Der Vilna-Faktor
Anna Lipphardt hat die translokale Erinnerung der Juden von Vilnius nach dem Holocaust beispielhaft untersucht
Von Fabian Kettner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Geschichte ist zwar an einen Ort gebunden, sie muss aber nicht immer an diesem Ort stattfinden. Manchmal kann sie es nicht, wie im Fall der jüdischen Gemeinde von Wilna, Vilnius, Vilna – oder eben Vilne. Von den 57.000 Juden, die zum Zeitpunkt des Einmarschs der Deutschen in dieser Stadt lebten, waren nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch 2.000 bis 3.500 am Leben. Sie zerstreuten sich in der Folgezeit über alle fünf Kontinente, die Mehrzahl von ihnen aber ging nach Israel und in die USA. Anna Lipphardt stellt in ihrer umfangreichen Arbeit die Beziehung der ausgewanderten Vilner Juden zu ihrer früheren Heimatstadt dar. Dabei will sie die historische Erzählung verräumlichen, das heißt zeigen, wie die Geschichte eines Ortes an anderen Orten weitergeht, respektive teilweise auch erst geschrieben wird. Die besondere Geschichte der Vilner Juden eröffne eine Perpektive auf eine größere Geschichte im Allgemeinen, die von einer zunehmenden „Translokalität“ geprägt sei.
Für dieses Unterfangen scheinen ihr die Vilner Juden besonders geeignet, war Vilne doch etwas Besonderes. Dieses „Jerusalem des Ostens“ (siehe literaturkritik.de, Nr. 11/2009) stach sowohl aus dem Ostjudentum als auch aus der weltweiten jüdischen Diaspora heraus. Denn dort lebte ein eigenes, konsolidiertes Judentum, mit einer ausgeprägten lokalen Identität. In Vilne war das Prinzip der „Doikeyt“ stark, des „Hier-Seins“, der Verortung. Es gab (und gibt noch) zahlreiche jüdische Ortslegenden und eine intensive jüdische Stadtforschung, also ein starkes „jüdisches Ortsbewusstsein“.
Mit dem Wegzug aus ihrer Stadt, die nach dem Holocaust nicht mehr die ihre war, befanden sich die überlebenden Vilner Juden in einer doppelten Diaspora: Nach offizieller jüdischer Geschichtssicht hatten sie sich bereits in Vilna in der Diaspora befunden, da weit entfernt von Jerusalem; danach entfernten sie sich auch noch von ihrem ‘neuen Jerusalem‘, bildeten aber transnational immer noch eine Gemeinde nicht nur von Juden, sondern auch noch von Vilner Juden. Ihr kollektives Gedächtnis und ihr kommunikatives Netzwerk war die Basis ihrer Identität. Sie wollen dem eigenen Vergessen und dem Vergessen-Werden entgegenarbeiten. Sie wollen anderen zeigen „Seht her, es gab uns!“ Mit einem Anspruch auf Authentizität wollen sie ihre Claims in der Erinnerungskultur abstecken, ihren eigenen Verlust kompensieren und nicht zuletzt auch Lernorte schaffen.
Ihre Identität wird im Wesentlichen von einer Erinnerung bestimmt, die mit einem Trauma verknüpft ist. Anders als bei den beiden Assmans und anders als in den üblichen Traumatheorien geht es Lipphardt um die Prozesshaftigkeit beider Aspekte. Ihr geht es erstens darum, „wie Erinnerung gemacht wird“ und darum, eine noch lebendige Kultur zu begleiten und zu erforschen. Die ‚Zeit nach 1945‘ ist ihr nicht nur ein Epilog zum Holocaust. Sie will den „Fokus auf die Menschen verschieben, die den Holocaust überlebt haben, und ihre Bewegungsgeschichte und ihre Handlungsspielräume nachzeichnen.“
Zweitens will sie entsprechend ihrem prozessualen Trauma-Verständnis „die vielschichtigen, zum Teil sich überlagernden, zum Teil gegenläufigen Dynamiken herausarbeiten, die bei Genozidüberlebenden zwischen Erinnerungs-, Kultur- und Trauerarbeit wie auch der Traumabearbeitung bestehen.“ Da ihre Arbeit ein Musterstück von Systematik, Stringenz und Klarheit ist, gelingt ihr dies auch. Während offizielle Zuschreibungen wie „displaced people“, „Flüchtling“ oder „Emigrant“ den Riss im zeitlichen Kontinuum betonen, legt die Selbstbezeichnung der Vilner Überlebenden als „Ibergeblibene“ mehr Gewicht auf die Kontinuität und die Integration, versucht sie, eine Einheit zu schaffen von Zerstörung und Sich-der-Zerstörung-Entgegenstemmen.
Um dies darzustellen, untersucht Lipphardt die Vilner Gemeinden in New York, in Israel und in Vilnius. In allen drei Ländern musste die kulturelle Arbeit gegen Widerstände durchgesetzt werden, doch waren diese Widerstände natürlich jeweils anderer Natur: In der Sowjetunion war sie von staatlicher Seite ganz verboten, in Israel wollte man bis zum Eichmann-Prozess nur Geschichten jüdischer Helden hören und in den USA herrschte bis in die 1960er-Jahre hinein schlichtweg Desinteresse am Schicksal nicht nur litauischer Juden.
Die Erinnerungsorte, die Lipphardt untersucht, sind nicht etwa – wie in den Konzepten von Pierre Nora oder Etienne Francois und Hagen Schulze – „an eine vermeintlich stabile, ethnisch homogene und klar abgegrenzte Nation“ gebunden, und auch sind es nicht wirklich lokale materielle Orte, sondern meist eher ideelle „Kristallisationspunkte einer lokalen sugbroup innerhalb einer ethno-religiösen Minderheit“. Die ‚Orte‘, die sie auswählte, sind – sie betont es selbst – nicht repräsentativ. Sie untersucht des Näheren das Vilner Widerstandslied „Zog nit keynmol, az du geyst dem letstn veg!“, verschiedene Praktiken des Beerdigens, des Trauerns sowie des Gedenkens und verschiedene Modelle der Repräsentation des Vilner jüdischen Viertels.
Das Widerstandslied, das der junge Hirsh Glik im Vilner Getto schrieb, ist für die Vilner „ihr Lied“ – und gleichzeitig ist es nicht auf die unmittelbare Vilner Gemeinschaft beschränkt. Lipphardt zufolge ist es zusammen mit der „Hatikvah“, also der Nationalhymne Israels, „das wichtigste jüdische Lied der Neuzeit“. Sie zeichnet die Enstehungsgeschichte dieser inoffiziellen Hymne nach, die Mythen, die sich um sie ranken, wie sie während des Holocaust und vor allem danach rezipiert und verbreitet wurde und wie sie inzwischen bei Gedenkzeremonien verwendet wird. Diese Musik, bei der „das Objektive verschwebt“, wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik sagte, und „die Wirkung fast nicht mehr durch eine Materielles geschieht“, ist trotzdem, so Lipphardt, „der erfolgreichste Erinnerungsort, den das jüdische Vilna hervorgebracht hat“. Im Allgemeinen wird es aber fast nie mit dem jüdischen Widerstand in Wilna assoziiert, sondern mit dem Holocaust und jüdischer Selbstbehauptung überhaupt.
Im zweiten Beispiel hat sie die Vilner Beerdigungs-, Trauer- und Gedenkpraktiken in New York untersucht, womit sie auch einen „Beitrag zur Erweiterung der Sepulkralkultur im Allgemeinen“ leistet möchte. Da die New Yorker Vilner aber keinen Friedhof haben, an dem sie gedenken und trauern könnten, hat die „Haskore“, die jährliche Gedenkveranstaltung am 23. September (der Tag, an dem das Getto von Vilnius aufgelöst wurde), diese Funktion übernommen. An den verschiedenen „Vilner Burial Spots“, wie Lipphardt es nennt, „kommen imaginierte und reale, materiell existierende Topographien zusammen“: Jerusalem, Vilnius, Ponar (der Ort des Massenmords an den Vilner Juden) und New York überschneiden einander.
Zwei- und dreidimensionale Repräsentationen des ehemaligen Vilner jüdischen Viertels sind Formen, in denen sich die Überlebenden mit ihrer ehemaligen Heimatstadt auseinandersetzen. In Plänen – und vor allem in Modellen – re-inszenieren sie das alte Vilne, während sie in Israel oder in den USA leben. Lipphardt geht hierbei zum einen auf Leyzer Rans alternative Stadtgeschichte in Bildern ein, zum zweiten auf zwei dreidimensionale Stadtmodelle, die seinerzeit im Getto angefertigt worden waren, und zum dritten auf das Restaurierungsprojekt des jüdischen Viertels in der Altstadt von Vilnius im Rahmen eines UNESCO-Weltkulturerbeprojekts.
In dokumentierten Gesprächen mit vier Überlebenden und sieben Angehörigen der zweiten Vilner Generation kann Lipphardt den „hohen Vilne-Faktor“ der Überlebenden zeigen. Die Überlebenden, ihre Kinder weniger, verfügen über ein äußerst differenziertes Wissen und Bewusstsein in Bezug auf Vilne und sind aktiv in der Gedenkarbeit tätig. Dieser hohe Faktor überträgt sich aber nicht automatisch – oder gar zwanghaft – auf ihre Kinder.
Gerade durch diese Gespräche merkte Lipphardt, wie sich ihre Perspektive auf ihre Forschungsarbeit veränderte: Ging es ihr anfangs darum, von den Überlebenden zu erfahren, was diese verloren, lernte sie sukzessive wahrzunehmen, was diese durch ihre Gedenkarbeit von Vilne behalten haben. Von hier aus annonciert die Autorin ihre Arbeit als zukunftsweisend: Da nämlich Genozide immer wieder passieren, könne man von der kulturellen Arbeit und dem Identitäts-Bewusstsein der Vilner lernen, wie man die kulturelle Identität einer Minderheit nach dem Genozid an ihnen erhalten könne.
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