Geheimdienst in die Geschehnisse in Afghanistan. Die zunehmende „Talibanisierung“ der Region und die öfter in diesem Zusammenhang verwendete Bezeichnung „AFPAC“ für beide Staaten dominieren in den Medien der westlichen Welt das neuere Bild des mit etwa 170 Millionen Einwohnern sechstbevölkerungsreichsten Landes der Erde. Über die innenpolitischen Themen, beispielsweise das Verhältnis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, wird hierzulande wenig berichtet.

Einen äußerst lebenden und thematisch vielschichtigen Einblick in die moderne pakistanische Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen, Problemen und Konflikten dagegen bietet nun die Novellensammlung „Andere Räume, andere Träume“ von Daniyal Mueenuddin. Das Buch, das aus acht Erzählungen besteht, ist erstmals 2009 unter dem Titel „In Other Rooms, Other Wonders“ (W. W. Norton, New York) erschienen. Am Beispiel einer vermögenden und politisch einflussreichen Familie sowie anhand der sie umgebenden Milieus schildert der 1963 geborene, im ostpakistanischen Lahore und US-amerikanischen Elroy (Wisconsin) aufgewachsene Schriftsteller die politischen und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zustände seines väterlichen Heimatlandes in den letzten vier Jahrzehnten.

Repräsentiert wird die frühere Elite des Landes, die zum großen Teil aus alteingesessenen Latifundienbesitzern besteht, von dem Clan des alten Patriarchen K. K. Harouni. Um ihn und einige seiner Familienmitglieder herum gruppiert sind Verwandte und Freunde, Bekannte und Angestellte. An ihnen, den einzelnen Figuren aus der Ober-, Mittel- und Unterschicht aus Stadt und Land, werden die unterschiedlichen, ja konträren Lebens- und Denkweisen, Hoffnungen und Ziele innerhalb der pakistanischen Gesellschaft exemplarisch aufgezeigt. Dabei kann man so weit gehen und Mueenuddins Short Stories als soziologische Studien bezeichnen. Sie zeugen von großer Beobachtungsgabe und Kenntnis, sind detailreich, atmosphärisch dicht und mit so viel Einfühlungsvermögen geschrieben, dass ihr großer Erfolg nicht verwundert. Mueenuddins Debüt erhielt 2009 „The Story Prize“. Es war im selben Jahr in der Endauswahl für die „National Book Awards“. Das „Time Magazine“ wählte es darüber hinaus zu den zehn besten „Fiction books“. 2010 war es der Gewinner des „Rosenthal Family Foundation Award“ der American Academy of Arts and Letters und nominiert für den „Pulitzer Prize“ und den „Commonwealth Writer’s Prize“.

Eröffnet wird der Band mit einem Stück über einen Elektriker namens Nawabdin. Dieser, Kopf einer großen Familie aus ärmlichen Verhältnissen, arbeitet als Handwerker auf der Farm des Clanchefs. Durch kleine Betrügereien und diverse illegale Nebentätigkeiten bessert er sein monatliches Gehalt auf und versucht beständig in der Gunst seines Arbeitgebers aufzusteigen. Schon zu Beginn in dieser Erzählung wird ein zentrales Merkmal der Gesellschaft, wie Mueenuddin sie schildert, erkennbar. Es handelt sich um ihre streng hierarchische Struktur: Nawabdins Abhängigkeit von seinem Brotgeber macht ihn diesem gegenüber unterwürfig, selbst wiederum verhält er sich herrisch zu denen, die gesellschaftlich unter ihm stehen.

Dass Ausbeutung nicht nur ökonomischer, sondern im Falle der Frauen auch und vor allem sexueller Art ist, wird im zweiten Text am Beispiel der Küchenhilfe Saleema aufgezeigt. Sie arbeitet ebenfalls auf der Farm der Harounis und schlägt sich dort gelegentlich als Prostituierte durch. Denn gute Beziehungen zum Personal garantieren ihr nicht nur Schutz vor den anderen, sondern auch bessere Unterbringung und Versorgung mit Nahrungsmitteln. Als jüngst Angestellte ist sie aber auch von den Launen ihrer zumeist männlichen Kollegen abhängig, die sie mal besser, mal schlechter behandeln.

In „Versorge, versorge“ geht es um den Verwalter der Harouni-Farm, um Chaudrey Nabi Baksh Jaglani. Er steht stellvertretend für die Neureichen, die in den 1970er-Jahren die bisher einflussreichen Familien, die ihre Macht noch aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft herleiten, allmählich verdrängen. Jaglani gelingt es durch Betrügereien auch an seinem Herrn, durch Bestechung lokaler Größen und zunehmender Vetternwirtschaft, in kurzer Zeit reich und mächtig zu werden. Er schöpft seine Möglichkeiten so weit wie möglich aus und geht dabei eine Zweitehe mit einer Dienerin ein. Ihre gesellschaftliche Sanktionierung zwingt ihn jedoch dazu, ein Doppelleben zu führen, was weitreichende Konsequenzen nach sich zieht.

„Von einem brennenden Mädchen“ handelt von einem Strafrichter am obersten Gericht in Lahore, der die Aufgabe hat, den Tod einer jungen Frau zu untersuchen. Dabei zeichnet die Erzählung, die als einzige in dem Band aus der Ich-Perspektive berichtet, nicht nur einen Kriminalfall nach. Sie gewährt zugleich einen nüchternen Einblick in die Justiz, die die Unabhängigkeit des Gerichtswesens in Frage stellt. Externe Einflussnahme und Korruption spielen eine zentrale Rolle und scheinen für Mueenuddin hauptsächlich verantwortlich zu sein für die Inkongruenz von Anspruch und Wirklichkeit der Judikative.

Die Erzählung, die der gesamten Sammlung den Titel verliehen hat, behandelt den alten K. K. Harouni selbst. Eine entfernte Verwandte, die junge Husna, deren Familie nach der Unabhängigkeit des Landes 1947 verarmt ist, erhofft sich die Hilfe des Patriarchen. Wie in „Saleema“ wird auch in „Andere Räume, andere Träume“ aufgezeigt, welche Wege eine weibliche Figur zu gehen bereit ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, in diesem Falle Arbeit zu finden und gesellschaftlich aufzusteigen. Das strikte Klassendenken, das gerade in den oberen, alteingesessenen Schichten vorherrscht – nicht zuletzt aus Verlustängsten um die eigene „Exklusivität“ –, macht es Husna jedoch nicht leicht, den Versuch durchzuführen.

Stärker als bisher wird der Gegensatz von Tradition und Moderne, das Aufeinandertreffen zweier differenter Denk- und Lebensweisen in „Unsere Lady in Paris“ thematisiert. Sohail, der zusammen mit seiner amerikanischen Freundin Helen die Weihnachtszeit in Paris verbringt, trifft dort seine wohlhabenden Eltern, die unter anderem auch deshalb angereist sind, um die Amerikanerin kennen zu lernen. Infolge der unterschiedlichen Sozialisation und des Altersunterschieds vor allem der beiden Frauen spielen ihre unterschiedlichen Erwartungen eine entscheidende Rolle bei der Frage, wo und wie sich das junge Paar seine Zukunft vorstellt.

Variiert wird die Gegenüberstellung von traditioneller orientalischer und einer modernen, westlich ausgerichteten Lebensweise in der umfangreichsten Erzählung „Lily“. Die gleichnamige, aus wohlhabenden Kreisen stammende Protagonistin führt ein ausschweifendes Jet-Set-Leben in Islamabad und London. Das ändert sich, als sie Murad kennen und lieben lernt. Nach der Heirat mit ihm und dem Umzug auf seine abseitige, auf dem Land gelegene Farm versucht sie, ein neues, „reines“ Leben zu beginnen. Doch das fällt ihr in der Folgezeit schwerer als sie anfangs gedacht hat, insbesondere weil sich die Verlockungen ihres früheren Lebensstils als äußerst stark erweisen.

Konträr zu ihr steht die Hauptfigur der letzten Short Story „Ein verwöhnter Mann“. Der alte, arme, aber bedürfnislose Rezak findet Arbeit auf dem Wochenendhaus der Harounis in Islamabad. Seine Freude steigert sich erheblich, als er die Ehe mit einer jungen, leicht behinderten Frau eingehen kann. Ähnlich wie im Eröffnungsstück „Nawabdin Elektriker“ wird jedoch auch das Glück dieses Protagonisten nur kurz währen. Denn für Rezak bricht das Unglück ein, als seine Ehefrau plötzlich eines Tages spurlos verschwindet und er auf Veranlassung der ihm freundlich gesonnenen, aus Amerika stammenden Gattin des Gutsbesitzers die Hilfe der Polizei erhält.

„Andere Räume, andere Träume“ stellt mit seinen acht Erzählungen einen Querschnitt durch die pakistanische Gesellschaft dar. Es werden die Schicksale von Wirtschaftsbossen, regionalen Machthabern und Staatsbeamten genauso thematisiert wie die Lebensläufe ihrer verarmten Verwandten, Hausangestellten und ausländischen Freunde. Daniyal Mueenuddin besitzt die Fähigkeit, die zentralen sozialen Probleme Pakistans plastisch und überzeugend an den von ihm gezeichneten Figuren aufzuzeigen. Krasse Gegensätze bestimmen dabei ihr Leben: Gewaltiger Wohlstand trifft auf große Armut und Arbeitslosigkeit, Alteingesessene aus den herrschenden Familien müssen sich ihre Macht zunehmend mit den Neureichen teilen, die monotone ländliche Existenz der Bauern unterscheidet sich stark vom hektischen Großstadttreiben und orientalische Mentalität, Tradition und Religion prallen auf die von der Jugend übernommene westliche Kultur.

Bei Mueenuddin erscheint Pakistan als ein zerissenes Land, das sich zugleich im großen Umbruch befindet. So sind in seinem Buch einerseits die Spuren der einstigen britischen Kolonialmacht auch noch Jahrzehnte nach der Loslösung vom Empire erkennbar. Andererseits ist das Land geprägt von den Verteilungskämpfen der einheimischen Machthaber vor allem ab Ende der 1970er Jahre. Diese tragen mit dazu bei, dass der Reichtum des Landes weiterhin ungleich verteilt bleibt. Wie viele andere Länder der dritten Welt scheint auch Pakistan seit seiner Unabhängigkeit nur partiell in der Moderne angekommen zu sein. Ökonomische Ausbeutung von Land und Leuten, ineffiziente Bürokratie, Korruption und Bestechlichkeit der Behörden, vor allem des Justizwesens und der Polizei, bewirken in „Andere Räume, andere Träume“, dass die Gesellschaft kaum in der Lage ist, sich in Richtung einer funktionierenden Demokratie, einer Zivilgesellschaft und sozialer (Markt-)Wirtschaft zu entwickeln.

Doch so sehr „Andere Räume, andere Träume“ auch indirekt Kritik an den herrschenden Verhältnissen in Staat und Gesellschaft, Stadt und Land, in den Beziehungen zwischen Herr und Angestellter, aber auch zwischen Frau und Mann übt, im Mittelpunkt der acht Erzählungen stehen jeweils die Individuen. Mueenuddin thematisiert ihre Lebensumstände und zeigt auf, mit welchen Strategien sie versuchen, ihre Art von Glück zu erreichen. Darüber hinaus führt er vor, wie die Figuren seiner Novellen mit ganz bestimmten Erlebnissen und Schicksalsschlägen, die nicht selten einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellen, umgehen und was für Lehren sie daraus ziehen. Ihre Biografien machen deutlich, wie stark ihr Weiterkommen von den Konventionen, den Normen und Werten innerhalb der Gesellschaft abhängt. Klassendenken und hierarchische Strukturen, Desinteresse und Gewalt gegen den Anderen machen in Mueenuddins Pakistan einen offenen, friedlichen und auf einer gemeinsamen Ebene geführten Dialog der verschiedenen Schichten miteinander nur schwer möglich.

Titelbild

Daniyal Mueenuddin: Andere Räume, andere Träume.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Brigitte Heinrich.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
289 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421413

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