Glück, Unglück und Moral
Lew N. Tolstojs „Anna Karenina“ als Familienroman
Von Robert Hodel
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art“. – Bereits dieser vielzitierte erste Satz in Tolstojs Roman „Anna Karenina“, einem der hochrangigen Familienromane der Weltliteratur, scheint die Familie über das Individuum zu stellen. Der Roman handelt von fünf miteinander verwandten und verschwägerten Familien, von denen zwei in Petersburg (Karenin, Vronskij), zwei in Moskau (Levin und Scerbackij) und eine in beiden Städten (Oblonskij) ansässig sind. Liest man den Eingangssatz vom Romanende her, liegt der Schluss nahe, dass im patriarchalisch-“dörflichen“ Moskau die glücklichen und im mondän-liberalen Petersburg die unglücklichen Familien leben und dass das Glück letztlich an eine Erziehung zu Religion und Moral gebunden ist. Davon spricht auch eine Passage im letzten Teil des Romans, der Levins Bekehrung gewidmet ist: „Er hatte (ohne dass er sich dessen bewusst war) nach jenen geistigen Grundsätzen gelebt, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte, aber beim Nachdenken über das Leben hatte er diese Grundsätze nicht anerkannt und sich sogar mit Vorbedacht über sie hinweggesetzt. Jetzt war er zu der Überzeugung gekommen, dass er nur dank jenen Grundsätzen leben konnte, nach denen er erzogen worden war. […] Hat mich etwa meine Vernunft zu der Erkenntnis gebracht, dass man seinen Nächsten lieben muss und nicht umbringen darf? Man hat mir dies in der Kindheit gesagt, und ich habe es bereitwillig geglaubt, weil es dem entsprach, was mir meine Seele sagte. Doch wer hat dies entdeckt? Nicht die Vernunft. Die Vernunft hat den Kampf ums Dasein entfesselt und den Grundsatz aufgestellt, dass man jeden umbringen muss, der uns bei der Befriedigung unserer Wünsche behindert.“
Ist der Autor tatsächlich der Meinung, dass seine Protagonisten nur unter bestimmten Bedingungen – in einem agrarisch-patriarchalisch geprägten Russland volksreligiös orientierter Familien – zu einem moralischen Leben finden? Betrachten wir dazu die fünf Familien genauer. Hierbei ist vorauszuschicken, dass wir bei der Einschätzung der einzelnen Protagonisten aus raumstrategischen Gründen das implizite Wertsystem des Romans übernehmen, ohne damit eine eigene Wertung zu verbinden.
Von der Familie Vronskij, die hier in exemplarischer Weise am ausführlichsten beschrieben werden soll, stehen sechs Mitglieder im Vordergrund: die Brüder Aleksej und Aleksandr, die noch unlängst zu den glänzendsten Vertretern der Petersburger „jeunesse dorée“ gehörten, ihre Mutter (Gräfin Vronskaja), ihr Vater (Graf Kirill Ivanovic), ihre Cousine Betsi Tverskaja und eine weitere, namenlose Verwandte. Vom Vater erfahren wir lediglich (aus Levins Sicht), dass er „dank seiner Durchtriebenheit aus dem Nichts an die Oberfläche gekrochen ist“. Insofern stehen er und seine Familie den „alten Moskauer Adelsgeschlechtern“ Levin und Scerbackij gegenüber, die Konstantin Levin – wider seine sonstige Bescheidenheit – als wahre „Aristokraten“ bezeichnet.
Zentral für die Erziehung der beiden Brüder ist die Mutter, der sich beide „unterzuordnen“ gewohnt sind und mit der sie jede wichtige Entscheidung abstimmen. Von ihr heißt es im ersten Teil des Romans: „Ein Familienleben hatte Wronski nie kennengelernt. Seine Mutter war in jungen Jahren eine glänzende Salondame gewesen, die während ihrer Ehe und namentlich nach dem Tode ihres Mannes zahlreiche, in der Gesellschaft vielbesprochene Liebesaffären gehabt hatte. Auf seinen Vater besann er sich kaum, und erzogen wurde er im Pagenkorps.“
Vronskijs Mutter selbst orientiert sich ausschließlich an der Petersburger „guten Gesellschaft“ (svet). So ist sie etwa von Aleksejs Verbindung mit Anna entzückt, „weil in ihren Augen nichts so sehr zur letzten Vollendung eines jungen Weltmanns beitragen konnte wie ein Verhältnis in der großen Welt“. Doch als Karriere und Ansehen des Sohnes einzubrechen drohen, lehnt sie die noch unlängst verehrte Anna ebenso selbstverständlich und rigoros ab. Vielsagend ist auch ihr letzter Auftritt, in dem sie Vronskijs verzweifelten Entschluss, in den Kampf gegen die Osmanen zu ziehen, bedauert: „Für mich als Mutter ist es natürlich furchtbar; und vor allem, man sagt ja, ce n’est pas très bien vu à Pétersbourg“.
Der Roman suggeriert sehr wohl, dass Vronskijs Familie dafür verantwortlich ist, dass er seine Mutter „im Grunde seines Herzens“ weder liebt noch achtet, dass er sich das Familienleben und besonders den Ehemann als etwas „Wesensfremdes“, „Feindseliges“ und geradezu „Lächerliches“ vorstellt und dass er Frauen wie die Baronesse Šil’ton jenen „ordinären“ Frauen vorzieht, die für voreheliche Jungfräulichkeit und eheliche Treue einstehen.
Dieser familiären Prägung unterliegen auch die weiteren Mitglieder. Vom älteren Bruder Aleksandr, der als Familienvater eine Tänzerin aushält, erfahren wir, dass er Aleksejs Verhältnis zu Anna nur deshalb verurteilt, weil „diese Liebe in jenen Kreisen Missfallen erregte, deren Gunst man sich erhalten musste“. Auch eine Scheidung kann sich Aleksandr sehr wohl vorstellen, freilich nur unter der Bedingung, dass die „Gesellschaft“ diese gutheißt. Mit seinem Bruder teilt Aleksandr auch den ausschweifenden, schuldenreichen Lebensstil, der zugleich an einen gewissen Geiz gekoppelt ist. Aleksandr und seine Frau, die der geächteten Anna ihr Haus verbieten, erinnern Aleksej beständig daran, dass er ihnen einen bedeutenden Teil des Erbes freiwillig abgetreten habe, weil sie befürchten, Aleksej könnte sich umentscheiden. Auch Aleksejs Großzügigkeit erweist sich als vordergründig, denn dort, wo der svet nicht präsent ist und also sein „Glanz“ (blesk) nicht auf dem Spiel steht – wie etwa bei seinen Bauern, die ihn vergeblich um einen niedrigeren Pachtpreis bitten – ist Aleksej unerbittlich und „geizig“: „‚Ja, der Herr ist geizig‘, bekräftigte der Kontorist“.
Die vielleicht plakativste Figur des Romans ist Vronskijs Cousine Betsi Tverskaja, eine geborene Vronskaja, die mit einem reichen Vetter Anna Kareninas verheirat ist. Als souveräne Vertreterin der „eigentlich großen Welt, jene Welt der Bälle, Diners und glänzenden Toiletten, die sich mit einer Hand an den Hof klammerte, um nicht zur Halbwelt herabzusinken“, vereinigt die Fürstin in prototypischer Weise fast sämtliche vom Text negativ eingeschätzten Charaktermerkmale: Sie hat riesige Einnahmen und Ausgaben, raucht, pudert ihr Gesicht, liebt Tratschgeschichten, pflegt Umgang mit Menschen mit überwiegend fremd klingenden Namen, achtet die Religion gering, spricht sich für liberale Ehegesetze aus, ergötzt sich am Einfädeln von Annas Ehebruch und ist ständig von schönen Lakaien und Liebhabern umgeben, ohne sich dabei die Vorzüge einer Ehe mit einem betuchten „dicken, gutmütigen Herrn“ entgehen zu lassen. Die Fadenscheinigkeit ihrer Liberalität zeigt sich besonders deutlich darin, dass auch sie Anna meidet, nachdem diese mit den Konventionen des Petersburger svet gebrochen hat.
Im Text wird noch eine junge Verwandte der Betsi Tverskaja erwähnt, deren Eltern aus der Provinz von Stolz erfüllt sind, dass ihre Tochter den Sommer bei der „vielgepriesenen Fürstin“ zubringt. Bis in die letzten Verästelungen des Stammbaums also scheinen Eitelkeit und Eigenliebe die Handlungsmotive der Familie Vronskij zu sein. Dies trifft letztlich auch auf Aleksej Vronskij selbst zu: Bestimmt ist im Gesamtkontext des Romans zu bedenken, dass Vronskij durch Anna sein Leben radikal ändert. Der souveräne Dandy wird zum leidenschaftlich Liebenden, dessen „Ergebenheit“ mit einem „klugen Hund“ verglichen wird. Er will sich gar umbringen, als Karenin ihm am Bett der gebärenden Anna verzeiht und er erkennt, dass er auf eine aussichtslose Weise von „echter Liebe“ erfüllt ist. Freilich führt er auch dieses Vorhaben, wie alles, was er in seinem Leben anrührt, nicht konsequent durch. Und auch das Motiv seiner Handlungen scheint sich bis zum Schluss nicht verändert zu haben. Wie sein Selbstmordversuch als Reaktion auf die objektlos gewordene Eigenliebe gedeutet werden kann (die Liebschaft mit Anna ersetze für ihn den „Glanz“ der Militärkarriere, heißt es an einer Stelle), zieht Vronskij auch am Ende nicht etwa allein in den Krieg, sondern führt effektvoll eine „ganze Schwadron“ mit sich. Wie Levin fürchtet, dass „Wronski sie [Anna] nicht völlig verstehe“, denkt auch Anna, vor ihrem Tod, negativ über ihren Liebhaber: „Was hat er in mir gesucht? Nicht so sehr Liebe als vielmehr Befriedigung seiner Eitelkeit“.
Während Aleksej Vronskij als Vertreter einer hedonistischen Militärkaste betrachtet werden kann, steht Aleksej Karenin für die künstliche und aufgeblasene staatliche Administration. „Er hatte zeit seines Lebens mit Akten und dienstlichen Angelegenheiten zu tun gehabt, die nur Reflexe des Lebens darstellten.“ Mit diesem Satz wird er zu Beginn der Ehekrise eingeführt.
Wie Vronskij trägt dabei auch der gefühlsarme Karenin durchaus menschliche Züge. Sie manifestieren sich bei ihm in der Fähigkeit zu Mitleid. Doch auch Karenin fehlt es dabei an Konstanz. Er verzeiht zwar seinem Rivalen am Kindsbett inniglich, doch machen diese Gefühle bald wieder Rachegedanken und falschem Ehrgeiz Platz. Denn statt seinen Sohn, zu dem er keinen Zugang hat, der geliebten Mutter zu überlassen, entscheidet er sich, unter dem Einfluss des dubiosen Clairvoyant Landau, prinzipiell gegen eine Scheidung. Die Parallelität der beiden Aleksejs reicht bis in die Motivation ihres Verhaltens hinein. Wie Vronskij hat auch Karenin nie ein familiäres Vorbild gekannt. Er ist mit seinem Bruder, der als Diplomat im Ausland lebte und dort auch starb, als Waise aufgewachsen: „Auf den Vater konnten sich die Kinder nicht besinnen, und die Mutter war gestorben, als Alexej Alexandrowitsch im zehnten Lebensjahr stand“. Da das hinterlassene Vermögen nur klein war, nahm sich der Onkel – ein „hoher Würdenträger“ mit Beziehungen zum Hof – der Erziehung der beiden Brüder an. Mit diesem Onkel nahm auch die lebensfeindliche Konzentration seines Ehrgeizes auf eine „glänzende Laufbahn“ ihren Anfang – eine Eigenschaft, die sich bereits auch bei seinem Sohn Sergej bemerkbar macht.
Als Stiva Oblonskij in Petersburg den Einstieg ins Kapitalgeschäft einfädelt, das ihm skrupellose 8.000 Rubel Salär bringen wird, wohnt er beim feuchtfröhlichen sechzigjährigen Fürsten Petr Oblonskij. Dessen Vorstellungen über Russland und den Westen könnten (nach 26 Jahren) ebenso gut aus Stivas Mund stammen: „Dann kam ich nach Russland zurück – ich musste zu meiner Frau, und noch dazu aufs Land –, nun, du wirst es nicht glauben wollen, aber nach zwei Wochen zog ich meinen Schlafrock an und hörte auf, mich zum Essen umzukleiden. An junge Frauenpersonen war nicht mehr zu denken! Ich war ein richtiger Greis geworden, der nur noch für sein Seelenheil zu sorgen hat. Da fuhr ich nach Paris und lebte wieder auf.“
Kaum besser verhält es sich mit Stivas Tante Varvara, die als „reiche Dame, die im Gouvernement großes Ansehen genoss“, ihre Nichte Anna zielstrebig mit dem zögerlichen Gouverneur Karenin verkuppelte. Diese „alte Jungfer“ (staraja deva), deren Lebensinhalt nach Stiva in nichts anderem bestand, als ihre „Überlegenheit gegenüber unserer Tante Katerina Pawlowna“ – Annas Erzieherin – „zu beweisen“, fristet ihr Leben „als ewiger Logisgast bei reichen Verwandten“. Besonders negativ fällt bei ihr ins Gewicht, dass sie sich auf Vronskijs Gut noch rühmt, den Kontakt mit der skandalösen Anna nicht zu scheuen, Anna aber in Moskau ebenso fallen lässt wie alle anderen Vertreter des svet. Die beiden Tanten müssen auch als prägende Kinderstube der Geschwister Anna und Stiva angesehen werden, zumal von ihren Eltern nie die Rede ist. So hat es seine Folgerichtigkeit, dass der gutmütige Stiva die Ehe als „überholte Einrichtung“ betrachtet, „Liebe und Familienleben“ für unvereinbare Dinge hält, durch seinen ausschweifenden Lebenswandel Frau und Kinder in den finanziellen Ruin treibt und das verwestlichte Petersburg per se dem „stehenden Sumpf“ Moskau vorzieht: „In Petersburg behinderten die Kinder ihre Väter nicht am Leben. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und es gab hier nicht jene verschrobene Ansicht, die in Moskau um sich griff und der zum Beispiel auch Lwow anhing, dass den Kindern alle Freuden des Lebens und den Eltern nur die Lasten und Sorgen zukämen.“
Liegt da nicht auch der Schluss nahe, dass auch Anna, ungeachtet ihrer menschlichen Qualitäten und Fähigkeiten, letztlich zum Scheitern verurteilt ist? Liegt ihr doch der Gedanke, „Hilfe in der Religion zu suchen“, fern. Nicht weniger aufschlussreich ist eine Beobachtung ihrer Schwägerin Dolli, die im Roman generell für das intuitive Erkennen der Wahrheit steht. Nach dem schicksalhaften Ball gesteht ihr Anna, warum Kiti nicht zum Essen erschien. „Aber ich bin wirklich und wahrhaftig nicht schuld daran, oder doch nur ein klein wenig schuld“, meint sie. Darauf bemerkt Dolli: „Ach, welch eine Ähnlichkeit hattest du eben mit Stiwa, als du dies sagtest“. Dollis Bemerkung beleidigt Anna zutiefst.
Der Gedanke der korporativen Identität drängt sich auch auf der positiven – Moskauer – Seite der Familienskala auf. Sämtliche Töchter der Familie Scerbackij, in der Levin die „ehrliche Familie“ wiederfindet, der er durch den Tod seiner Eltern entrissen worden war, sind treue Ehefrauen, die ihre zentrale Rolle in der Mutterschaft sehen und sich dem Mann in selbstverständlicher Weise „unterordnen“. Die älteste Natal’ja kommt mit ihrem Mann Arsenij L’vov, der sich auch als Diplomat nicht scheut, Anna „immer wieder“ zu besuchen, der Kinder wegen nach Russland zurück. In der Erziehung ihrer Kinder bildet dabei die Religion eine wichtige „Stütze“. Die zweite Tochter Dolli empfindet für ihren Mann trotz seiner Affären noch immer Liebe und will das Haus auch der Kinder wegen nicht verlassen. Obwohl sie an die (dem Autor verdächtige) Seelenwanderung glaubt, erfüllt sie „in der Familie“ „alle Forderungen der Kirche“. Diese letzte Schlichtheit und Authentizität, die sie mit ihrem Vater teilt, ermöglicht ihr auch den Zugang zu den Bäuerinnen, die ihrer großen und lieblichen Kinderschar „ehrliche Bewunderung“ entgegenbringen.
Auch die Jüngste, Kiti, weicht nur kurz und unter dem Einfluss ihrer Mutter, die vom Reichtum und Ansehen des Flügeladjutanten Vronskij geblendet ist, von ihrem geradlinigen Weg ab, der durch Familiensinn, Kinderliebe, Religion und Achtung der Tradition gekennzeichnet ist. Dafür finden sich im Text zahlreiche Belege: Sie kann sich bei ihrer Schwester Dolli aussprechen und ausweinen, was Anna bei ihrem Bruder verwehrt bleibt; unter ihrem Einfluss empfängt Nikolaj Levin die letzte Ölung und findet Konstantin zu seinem geliebten Bruder zurück; sie stickt im Kabinett auf jenem „altertümlichen Ledersofa, das hier bereits zu Lebzeiten von Lewins Vater und Großvater gestanden hatte“; die fröhlichen Kinder lassen sie beim Kochen der Konfitüre an ihre eigene Kindheit zurückdenken; ihren Honeymoon will sie nicht im Ausland, sondern auf dem russischen Dorf verbringen.
Etwas überspitzt könnte man sagen: Kiti lebt die negativen Charakterzüge ihrer Mutter, die auch bei dieser nicht soweit reichen, dass ihre Partnerliebe beeinträchtigt würde, aus, um jene Natur zu entfalten, die sie vom selbstbewussten und zugleich schlichten, russophilen und dennoch toleranten Familienoberhaupt ererbt beziehungsweise mitbekommen hat.
Als komplexer als die Scerbackijs erweist sich die Familie Levin. Während Levins Schwester, die im Ausland lebt, im Text keine Wertung erfährt, zeigt Levins Halbbruder Sergej Koznyšev deutlich negative Züge: Sein „methodischer Verstand“ (metodiceskij um), auf den er seine Identität baut, ist an Eigenliebe gekoppelt, mit Nikolaj Levin hat er sich in einen Prozess verwickelt, und seine Gefühle für Varen’ka (die Stieftochter der Mme Stal’) erstickt er im Keim. Wohl nicht zu Unrecht vermutet Levin im deklarierten Streben seines Bruders nach dem „Gemeinwohl“, das ihn nach der gescheiterten wissenschaftlichen Karriere in die Arme der slavophilen Balkankämpfer treibt, ein mangelndes „Herz“, ein Herz, das ihm ermöglicht, im Leben nur „eines“ zu wollen.
Freilich bietet der Text auch an, Sergejs mangelnde Verankerung, die sich in seinem wirklichkeitsfremden Verständnis des „Volkes“ und der „Natur“ niederschlägt, im frühen Tod seiner Jugendliebe Marie zu begründen. In jener Zeit – so erinnert sich Levin – sei er „ungemein lieb“ gewesen. Das ungenügende Interesse an Varen’ka kann also als Folge einer Konstanz und Zielgerichtetheit gedeutet werden, die ihn mit seinen Halbbrüdern verbindet und die dem svet insgesamt abgeht. Dennoch bleibt Sergejs Position im Text ambivalent. Bleibt noch zu bemerken, dass es sich um einen Halbbruder Levins und also um eine andere Kinderstube handelt.
Anders verhält es sich mit Levins Bruder Nikolaj. Obwohl er von kommunistischen Ideen durchdrungen ist, eine außereheliche Beziehung mit Mar’ja Nikolaevna führt und die heilige Ölung als „Theater“ bezeichnet, liebt er Kiti und seinen Bruder inniglich. Auch ehrt er das Andenken an das elterliche Gut Pokrovskoe und möchte, dass man die einstige Prostituierte Mar’ja wie seine rechtmäßige Frau behandelt. Levins Herzensbruder („Ich kenne seine Seele und weiß, dass wir einander ähnlich sind“) ist zwar ein ungestümer Mensch, der nach der Universität wie ein Mönch gelebt und sich kurz darauf „zügellosen Ausschweifungen“ hingegeben hat, doch wird mit dieser Figur bedeutet, dass die Suche nach Wahrheit wichtiger ist als die Irrwege, die sich hierbei auftun können. Davon zeugen kurz vor seinem Tod sein (religiös) „verklärtes Gesicht“ und sein „Lächeln“.
Der archimedische Punkt des Konstantin Levin, der auf ähnliche Ausschweifungen wie Nikolaj zurückblickt, ist „das geheiligte Andenken“ an seine Mutter auf dem Gut Pokrovskoe. Die früh verstorbene Mutter wird für ihn zum Idealbild der Frau schlechthin. Nach Pokrovskoe – der Name verweist auf den Schutzmantel der Muttergottes (pokrov) – muss Levin buchstäblich fliehen, als ihn die Stadt mit ihren „lebenslustigen Männern“, die ihr Leben in Clubs und Freudenhäusern verbringen, einzunehmen droht. Dieses Elternhaus, auf dessen „Ehre“ auch die Haushälterin bedacht ist, möchte Levin, wie schon sein Bruder Nikolaj, in seiner Ursprünglichkeit belassen. Sein einstiges Vorhaben, das Land an die Bauern abzutreten, bleibt deshalb eine Episode. Denn nachdem er in Kiti sein Idealbild der Mutter seiner Kinder gefunden hat, will er, so heißt es wörtlich, „das angestammte Land“ (rodovaja zemlja) „in einem solchen Zustand“ erhalten, „dass ihm sein Sohn, wenn er es einstmals erbte, dem Vater genauso dankte, wie er seinem Großvater für alles dankte, was dieser erbaut und angepflanzt hatte“. Dabei ist das Levin’sche Verhältnis von Herr und Knecht sehr wohl von wechselseitiger Achtung geprägt. Nicht nur kommen die Bauern zu ihm, um nach Rat zu fragen, er zahlt auch den „alten, zu nichts mehr gebrauchenden Hofknechten“ ihr monatliches Deputat.
Wie wichtig das Verhältnis zu den „strukturellen Verwandten“ für die Einschätzung einer Person im Text ist, zeigt neben Vronskij auch Anna: Während sie von der Kinderfrau ihres Sohnes auch nach der Trennung geachtet und geliebt wird, findet sie auf Vronskijs Gut keinen Zugang mehr zum Hauspersonal. Es herrscht derselbe Unfriede wie zu Beginn des Romans, als Oblonskijs Bedienstete empfinden, „dass ihre Hausgemeinschaft sinnlos geworden sei“.
Die Charakterisierung der fünf verschwägerten Familien bestätigt zunächst die Vermutung, dass dauerhaftes Glück, so wie es im Eingangssatz vorausgesetzt wird, nur auf der Grundlage einer religiös und patriarchalisch geprägten Familie (im Geiste einer hausgenossenschaftlichen sem’ja) möglich ist. Dieser Schluss ist letztlich auch nicht zu hinterfragen, und dennoch verschweigt er eine Bedeutungsdimension, ohne die der Roman zu einem ethischen Traktat reduziert würde. Davon zeugen bereits Fragen, die sich innerhalb des erörterten Wertsystems aufdrängen: Wenn Anna für einen moralischen Irrweg stehen soll, warum sollte sie dann mit einem zwanzig Jahre älteren Mann verheiratet werden, den sie nie zu lieben vermochte und der selbst zur Liebe unfähig ist? Und was bedeutet der Umstand, dass Anna, nachdem sie sich vor den Zug geworfen hat, vom Geleise „aufstehen, sich zurückwerfen“ will? Wird sie letztlich von einem Zug überrollt, der eine dekadente privilegierte Gesellschaft symbolisiert, die sich blind an westliche Vorbilder hält?
Der Autor hat in einer gewissen Phase der Romangenese wohl mit dem Gedanken gespielt, Anna mit Levin zusammenzubringen. Damit hätte Tolstoj auf der ethisch-rechtlichen Ebene umgesetzt, was in der Faszination der Titelfigur, die von Variante zu Variante an Individualität gewinnt, unterschwellig anklingt. Diese Verbindung hätte eine weitgehende Entflechtung des Kirchenrechts vom zivilen Eherecht (das in Russland erst nach der Revolution eingeführt wird) und die Ablösung der patriarchalisch geprägten Ehe durch ein partnerschaftliches Verhältnis bedeutet. Denn nicht nur kann Levin mit Anna Gespräche führen, die – über die Intensität der meist nonverbalen Kommunikation mit Kiti hinaus – von höchster Intellektualität sind, Anna hätte sich auch in ihren beruflichen Fähigkeiten als Kinderbuchautorin, Ökonomin oder Pädagogin an Levins Seite weiterentwickeln können.
Ungeachtet dieser Anlage jedoch hat sich der Autor für den Tod der Titelheldin und für die Abfassung des 8. Kapitels, das Levins Bekehrung gewidmet ist, entschieden. Insofern ist auch Levins Ehe mit Kiti Scerbackij Programm. Und innerhalb dieses Programms ist auch das Verhältnis zwischen Individuum und Familie zu bestimmen. Die Verbindung Levin-Kiti impliziert nicht eine Individualisierung der Ehepartner gegenüber ihren Familien, da beide – anders als Anna – eine „gute Kinderstube“ kannten, sie hebt umgekehrt die Familie als korporative Identität im Sinne der Ähnlichkeit hervor. Nur wer eine ethischreligiöse Erziehung genossen hat, wird den mächtigen Strom, ein Bild, von dem Tolstoj in seiner „Beichte“ (1879-1882) spricht, überqueren können und nicht blind dem Abgrund entgegentreiben: „Das Ufer – das war Gott, die Richtung – das war die Überlieferung, die Ruder – das war die mir gegebene Freiheit, zum Ufer hinauszurudern […]“, blickt der Autor der „Beichte“ zurück.
Damit kann Tolstojs Konzept der korporativen Identität genauer gefasst werden. Die fünf Familien vertreten zwar die russsische Adelsschicht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, doch beschreibt „Anna Karenina“, im Gegensatz zu etlichen anderen bedeutenden Familienromanen aus diesem Jahrhundert, weder einen unabdingbaren Untergang noch verfolgt er mit Sezier- und Experimentierfreude die biologisch vorgegebene Genealogie glücklicher und unglücklicher Familien. Vielmehr richtet Tolstoj an den Leser einen moralischen Appell, indem er die Konsequenzen vorgelebter Familienverhältnisse beschreibt.
Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags mit Zitatbelegen und Literaturhinweisen erschien unter dem Titel „Zum Familienroman als Genre“ in: Die Welt der Slaven. Band 32. Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress, Ohrid 2008. Herausgegeben von S. Kempgen, K. Gutschmidt, U. Jekutsch, L. Udolph. München: Verlag Otto Sagner 2008. S. 437-448. Entstanden ist der Beitrag im Rahmen einer Ringvorlesung zum Familienroman an der Universität Hamburg, die sich mit über zwanzig Romanen aus unterschiedlichen Literaturen und Epochen auseinandersetzte. Zitiert wurde der Roman nach der Ausgabe: Leo N. Tolstoi: Anna Karenina. Band 1-2. Übersetzt von Hermann Asemissen. Berlin 1985.