Ein seltsames Buch

Ein Sammelband gibt Hinweise zum Verständnis von Walter Benjamins Buch „Deutsche Menschen“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dein Buch habe ich bekommen und danke dir herzlich […] Ich muß sagen, daß die Lektüre mich sehr ergriffen hat, der Text ebenso wie der Kommentar und ich bedaure nur das Eine, daß Du nicht doppelt so viel bringen konntest.“ Das schrieb am 1. März 1937 aus Jerusalem Gershom Scholem seinem heimatlosen Freund Walter Benjamin, der aus Paris einen Monat später antwortete, dass es ihn „außerordentlich gefreut“ habe, „daß du Charakter und Intention des Briefbuches so durchaus verstanden hast. Genau der dir unerfüllt gebliebene Wunsch war der meine: das Buch auf den doppelten Umfang zu bringen.“

Zu Lebzeiten erlebte Walter Benjamin nur wenige Buchpublikationen. Zwar hatte er mit seinen Werken zur Kunstkritik in der Romantik (1920), dem Baudelaire-Buch (1923), dem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1928) sowie der „Einbahnstraße“ (1928) die Einzigartigkeit seines Denkens dargeboten, jedoch waren die wenigen Veröffentlichungen nur Andeutungen dessen, was möglich gewesen wäre. Indes wusste der etablierte wissenschaftliche Betrieb mit Benjamin nicht viel anzufangen. Benjamin blieb ein Außenseiter des Systems – vergeblich um ,offizielle‘ Anerkennung sich mühend, mit der er sein Werk hätte vervollständigen können.

Nach der Machtergreifung der Nazis musste Benjamin Deutschland verlassen. Im Exil aber verschärften sich seine prekären Lebensumstände. Trotzdem erschien im Herbst 1936 das „Briefbuch“. Es handelte es sich dabei um „eine Folge von Briefen“ aus dem Zeitraum 1783 bis 1883, der Epoche eines geiststarken Bürgertums. Benjamin hatte diese bereits 1931/1932 mit Kommentaren versehen in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlicht. Schon diese Fortsetzungsreihe, darauf verweist Adorno in seinem Nachwort zum neu aufgelegten Band 1962, hatte im Schatten des heraufziehenden Faschismus enorme Wirkung gezeigt. Die von Benjamin ausgewählten Briefe erschienen vielen Lesern als Mahnung an ein anderes, ein besseres Deutschland.

Nun, 1936, schien der Nationalsozialismus alles ,Deutsche’ ideologisiert zu haben. Hohe Zeit für ein Zeichen: Und so erschien die Brieffolge unter dem Titel „Deutsche Menschen“ auch in der Absicht, erneut nach Deutschland hinein zu wirken. Zur „Methode des enthüllenden Verbergens“, die das Buch in ein altdeutsches Design passte, auf dessen Einband die drei Sätze „Von Ehre ohne Ruhm“, „Von Größe ohne Glanz“ und „Von Würde ohne Sold“ deutlich sichtbar in gotisierenden Lettern unter dem Titel standen, gehörte auch die ,Verfremdung’ des Verfassernamens: nicht Walter Benjamins Name tauchte auf, sondern: „Auswahl und Einleitungen von Detlef Holz“.

Das Buch wurde zu Benjamins größtem ,Erfolg‘ zu Lebzeiten. Ein Erfolg, der in der Nachschau wie eine weitere traurig-ironische Anmerkung zu Benjamins Leben und Werk erscheint: die ,Wirkungen‘ seines Denkens erlebte er nicht mehr. Am 26. September 1940 nahm der Verzweifelte sich auf der Flucht vor den Faschisten das Leben.

Erst 1962 erschien eine neue Ausgabe des Buchs. Verantwortlich war nun Theodor W. Adorno, der dem Band auch ein Nachwort beigab. Er veränderte das Buch. Vom Einband verschwanden die drei Mottosätze ins Innere. Die „Komposition“ aus kursiv gesetztem Vorwort, dem normal gesetzten „bevorwortenden Brief“ Karl Friedrich Zelters an den Kanzler von Müller zum Tode Goethes, sowie die gleichermaßen recte gesetzten Briefe mit den in kleinerer Schrifttype gesetzten Einleitungen, jeweils durch die Briefüberschrift (wer an wen) zusammengehalten, wurde aufgegeben. Kursiv sind in der erhältlichen Suhrkamp-Taschenbuchauflage von 2006 nun die Briefe gesetzt, welche die Briefüberschrift benennt. So sind sie hervorgehoben, aber auf irritierende Weise vom einleitenden Text abgesondert. Vor allem aber änderte Adorno den Buchtitel: „Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen ausgewählt und eingeleitet von Walter Benjamin“. Ein Versehen in guter Absicht, weil der Name Detlef Holz sich nach der Zerschlagung der Naziherrschaft erledigt hatte? Wie so oft bei Adorno lohnt sich die Nachfrage: mit Detlef waren seit den 1920er Jahren die vertraulichen Briefe Benjamins an Gretel Karplus unterzeichnet. Sie wiederum zeichnete ihre Briefe mit Felicitas. Aus Gretel Karplus wurde Gretel Adorno. Als so aber Felicitas verschwunden war, mochte da nicht Detlefs Verschwinden folgerichtig erscheinen?

Zu solchen Überlegungen verleitet Barbara Jahns Aufsatz „Die Folgen eines seltsamen Buches“. Er ist nachzulesen in dem Band „Walter Benjamins ,Deutsche Menschen’, in dem die Herausgeber Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs in der Berliner Akademie der Künste, und Barbara Hahn Beiträge versammeln, die die Umstände der Entstehung des Buches, seine Wirkung und seine Bedeutung bis heute zu erkunden suchen. So hinterfragt etwa Erdmut Wizisla die persönlichen Widmungen, die Benjamin in die Bücher schrieb, die er Freunden schickte. Oft taucht in diesem Widmungen das Motiv der „Arche“ auf. So sei das Buch als Arche in der Sintflut des Faschismus zu verstehen. Sinnfällig wird zudem das Pseudonym Detelf Holz.

Die spezifische Funktion von Benjamins Buch in einer historischen Situation thematisiert auch Michael Diers in seinem anregendem Beitrag „zur politischen Physiognomie“ des Briefbuchs. In der Absicht, auf ein anderes, besseres Deutschland zu verweisen, vergleicht Diers Benjamins Buch mit der Porträtsammlung, die der Fotograf August Sander 1929 unter dem Titel „Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen“ veröffentlicht hatte. Der Band war eine ,Vorankündigung‘ des großartigen Projekts „Menschen des 20. Jahrhunderts“, mit dem der Fotograf ein eigenwilliges Archiv seiner Epoche anlegen wollte. Beide Projekte, so schreibt der Autor, „rücken deutsche Zeugen oder Zeugnisse (,deutscher Menschen‘) ins Zentrum.“ Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vereinnahmung alles Deutschen stehen sie für eine humanistische Tradition des Deutschen. Durchaus mit einer pädagogischen Intention: beide Bücher sind so verstanden „Hilfsmittel“ zur Entwicklung von Widerständigkeit.

Nach der Zerschlagung des Faschismus verlor der historisch-politische Anlass seine Bedeutung zum ,Verständnis‘ des Briefbuchs. Heute liest man das Buch, so wie Adorno es in seinem Nachwort beschreibt, als ein Werk, das „durch Auswahl und Anordnung Benjamins Philosophie durchschlagen lassen“ will. Als ein „philosophisches Werk“ genügt es gewissermaßen sich selbst. Wer dennoch mehr und anderes ,verstehen‘ will, der greife begleitend zu dem Sammelband.

Titelbild

Walter Benjamin: Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. 4. Auflage.
Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2006.
99 Seiten, 5,50 EUR.
ISBN-10: 3518374702
ISBN-13: 9783518374702

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Erdmut Wizisla / Barbara Hahn (Hg.): Walter Benjamins "Deutsche Menschen".
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
190 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302310

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch