Dreißig Grad plus

In seinem Debütroman „Misfit“ erzählt Vincent Overeem von einem Sommer lähmender Lethargie und den Geistern der Vergangenheit

Von Meike BlatzheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Blatzheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist die glühende Hitze des Sommers, die die Atmosphäre in Vincent Overeems Roman „Misfit“ prägt. „Wie Katzen lebten wir, schläfrig und zurückgezogen“, stellt der 18-jährige Ich-Erzähler fest. Mit Kaat, der Schönen, der Geheimnisvollen, teilt er ein Zimmer. Der Radius der Liebenden beschränkt sich auf eine alte Matratze auf dem Boden – und doch schlafen sie nicht mehr miteinander. Launisch und wortkarg hat die Hitze Kaat werden lassen, taub gegenüber allen Vorschlägen. So versinkt der Erzähler allein in seinen Erinnerungen. Und der Roman, der so harmlos begonnen hat, als Sommergeschichte einer ersten Liebe, versinkt mit ihm.

Zu den harmlosen, den erfreulichen Erinnerungen gehört das erste Zusammentreffen mit Kaat in der Straßenbahn an der Universität und darauf folgende Wochen im Lesesaal. Wartend darauf, dass die junge Frau zur Tür hereinkommt und in Gedanken bei den Eltern, denn der Ich-Erzähler weiß: sie wären stolz auf ihn. „Wenn ich ihnen sagen würde, dass ich hier jeden Tag war: in der U-ni-ver-si-tät. Bitte schön vornehm aussprechen. Zwischen den Leutchen mit ihren Systemchen, ihren Ideechen, ihrer Vorstellung, dass unser Leben irgendeinen Sinn, einen Zweck hat.“ Dass das Leben keinen Sinn hat, ist für Overeems Ich-Erzähler eine ausgemachte Sache. Wissen aus Büchern gilt ihm nichts, er verbringt seine Tage in fremden Wohnungen, wo er Stadig, seinem Vermieter, bei Renovierungsarbeiten hilft. Und trifft, wir haben es geahnt, Kaat in jenem Moment wieder, in dem er die Suche aufgeben will.

Zu den düsteren Erinnerungen gehören diejenigen an die Herkunft, die Provinz, die vor dem Aufbruch in die Stadt liegt. Mit Geburt des fünf Jahre jüngeren Bruders Krijn haben sich die Eltern entfremdet, seit Jahren schläft die Mutter im Gästezimmer, steht der Vater fast jede Nacht auf, weil er als Tierarzt zu Notfällen gerufen wird. Mit dem Kleine-Mädchen-Traum vom Tierarzt-Werden hat der Beruf des Vaters in „Misfit“ wenig zu tun. Es werden tote Kälber im Mutterleib zersägt, verschwinden Arme im After der Tiere und liegen steif gefrorene Fohlenleichen auf winterlichen Höfen. Ihn auf diese nächtlichen Einsätze mitzunehmen, gehört für den Vater zum Abhärtungsprogramm für Krijn, der antriebslos und weich ist, der lieber mit der Mutter auf dem Sofa liegt als seine Hausaufgaben zu erledigen. Als „Missgeburt“ tituliert der Vater den jüngeren Sohn, lässt sich einmal sogar zu einer Analogie aus dem Tierreich hinreißen, spricht von älteren Kühen, die keine gesunden Kälber mehr bekommen. Der Erzähler, der „nie ein schöneres Geburtstagsgeschenk“ erhalten hat als den kleinen Bruder, hält zu Krijn, nimmt ihn in Schutz und sorgt sich um ihn, und doch – wenn er an das Leben vor Krijns Geburt zurückdenkt, kann auch er nicht umhin, den kleinen Bruder von Zeit zu Zeit zu verwünschen.

Es ist ein Sommer allgemeiner Orientierungslosigkeit, der in Overeems Debüt herrscht. Da kann man recht ins Grübeln kommen, wer außer Krijn ein „Misfit“ ist, ein Außenseiter, ein nicht dazupassendes Stück. Der Erzähler, der sein Leben in engen vier Wänden vertrödelt? Kaat, die sich ebenso lustlos auf der Matratze räkelt und nicht weiß, ob sie ihr Studium weiter führen will? Die Stimmung zwischen den Liebenden verschlechtert sich mit jedem Grad mehr auf dem Thermometer, die Welt verengt sich auf Kaat, den Erzähler und Stadig, den vielleicht eine Affäre mit Kaat verbindet. „Wurden die Zimmer, in denen wir arbeiteten, nicht überhaupt immer kleiner?“, fragt der Erzähler sich bei der Arbeit in einer der Wohnungen.

Und dann der Showdown. Eine Ohrfeige, ein Missverständnis, eine große Überraschung für den Leser. Es lässt sich nicht vermeiden, dass die Rezension so kryptisch bleibt wie es der Roman für den Leser ist, bis er begreift, was der Autor stets mitschwingen ließ, nie aussprach. Wie sagt der Ich-Erzähler einmal zu seinen Freunden im Dorf? „So ein Junges, das in der Savanne neben seiner toten Mutter steht, macht doch auch einfach weiter!“

Titelbild

Vincent Overeem: Misfit. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Christiane Kuby.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
236 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008879

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