Konsequent historisch

Über zwei neue Bände der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe

Von Klaus-Peter MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist noch zu früh, ein abschließendes Urteil über die Oßmannstedter Wieland-Ausgabe zu treffen. Doch bereits jetzt muss dieses Projekt als editorisches Ereignis gewürdigt werden. Nicht weil hier eines der letzten großen wissenschaftlichen Desiderate zur Weimarer Klassik endlich erfüllt wird. Nicht wegen der philologischen und typografischen Qualitäten der Edition, das und muss man von einem solchen Vorhaben erwarten. Die Kritik hat sich nach dem Erscheinen der ersten Bände beifällig darüber ausgesprochen. Dieses Lob muss hier nicht wiederholt werden. Es genügt, darauf hinzuweisen und es zu bestätigen.

Die besondere Leistung dieser Ausgabe, das Beunruhigende, Neue ist die konsequente Verwirklichung des historischen Prinzips. Obwohl bisher nur einige Text-Bände vorliegen – der Apparat, der zu so einer Ausgabe gehört, wird später in komplementären Kommentar-Bänden hinzugefügt – lässt sich bereits jetzt resümieren: Die editorische Kategorie historisch-kritisch wird durch die Oßmannstedter Wieland-Ausgabe eine neue Bedeutung erhalten. Die Editionswissenschaft sieht sich durch diese Ausgabe vor die Frage gestellt, ob das hier entwickelte Modell von Textpräsentation geeignet ist, das gesamte literarische Werk Wielands in einer Druckversion darzustellen, ob es sich auch auf andere Autoren anwenden ließe, ob es nicht das gebotene Modell für historisch-kritische Edition überhaupt ist.

Bisher wurde der Begriff – auch in umfassenden Werkausgaben – vor allem auf die genetische Darbietung der einzelnen Texte bezogen, so dass historisch-kritische Gesamtausgaben in der Regel nichts anderes als planvoll komponierte historisch-kritischen Einzelausgaben sind. Untersucht man die innere Ordnung verschiedener Ausgaben, wird dieses Dilemma der Editionspraxis offenbar. Für Theodor Fontane existiert, von Briefausgaben abgesehen, bislang lediglich eine historisch-kritische Ausgabe des nachgelassenen Werkes „Mathilde Möhring“ (die 1998 von Roland Reuß und Peter Staengle vorgelegte „Stechlin“-Ausgabe blieb die Edition der Handschriften schuldig). Die Große Brandenburger Ausgabe wie auch die beiden umfangreichen Studienausgaben aus dem Nymphenburger und dem Hanser Verlag haben das Werk Fontanes unterschiedlich gegliedert, wobei jeweils Entscheidungen getroffen wurden, die nicht nachvollziehbar sind. Das Problem, dass sich Texte unterschiedlichen Werkkomplexen zuordnen lassen, könnte durch das chronologische Ordnungs-Prinzip umgangen werden. Dafür handelte sich ein so fundiertes Editionsprojekt jedoch diverse neue Kalamitäten ein. Komplexe Werke, die vom Autor aus bereits früher publizierten Feuilletons zusammengestellt wurden, müssten auseinandergerissen werden, die zahllosen kleineren Texte des publizistischen Werkes und die zerstreut erschienenen Gedichte würden erdrückt durch die in zeitlichem Kontext stehenden größeren Texte. Die Notwendigkeit, Werke, die vom Autor in stark voneinander abweichenden Fassungen publiziert wurden, mehrfach zu präsentieren, führte bei einem ohnedies umfangreichen Werk wie dem Fontanes rasch zu Quantitätsproblemen (allerdings wurde eine solche Paralleledition der wichtigsten Fassungen beispielsweise für die „Wanderungen“ seit Jahren von der Forschung angeregt). Eine Darbietung der überlieferten Handschriften etwa als Faksimile-Edition wäre mit Mitteln der Print-Edition schon aus Kapazitätsgründen kaum noch zu leisten.

Auch andere Editionsprojekte stehen vor ähnlichen Problemen. In der Regel weisen Editionen daher heute eine klassifizierende Tektonik auf. Es lassen sich aber auch Ansätze beobachten, dieses Prinzip zu überwinden und die Texte nach anderen Kriterien anzuordnen. Neben einem an Besonderheiten der Überlieferung orientierten Modell gab es bemerkenswerte Versuche, eine vollständige oder in Teilen chronologische Anordnung zu erreichen. Der Gedanke ist nicht neu. Bereits Herder verlangte, dass gesammelte Werke durch die Reihenfolge der Darbietung die Entwicklung des Schriftstellers präsentieren müssten. Dieser Anspruch wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Propyläen-Ausgabe von Goethes sämtlichen Werken auf beeindruckende Weise erfüllt. Die Herausgeber der Münchner Goethe-Ausgabe erklärten später, dass das streng chronologische Ordnungsprinzip der Propyläen-Ausgabe eine Zerstückelung des Gesamtwerks nach sich gezogen habe, wodurch den Lesern die Orientierung erschwert würde. Sie versuchten, eine größere Übersichtlichkeit und Nutzerfreundlichkeit zu erreichen, indem sie das Werk nach Schaffensepochen gliederten, innerhalb derer die üblichen Gruppierungen gebildet wurden. Auch die im Deutschen Klassiker-Verlag erschienene Lessing-Ausgabe präsentiert Werke und Briefe nach Schaffensphasen. Ein besonders imponierendes Plädoyer für die chronologische Edition stellt der abschließende 20. Band der Frankfurter Ausgabe der Werke von Friedrich Hölderlin dar, der die in den vorangegangenen Bänden edierten Werke und Briefe in der Reihenfolge ihrer Entstehung rekapituliert. Im Vorwort zu diesem Band erklärte der Herausgeber, das „allein adäquate Ordnungsprinzip“ für eine „prozessuale Textdarstellung“ sei die Zeit. Neben die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe hat Dietrich Eberhard Sattler die Bremer Ausgabe gestellt, in der Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge abgedruckt sind, denn dies ist seiner Meinung nach die „vorgegebene, natürliche“ Anordnung.

Die Oßmannstedter Wieland-Ausgabe nun setzt von Anfang an auf eine chronologische Darbietung des gesamten Werkes. Jeder Text, den Wieland publiziert hat, auch seine Übersetzungen und Kommentare zu Texten anderer Autoren, wird im Kontext seiner Entstehung präsentiert, in den literarischen Produktionsprozesses des Autors, Übersetzers, Publizisten und Herausgebers eingeordnet, unabhängig davon, wie umfangreich er ist, welcher Gattung er angehört und auf welche Art Wieland daran beteiligt ist. Kriterium für die Anordnung des Textes ist ausschließlich das Publikations-Datum. Die Idee ist so einfach wie faszinierend. Durch eine das gesamte Werk berücksichtigende bibliografische Numerierung und ausgeklügelte Inhaltsverzeichnisse der einzelnen Bände gelingt es, die Texte übersichtlich und ökonomisch in der Reihenfolge ihrer Erstpublikation zu präsentieren. Jeder Text, jede Ausgabe ist chronologisch eingeordnet und in der historischer Präsentationsform sinnfällig erfassbar. Der Index wird zur Bibliografie, zum Register und Leitfaden der Edition. Neue Ausgaben und Auflagen werden zum jeweiligen Erscheinungsdatum im Register des betreffenden Bandes präsentiert. Wo ein Text nicht noch einmal abgedruckt werden musste, weil er nur geringfügig bearbeitet oder variiert erschien, lenkt ein evidentes Verweisungssystem die Nutzer auf die Stelle, wo er zu finden ist. Die Darstellung der Varianten wird in den Kommentarbänden erfolgen. Nur bei grundlegenden Neubearbeitungen ist auch ein vollständiger Neuabdruck vorgesehen, so dass man die wichtigen im historischen Rezeptionsprozess wirkenden Fassungen neben einander halten kann.

Die beiden zur Beurteilung vorliegenden Textbände 10 und 11 – Band 10 ist in zwei Teilbände gegliedert – präsentieren Wielands Werke aus den Jahren 1772-1775. Sie enthalten die Romane „Agathon“ und „Abderiten“, Singspiele und kleinere publizistische Werke. Wieland wird als Autor, Kommentator, Publizist und Rezensent sichtbar. Abgedruckt sind die jeweils ersten publizierten Fassungen. Für die „Abderiten“ bedeutet dies, dass der edierte Text der Erstpublikation im „Teutschen Merkur“ folgt. Die Separat-Ausgabe des 1. Teils von 1774 ist im Inhaltsverzeichnis beschrieben. Sie enthält die Kapitel 1 bis 14. Das grau gerasterte Druckbild im Inhaltsverzeichnis der Oßmannstedter Ausgabe weist darauf hin, dass es sich hier um eine kaum variierte neue Ausgabe eines Textes handelt, der bereits an anderer Stelle vollständig abgedruckt ist. Durch Verweisungen werden die Nutzer zu den entsprechenden Teilen des „Teutschen Merkur“ geführt. Dadurch, dass sukzessiv erscheinende Werke und Ausgaben vollständig dem Erscheinungsdatum der 1. Lieferung bzw. des 1. Bandes zugeordnet sind, ergeben sich zwangsläufig Sprünge im zeitlichen Verlauf der Ausgabe. Der Text der „Abderiten“ wird vollständig dem 1. Stück des 5. Bandes des „Merkur“ (März 1774) angeschlossen, obgleich das Werk in mehreren Folgen mit größeren Unterbrechungen von 1774 bis 1780 erschienen ist, der Zeitraum der ersten Publikation mithin auch die Grenzen des Bandes (1773-1775) überschreitet. Diese Entscheidung war notwendig, damit Werke und Sammelausgaben als Ganzes dargestellt und wahrgenommen werden können. Im links unten angeordneten Kolumnentitel läuft eine Zeitleiste für die Leser mit. Im Inhaltsverzeichnis erscheinen die einzelnen Fortsetzungen in den verschiedenen Heften der Zeitschrift jeweils grau gerastert indiziert mit Verweisen auf die Stelle, wo das Kapitel abgedruckt ist. Nach kurzer Übung und wenigen Irritationen kam ich mit dieser Art der Textpräsentation problemlos zurecht. Wie bei der Lektüre der Werke Goethes in der Propyläen-Ausgabe werden die Texte Wielands durch die Oßmannstädter Ausgabe in ihrem historischen Kontext wahrnehmbar. Das ist ein großer Vorteil dieser Ausgaben. Denn es ist etwas anderes zu sehen, in welchem Umfeld etwa der „Faust“ entstand, als es durch einen Kommentar erklärt zu bekommen.

Der Versuch, die vielfältigen Formen der Auszeichnung in den historischen Ausgaben auf wenige einfache und evidente Prinzipien zu reduzieren, überzeugt nicht in jedem Fall, wenn der eingeschlagene Weg der Vereinheitlichung auch richtig und notwendig ist. Die in den editorischen Grundsätzen formulierte Regel, dass anstelle der vielfältigen historischen typografischen Varianten die „den Auszeichnungen unterliegenden Intentionen“ dargestellt werden, und zwar lediglich der „semantisch relevanten“ Hervorhebungen, muss historisch erfahrene Leser verunsichern, die etwa mit dem Wechsel von Fraktur und Antiqua vertraut sind. In Folge dieser Entscheidung sind fremdsprachliche oder frühneuhochdeutsche Texte komplett kursiv gedruckt. Das ist nicht akzeptabel. Für Wielands Zeitgenossen war die Spannung zwischen Fraktur und Antiqua ein wichtiges Ausdrucksmittel, auf das keine Ausgabe verzichten sollte. Auch einige andere typografische Elemente sind unbefriedigend. Der Schriftgrad des Zeilenzählers ist zu klein und die in den Inhaltsverzeichnissen angebrachten Verweisungen auf andere Bände sind so winzig, dass man sie nur mit einer Lupe lesen kann.

Diese wenigen Ausstellungen sollen nicht darüber beirren, dass mit der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe eine anspruchsvolle und, so weit sich das bereits jetzt beurteilen lässt, in weiten Teilen überzeugende Edition erarbeitet wird, die die Forschung zu Wieland und seinen Zeitgnossen auf vielfältige Weise befruchten wird und die der Editionswissenschaft und -praxis zugleich einen wertvollen Impuls verleihen könnte. Werden die Wieland-Leser nun ihre handliche Göschen-Bändchen zum Antiquar tragen und sich die Oßmannstedter Ausgabe zulegen? Das ist eine Entscheidung, die neben dem bibliophilen auch einen finanziellen Aspekt hat, der hier nicht übergangen werden darf. 300 Euro kosten die beiden Teilbände des zehnten Bandes, 250 sind für den Band 11 zu bezahlen. Der Editionsplan umfasst 36 Bände. Da zu jedem Text-Band auch ein Kommentar vorgesehen ist, müssen für die nächsten Jahre, das Gesamtwerk soll bis 2019 erscheinen, Mittel in vergleichbarer Höhe für über 72 Bände eingeplant werden. Das komplette Werk wird wohl über 20.000 Euro kosten. Da wird dann sicher auch noch der ausführliche Register-Band drin sein, der trotz des sorgfältigen Editionsplanes nötig werden wird, um die Oßmannstädter Ausgabe handhabbar zu machen.

Die Frage, in welcher Weise die Edition auch digital angelegt ist, wird durch die Konzeption nicht beantwortet, obwohl so große Editionsprojekte dauerhaft nicht mehr nur als Print-Version Bestand haben können. Auf der Internet-Seite des de Gruyter Verlages findet sich wenigstens die Angabe, dass die Wieland-Ausgabe auch als eBook erhältlich sei, derzeit allerdings nur für Bibliotheken und Institutionen – mit einer unverbindlichen Preisempfehlung, die den Bandpreis sogar noch übersteigt. Popularisiert wird Wieland also durch die neue Ausgabe nicht. Er kommt in die Fach-Bibliotheken, die sich solche Kosten leisten können beziehungsweise von großzügig fördernden Stiftungen begünstigt sind.

Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma haben das anspruchsvolle Projekt der historisch-kritischen Ausgabe der Werke von Christoph Martin Wieland in ihre Obhut genommen, zwei Wissenschaftler, die sich durch ihre Publikationen und ihr verdienstvolles Engagement für das Gut Oßmannstedt als Spezialisten und Liebhaber ausgewiesen haben. Die Arbeitsstelle der Edition ist an der Universität Jena angesiedelt, sie wurde nach dem Ort benannt, der für Wieland so eine große Rolle gespielt hat, sein Sabinum war, sein Refugium und das letztendliche Ziel seiner Lebens-Reise. Das Namens-Patronat imaginiert die Poesie des Ortes. Ein glückliches Vorzeichen. Der beste Ort für eine Arbeitsstelle Wieland-Edition. Die Fachwelt wartet gespannt auf die weiteren Bände, die in rascher Folge in den nächsten Jahren erscheinen sollen.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Werke. Band 10.1 (Text), Teilband 1: Mai 1772. Teilband 2 Band 2 Mai 1772 – Juli/August 1773.
Bearbeitet von Hans-Peter Nowitzki und Tina Hartmann.
De Gruyter, Berlin 2009.
558, 643, 299,00 EUR.
ISBN-13: 9783110221572

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Titelbild

Christoph Martin Wieland: Werke. Band 11.1 (Text): September 1773 - Januar 1775.
Bearbeitet von Klaus Manger und Tina Hartmann.
De Gruyter, Berlin 2010.
763 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110221565

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