„Er ist der einzige Architekt unserer Zeit“

Adolf Loos und der Berliner „Sturm“-Kreis

Von Robert HodonyiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Hodonyi

Adolf Loos kommt in der Geschichte des „Sturm“ eine herausragende Bedeutung zu. Keinen anderen Architekten hat Herwarth Walden öfter zu Vorträgen in seinen „Verein für Kunst“ eingeladen. Kaum eine andere Schrift wurde um 1910 vom „Sturm“-Kreis intensiver diskutiert als dessen „Ornament und Verbrechen“ (1908). Von keinem anderen Architekten wurden sowohl in den 1910er- als auch den 1920er-Jahren mehr Artikel in der Zeitschrift veröffentlicht. Und schließlich: Für keinen anderen Architekten hat sich Walden so stark publizistisch ins Zeug gelegt, als es darum ging, eines der wirkmächtigsten Bauwerke der modernen Architekturgeschichte zu verteidigen, nämlich das Loos‘sche „Haus am Michaelerplatz“ in Wien. Woher rührt dieses Engagement? Wieso war es gerade Loos, der „antischnörklerische Asket einer Idee“, wie Kurt Hiller ihn bezeichnete, der mit seinen Bauten und Schriften im intellektuellen Milieu der expressionistischen Moderne um 1910 eine solche enorme Unruhe verbreitete und Aufmerksamkeit erfuhr?

Aus dem „Sturm“ soll hier keine Architekturfachzeitschrift, kein Medium der Architekturpublizistik gemacht werden, was ein hoffnungsloses und fragwürdiges Unterfangen wäre. Ziel kann es auch nicht sein, eine wie auch immer geartete, möglichst kuriose Alternativgeschichte abzufassen. Stattdessen wird die Historiografie des „Sturm“ ergänzt, korrigiert und schlaglichtartig eine neue Gegenstandsbestimmung vorgenommen, die den Stellenwert der Architektur in der Zeitschrift am Beispiel von Loos auslotet und berücksichtigt. Ausgehend von dessen kulturreformerischen Gedanken wird auf Interferenzen und formale Äquivalente zwischen der Architektur und den kunstphilosophischen und poetologischen Programmatiken des „Sturm“ verwiesen. Ebenso wird eingegangen auf die visuelle Präsenz der Loos-Architektur in den bisher von der Forschung vernachlässigten „späten“ Jahrgängen des „Sturm“ in den 1920er-Jahren.

Brückenschläge: Wiener und Berliner Moderne

Dass der Baukunst von Beginn an im Kontext der Positionierung der Zeitschrift im kulturellen Feld um 1910 eine hohe symbolische Bedeutung und Funktion beikommt, zeigt das Beispiel Loos deutlich. Viel stärker als bisher von der Forschung angenommen, ist die Gründungsphase des „Sturm“ auf die baukünstlerischen Aktivitäten der Wiener Moderne zu beziehen.

Die in der Forschung zum „Sturm“ häufiger anzutreffende Behauptung, dass Walden bis zur Durchführung des Ersten Deutschen Herbstsalons im Jahr 1913 seine kunstprogrammatischen Aussagen in erster Linie ex negativo formuliert habe, ist mit Blick auf die Anverwandlung ornamentkritischer Axiome und ihre postulatorische Verbreitung in der Zeitschrift zu relativieren. Denn die Gründung des „Sturm“ im Jahr 1910 war nicht nur von Karl Kraus’ Kritik am zeitgenössischen bürgerlichen Journalismus und Feuilletonismus inspiriert, sondern eine ebenso hohe theoretische Präferenz kam dabei den Gedanken von Loos zu.

Seine wichtigsten Thesen einer Kritik des Ornaments, die in der Wiener und – mit einiger Verzögerung – auch in der Berliner Moderne eine starke Resonanz fand, hat Loos um die Jahrhundertwende in verschiedenen Wiener Zeitschriften publiziert. Neben aktuellen Beiträgen sind auch einige dieser älteren Artikel der Jahre um 1900 im „Sturm“ ein gutes Jahrzehnt später zum Teil nachgedruckt und somit einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland erstmalig vorgestellt worden. Im ersten Heft der Zeitschrift erschien „Vom armen reichen Mann“, die Loos’sche Architektursatire auf Henry van de Velde und den Jugendstil. In einer redaktionellen Notiz am Ende des Textes heißt es: „Wir führen mit diesem Beitrag den Berlinern einen neuen Mann vor. In seiner engeren Heimat, Wien, ist Adolf Loos wohl bekannt. Julius Meier-Graefe nennt ihn in seiner Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst einen Künstler und Architekten, Schriftsteller und Denker. Loos trat schon vor vierzehn Jahren, zu der Zeit, als die moderne, ornamentale Bewegung einsetzte, als ihr schärfster Gegner auf. Anfangs verspottet und verlacht haben aber die Wiener Kunstgewerbler bald seine Ideen zu den ihren gemacht.“

Bis in die 1920er-Jahre hinein stellte der „Sturm“ für Loos in Deutschland das bevorzugte Medium dar, in dem er seine Entwürfe und Schriften veröffentlichte. Die Loos-Architektur kann mithin als eine der Grundkonstanten der baukünstlerischen Blattpolitik der Zeitschrift bezeichnet werden. Außerdem hielt Loos zwischen 1909 und 1912 mehrere Vorträge in Waldens literarisch-künstlerischem „Verein für Kunst“, in denen er seine Ansichten dem Berliner Publikum vor Ort näherzubringen suchte; so referierte er etwa am 8. Dezember 1910 „Über Architektur“ in Berlin.

Zum Thema seiner kulturkritisch äußerst wirksamen Schrift „Ornament und Verbrechen“ (1908) sprach Loos in Berlin am 3. März 1910, dem offiziellen Erscheinungsdatum der ersten Ausgabe des „Sturm“. Die terminliche Überschneidung des Vortrages mit dem Erscheinen des ersten „Sturm“-Heftes stellt sicher keinen zeithistorischen Zufall dar. Von der Forschung ist diese organisatorische Koinzidenz im Zuge der Gründung der Zeitschrift bisher nicht eingeordnet worden. Aus dem von George C. Avery unter der Überschrift „Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein“ (2002) herausgegebenen Briefwechsel zwischen Karl Kraus und Herwarth Walden geht hervor, dass die erste Nummer des „Sturm“ tatsächlich schon am 1. März erschienen war. Da der Vortragstermin von Loos schon länger feststand, ist es sehr wahrscheinlich, dass Walden das Erscheinungsdatum des ersten „Sturm“ auf den 3. März datierte und sich davon Synergieeffekte und erhöhte Aufmerksamkeit für die neue Publikation erhoffte. Der Auftritt von Loos und die provokanten Thesen in „Ornament und Verbrechen“ sollten so unmissverständlich den avantgardistischen Anspruch des „Sturm“ und seine angestrebte Führungsrolle in der Berliner Kultur- und Kunstszene manifestieren.

In der Tat finden sich bereits schon vor der Gründung der Zeitschrift zwei bemerkenswerte Loos-Referenzen im Kreis um Walden. Die eine stammt von Alfred Döblin, die andere von Walden selbst. Im November 1909 kritisiert Döblin in einem Brief an Walden dessen Veröffentlichungspraxis als kurzzeitiger Schriftleiter einer Theaterzeitschrift mit dem Hinweis auf die Materialästhetik von Loos: „[S]iehe auch die Bemerkungen von Loos, der als Princip aufstellt: Sachlich sein; jedes Ding seine besondere Sachlichkeit, Zweckmäßigkeit; nichts von außen heranbringen und ankleben. Wenn doch das die Herren lernen wollten und nicht dauernd den Stil der schlechten Kunstgewerbler schrieben. – Ich resümiere: mehr Bericht, mehr Kritik, weniger ‚Stil‘, weniger Dekoration […]“. Walden seinerseits besuchte 1909 in seiner damaligen Funktion als Schriftleiter und Kritiker von „Das Theater“ das nach einem Brand wiedereröffnete Meininger Hoftheater. In die Rezension des Gebäudes schreibt sich eine Historismus-Kritik ein, die zu dem Ergebnis kommt: „Adolf Loos aus Wien hätte es bauen sollen. Ornamentlos, schmucklos, beherrscht und herrschend durch die Gewalt der reinen architektonischen Linie und den Adel des Materials.“

Die architektonische Ornamentkritik und das Sachlichkeitspostulat von Loos wurde von Alfred Döblin und alsbald auch von Walden in einem ersten Schritt auf die Ebene der ästhetisch-literarischen Theoriebildung übertragen und in der Gründungsphase des „Sturm“ als Instrument der Kritik gegen das diffuse Pathos des literarischen Frühexpressionismus ins Feld geführt, wie vor allem Peter Sprengel und Sabina Becker instruktiv herausgearbeitet haben. Aber auch in der Auseinandersetzung des „Sturm“-Kreises mit dem italienischen Futurismus sind Loos-Bezüge zu beobachten: „Es ist uns klar, Marinetti, Ihnen wie mir“, konzediert Döblins Artikel „Futuristische Worttechnik“ (1913) mit an Loos erinnernder Emphase im „Sturm“, „wir wollen keine Verschönerung, keinen Schmuck, keinen Stil, nichts Aeußerliches, sondern Härte, Kälte und Feuer, Weichheit, Transcendentales und Erschütterndes, ohne Packpapier. […] Was nicht direkt, nicht unmittelbar, nicht gesättigt von Sachlichkeit ist, lehnen wir gemeinsam ab […]“.

Zu ergänzen wäre, dass auch die Wortkunsttheorie des „Sturm“ im engeren Sinne, wie sie seit 1916/17 in den poetologischen Schriften von Walden, Rudolf Blümner und Lothar Schreyer modelliert wurde, auf Loos rekurriert. Schreyer schreibt in seinem im „Sturm“-Verlag veröffentlichten Buch „Die neue Kunst“ (1920): „Die Dichtung ist sachlich. Im Sinne früherer Zeiten sind unsere Werke ‚unpoetisch‘. Wir schmücken nicht aus.“ Gerade die Wortkunst des „Sturm“ zeichnet ein vielschichtiges Spiel mit Entmetaphorisierung und Bedeutungsverdichtung aus, dem ein Interesse an der „reinen“ Materialität des Wortes zugrunde liegt und das zugleich vielfach von architektonischen Ideen geprägt ist, wie eine markante Parallelisierung von Walden annonciert. In seinem Artikel „Das Begriffliche in der Dichtung“ (1918) heißt es: „Welchem Künstler ist es je eingefallen, ein Gebäude aus edlen Steinen zu bemalen. Man bemalt, um edle Steine vorzutäuschen, und doch ist jeder Stein edel, wenn er Stein ist. Und jedes Wort ist edel, wenn es Wort ist.“ Die Sprachbehandlung August Stramms, seine auf Reduktion und Konstruktion basierenden Dichtungen, sind auch in Adolf Behnes Schrift „Die Wiederkehr der Kunst“ (1919) als „große und weite Formen der Architektur“ gedeutet worden.

Anhand dieser Analogiebildung wird klar, dass die Materialästhetik von Loos sichtbar die Folie für die Wortkunsttheorie bildet. In den Wortkunstwerken Stramms sah der „Sturm“-Kreis eine der modernen Architektursprache adäquate formalästhetische Gestaltung im Bereich der Literatur. Jedoch kann die Anverwandlung der Gedanken von Loos nicht nur auf ihre Übertragung in poetologische Konzepte begrenzt werden, wie bereits in Bezug auf Waldens Rezension des Meininger Hoftheaters angedeutet wurde.

Auch im „Sturm“ imaginierte Walden beispielsweise einen Theaterbau von Loos, der als ornament- und schmucklose Konstruktion gedacht wird: „Am Zoologischen Garten hat man ein neues Theater eröffnet. Trotzdem es den Architekten Adolf Loos gibt, der etwas ganz Neues geschaffen hätte, wurde wieder eine der üblichen Firmen mit dem Bau ‚betraut‘. […] Die Baumeister haben offenbar vergessen, zwischen der Fassade und dem notwendigen ‚Zubehör‘ das Haus einzufügen.“

Festzustellen ist eine deutliche Distanzierung von der offiziellen Architektur der wilhelminischen Epoche, wie es für die Akteure des „Sturm“-Kreises insbesondere die Bauten von Ludwig Hoffmann, Berliner Stadtbaurat von 1898 bis 1924, verkörperten. Dabei bediente sich die Kritik zahlreicher Argumente, die schon Loos gegen den Historismus der Gebäude an der Wiener Ringstraße ins Feld führte.

Das durch Friedrich Nietzsche geschulte Zeitbewusstsein von Modernisten und Avantgardisten in Wien und Berlin richtet sich gegen die als falsch erkannte Normativität eines aus der Nachahmung von Vorbildern geschöpften Geschichtsverständnisses, wie es insbesondere der Historismus und Eklektizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts repräsentieren. Die Wiener Ringstraße und die Architektur Hoffmanns wurden so zu symbolischen Zentren dieser intellektuellen Kritik an der bürgerlichen und adligen Kultur und ihren kulturellen und urbanen Repräsentationsformen insgesamt, die als lügenhafte Verschleierungen glossiert wurden und denen die „Forderung nach Wahrheit in der Kunst“ entgegengehalten wurde, wie Peter Sprengel und Gregor Streim in ihrem Band „Berliner und Wiener Moderne. Vermittlung und Abgrenzung in Literatur, Theater, Publizistik“ (1998) darlegen.

Walden sah dabei in den zentralen Aussagen von Loos eine moderne Kulturtheorie par excellence. Es ging ihm bei der Veröffentlichung der zentralen Gedanken und Entwürfe von Loos sowohl zu Beginn der 1910er-Jahre als auch in den 1920er-Jahren nicht nur um eine Re-Aktualisierung der Schriften des Wiener Architekten, sondern dessen Architektur- und Kulturtheorie wurde eine epochemachende Wirkung zugesprochen. Die Architektur erscheint somit in der Frühphase der Zeitschrift als geeigneter „Kampfplatz“ für eine moderne Kunst und Kultur. Denn durch die Situierung im öffentlichen Raum vermag die Baukunst viel stärker als die anderen Künste für mediales Aufsehen, Provokationen und Debatten zu sorgen. „Bilder, Poesie, Musik lassen sich ignorieren, Raum und Baukörper nicht“, notiert Wolfgang Pehnt in dem Band „Architektur des Expressionismus“ (1998).

Das Haus am Michaelerplatz

Es kann also kaum verwundern, dass insbesondere der Wiener Architekturstreit in den „Sturm“ Eingang gefunden hat, der um das Haus am Michaelerplatz (erbaut 1909-1911) entbrannte. Man kann sagen, dass sich nach der Begegnung mit Loos und der Vertiefung in dessen Œuvre Waldens Verständnis von Architektur so weit gewandelt hat, dass er um 1910 in Loos den einzigen Architekten erkannte, der diese Berufsbezeichnung überhaupt verdiene. In einem Artikel „Schönheit! Schönheit! Der Fall Adolf Loos“ (1911/12) wird diese extreme Position fassbar, die ganz dem kämpferischen Naturell des „Sturm“-Initiators entsprach: „Nun gibt es in Wien einen Architekten. Er heisst Adolf Loos. Er ist der einzige Architekt unserer Zeit.“ Diese heute etwas übertrieben anmutende Identifikation mit dem Werk von Loos korrespondiert in der Zeitschrift mit zwei Porträts des Architekten von Oskar Kokoschka und Man Ray. In den 22 Jahrgängen des „Sturm“ war Loos der einzige Architekt, dem eine solche Anerkennung zuteilwurde.

Zur Erinnerung: Nachdem ein Wettbewerb für ein neues Geschäfts- und Wohnhaus der renommierten Wiener Schneiderfirma Goldman & Salatsch am Michaelerplatz an exponierter Stelle gegenüber der Wiener Hofburg keine befriedigenden Entwürfe hervorgebracht hatte, wandten sich die Eigentümer an Loos und beauftragten ihn mit dem Entwurf. An der schmucklosen Fassade entzündete sich ein heftiger Architekturstreit, der die Öffentlichkeit beschäftigte und der die Vollendung des zum Politikum gewordenen Hauses hinauszögerte, es aber auch gleichzeitig zum Publikumsmagneten machte. In den Wiener Zeitungen wurde der Bau wahlweise als „Kanalgitterhaus“, „das Haus ohne Augen“ oder etwa als „Mistkiste“ bezeichnet. „In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen“, schreibt die „Neue Freie Presse“.

Im „Sturm“ wurde die aggressive Kampagne gegen Loos aufgegriffen. Walden polemisierte gegen österreichisches und deutsches Philistertum gleichermaßen und machte die Wiener Debatte damit umgehend zu einer Berliner Angelegenheit. In seinem Artikel ging er detailliert auf den Wiener Architekturstreit ein, verwiesen wird auf die Positionen und Interessenlagen der Bauherren, der Stadt und der Presse. Er versuchte aufzuzeigen, wie durch eine kulturkonservative Phalanx aus Bürgern, Medien, Politikern und Interventionen von institutioneller Seite die Freiheit der Kunst und des Künstlers in Gefahr gerät.

Walden forderte Intellektuelle auf, sich mit Loos zu solidarisieren, so müssten ein „paar Menschen, die in Deutschland etwas von Kunst verstehen und Einfluss haben, […] alles aufbieten, um einen Rohheitsakt zu verhindern, der an Adolf Loos und an der Kunst verübt werden soll“. Walden erkannte in der Auseinandersetzung um das Haus am Michaelerplatz den prinzipiellen Mechanismus einer repressiven Kulturpolitik und den prekären Status von moderner Kunst in der Gesellschaft. Eine substanzielle Gefährdung, die exemplarisch am Wiener Architekturstreit aufgezeigt wird: „Wenn die Zensur irgend ein miserables Stück verbietet, geraten die Interlektuellen [sic!] ausser sich. Gegenüber dieser unerhörten Vergewaltigung eines Künstlers durch eine ‚ästhetische Behörde‘ schweigt man.“

Der „Raumplan“ und Neues Bauen

Nicht vergessen darf man dabei, dass das Haus am Michaelerplatz nicht nur wegen der schmucklosen Fassade in die Architekturgeschichte einging, sondern weil Loos gemäß seinen theoretischen Annahmen eine effektive Raumökonomie erstmals in die Praxis umsetzen konnte, die er in späteren Entwürfen – wie etwa dem 1925 im „Sturm“ abgebildeten Grand Hôtel Babylon für die Promenade des Anglais in Nizza – weiterentwickelt hat. Das freie Denken im Raum, das Planen von Räumen mit verschiedenen Höhenniveaus, wie es Loos auch beim Haus Rufer in Wien (1922) und dem Haus Müller in Prag (1928-1930) verwirklicht hat, ist an kein durchgehendes Stockwerk mehr gebunden. Darin unterscheidet sich Loos sowohl von der sezessionistischen Architektur um 1900 als auch vom Neuen Bauen der Weimarer Republik, was für den „Sturm“ von großer Wichtigkeit werden sollte. Loos’ Beschäftigung mit Siedlungsentwürfen, die eine Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und dem Wohnungsmangel nach dem Ersten Weltkrieg zur Voraussetzung hatte, führte zu Projekten und Schriften wie die Gruppe von zwanzig Villen (1925) und der Erörterung „Die moderne Siedlung“ (1923), die ebenfalls im „Sturm“ veröffentlicht wurden. Loos versuchte zu sozialen Lösungen auf dem Gebiet des Massenwohnungsbaus zu gelangen, wobei er ökonomische mit ökologischen Gedanken verband. Diese Ausführungen sind ein Beispiel dafür, dass im „Sturm“ in den 1920er-Jahren verstärkt auch Notwendigkeiten einer modernen Großstadtarchitektur unter sozialen Gesichtspunkten diskutiert worden sind. Später kommt mit dem kroatischen Architekten Zlatko Neumann ein prominenter Schüler von Loos im „Sturm“ zu Wort, der in seinem Beitrag „Das Kleinhaus“ die Gedanken seines Wiener Lehrers weiterentwickelt. „Als Schüler und Mitarbeiter von Adolf Loos, bediene ich mich seiner langjährigen Erfahrung und der jahrzehntelangen unermüdlichen ins Leere gesprochenen Prinzipien des modernen Hausbaus“, vermerkt Neumann.

Die Stetigkeit, mit welcher die Loos-Architektur im „Sturm“ auch in den 1920er-Jahren thematisiert wurde, macht kenntlich, dass Walden mittels der Entwürfe und Texte des Wiener Architekten eine originäre Position im Kontext der Diskurs- und Debattenstränge des Neuen Bauens in der Weimarer Republik in Stellung zu bringen suchte.

Festzuhalten bleibt, dass sich die Gründung und frühe Profilierung des „Sturm“ in enger Überschneidung und Gleichzeitigkeit zu den Aktivitäten von Loos in Wien und Berlin formte. Walden war darum bemüht, den Wiener Architekturstreit, auch in die Diskussionen und Debatten der Berliner Moderne hineinzutragen. In Wien manifestierte sich ein prinzipieller Umgang mit moderner Kunst, der keinesfalls akzeptiert oder toleriert werden konnte. Kampagnenartiger Widerstand gegen das kulturelle und politische Establishment war daher nicht nur in Wien überlebenswichtig für die Durchsetzung von neuen künstlerischen Paradigmen, sondern auch in Berlin, wo Walden nach dem „Fall Loos“ bald den Protest „Für Kandinsky“ anschob.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine leicht veränderte Version des Aufsatzes „Er ist der einzige Architekt unserer Zeit“. Adolf Loos und der Berliner Sturm-Kreis aus dem Sammelband „Architektur im Buch“, herausgegeben von Burcu Dogramaci und Simone Förster, Dresden 2010, S. 28-40.

Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung. Robert Hodonyi hat ferner eine Dissertation zu Herwarth Walden verfasst, die unter dem Titel „Herwarth Waldens ,Sturm’ und die Architektur. Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der Berliner Moderne“ im Aisthesis Verlag erschienen ist.