Echterdingen war überall

Der Protagonist in Jörg Harlan Rohleders Roman „Lokalhelden“ wühlt im spätpubertären „sozialen Müll“ seiner Jugend in der schwäbischen Provinz der 1990er-Jahre

Von Jule D. KörberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jule D. Körber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Anfang vom Ende ist der 23. Dezember 1990. Schmall, der Erzähler in Jörg Harlan Rohleders Debütroman „Lokalhelden“, ist „ein fabelhafter Lügner, Anstifter und Mitläufer, der Schmall halt, der kleinste gemeinsame Nenner“ der „mehr oder minder bemitleidenswerten“ Jugendlichen in „Schwabylon“ und „auch nur ein Kind der dämlichen neunziger Jahre“.

Er ist 14, als er sich mit seinen Kumpels Brownsen und Enni am Tag vor Heiligabend im „Jackies“, der Rockerkneipe im Echterdinger Industriegebiet, vor der Schmalls Vater immer gewarnt hat, zum ersten Mal betrinkt. Der Wirt heißt Hubi und trägt eine Jack Daniel’s Mütze, 1977 war er Vize-Mister-Olympia, nur Arnold Schwarzenegger war damals stärker. Das Beweisfoto hierfür hängt über dem Terminator-2-Flipper der Kneipe. Aus den Boxen kreischt Axl Rose „Paradise City“. Der Abend endet im altersüblichen Straßenrandkotzen und mit Schmalls Mutter, die zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder zur Messe geht, um für ihren Sohn zu beten.

Es ist also ein Backflash in die 1990er-Jahre. Die Figur Schmall erinnert anfangs noch stark an J. D. Salingers Holden Caulfield aus „Der Fänger im Roggen“, wenn er vorweg schickt: „Wenn es Sie interessiert, wer ich bin, dann legen Sie dieses Buch gleich wieder weg. Ich bin jung, planlos und komme immer zu spät, will niemanden mit meiner Geschichte langweilen … Meine Freunde nennen mich Schmall – und so sollten Sie es auch halten“. Oder wenn er immer wieder wie schon im Prolog die Leser siezt, ihnen erklärt, dass er nicht langweilen will, aber nun doch dieses oder jenes der Vollständigkeit halber erklären muss und wenn er Geschichten anschneidet, von denen er verspricht, sie später noch genauer auszuführen.

Nach und nach erzählt Schmall von seinem Leben und seinen Freunden, bis zum Abitur. Es ist ein Leben, in welchem den Jugendlichen immer wieder von den Erwachsenen erzählt wird, dass sie alles erreichen können – in dem diese Jugendlichen aber selbst gar nicht wissen, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollen. „Die Welt steht uns offen, sagt mein Vater immer, er hatte nur die Wahl, Ingenieur oder Ingenieur zu werden. Von den Kindern der goldenen Neunziger wird nicht weniger verlangt, als die Welt zu erobern.“

„Wir waren die letzten Hänger, die ins Leben so reinrutschen durften“, sagte der Autor Jörg Harlan Rohleder, der wie seine Hauptfigur Jahrgang 1976 geboren wurde, in einem Interview. „Bei meiner Abirede hat der Direktor gesagt: Ihr könnt alles werden – Nobelpreisträger, Astronaut, Bundeskanzler. Heute teilt man Abiturienten mit: Wenn ihr euch nicht anstrengt, landet ihr bei Hartz IV. Einen härteren Kontrast kann ich mir nicht vorstellen. Dazwischen liegen bloß 15 Jahre“.

Fast schon zynisch scheint es da gegenüber der nur ein paar Jahre später geboren Generation, die eigentlich auch wieder nur die Wahl hat, Ingenieur oder Ingenieur zu werden, dass Schmall in einem Gespräch den „Spiegel“ erwähnt: „Selbst im Spiegel steht, wir seien die Generation, der die ganze Welt offen steht, die mehr Chancen hat als jemals eine Generation zuvor. Und was machen wir daraus? Nichts. Wir bescheißen uns selbst, flüchten vor Verantwortung und verbauen uns alles, bevor das Leben überhaupt richtig losgeht.“

Nur wenige Jahre später ruft das selbe Nachrichtenmagazin die Generation Praktikum aus und bringt ein Sonderheft mit vielen bedröppelt dreinblickenden Krisenkindern raus, die sich trotz guter Ausbildung chancenlos fühlen – und es teilweise auch sind.

Schmalls Leben bis zum Abitur liest sich wie eine Zeitreise für jeden, der selbst in den 1990ern aufgewachsen ist: Da ist der Tod von Kurt Cobain nahezu genauso wichtig wie der des provinzbekannten Schlägers „Schädler“.

Da gab es noch „Vorstadtproleten“ wie die „Lost Boys“ aus Stetten, die frisierte Golf GTIs fuhren, sich – wie alle in den 1990ern – an Araltankstellen mit Alkohol eindeckten, die den harmlosen Jungs aus den Nachbardörfern die Mädchen ausspannten und auf dem identitätsstiftenden Echterdinger „Krautfest – die größte Krauthocketse der Welt“ für Ärger sorgten.

Damals herrschte noch Respekt vor Böhse Onkelzs [sic!] hörenden Randgruppen und ihren Butterflymessern: Die Lost Boys tauchen im Reihenhaus der Familie Huber auf, um ihre Art des Homeshopping vorzuführen – die Eltern sind noch im Urlaub und Franky – „ein Loser, ein Schwitzer mit fettigen Haaren, Nackenspoiler und roten Flecken auf den Wangen. Franky ist der Junge, der immer als Letzter im Sportunterricht in eine Mannschaft gewählt wird“ – gibt eine Party. „Zwei tragen den Sony-Trinitron-Fernseher der Hubers raus, einer den Videorekorder, sogar die Yukkapalme im Essbereich verschwindet im Kofferraum eines bordeauxroten Opel GSI, ebenso das Tafelsilber, die Minibar des Vaters und vieles mehr. Am nächsten Morgen werden sogar die vier Freischwinger aus dem Essbereich der Küche fehlen. Wir stehen da wie Statisten.“ Und dann muss immer eines der Mädchen dringend zum Bus – man ist eben in der Provinz und den Großteil der Geschichte noch minderjährig.

Es wird Korea, „ein furchtbares Mischgesöff aus billigem Rotwein und Cola“, mit Cola light angemischt, und „Jackie-Cola“ getrunken, später dann Wodka Red Bull. Rohleders „Lokalhelden“ treten Straßenlaternen aus, werden entjungfert, gehen auf Raves und in Großraumdiscotheken, konsumieren verschiedenste Drogen, tragen Casio-Taschenrechner-Uhren und verletzen sich bei Skateboard-Sprüngen. Es wird mit raubkopierten Amiga-Spielen gehandelt und später mit Ecstasy. Das Radio berichtet über eine fehlgeschlagene Militäraktion in Somalia namens „Operation Irene“ und Schmall schaltet das Radio ab, weil er nicht weiß, was „Irene überhaupt in Mogadischu zu suchen“ hat.

Spätestens, als ein alter Kumpel von Schmall in der Bild-Zeitung als Stuttgarts schlimmster Rauschgifthändler in Erscheinung tritt und in Stammheim in Untersuchungshaft einsitzt, während sich Schmall gleichzeitig Gedanken darum macht, neben wem er im nächsten Schuljahr im Klassenzimmer sitzen wird, kommt die Erinnerung hoch: So war das damals, alles war irgendwie gleichermaßen dramatisch in der späten Pubertät, und selten war etwas von Dauer beim Aufwachsen in der Provinz.

Auf der einen Seite: Trainspotting, Pulp Fiction und MTV, ein sterbender River Phoenix, Thomas D., der eine riesige Uhr um den Hals trägt, O. J. Simpson auf der Flucht und „kroatische Mütterchen in der Tagesschau“, auf der anderen Seite Lizzy, die pummelige große Schwester, die versucht, sich umzubringen, weil sie Angst hat, Echterdingen nie verlassen zu können und der neueröffnete McDonalds im Nachbarort Bernhausen, bei dem nahezu alle Protagonisten anfangen zu arbeiten.

Und das wichtigste: Ein Autor, der all seine Figuren liebt. Und seinen Erzähler Schmall manchmal klingen lässt wie die Off-Stimme amerikanischer Fernsehserien wie „Greys Anatomy“ oder „Wunderbare Jahre“: „Cobains Tod wird das eine Ereignis sein, das unsere Generation zusammenschweißt, der kleinste gemeinsame Nenner der Kinder der Neunziger, unsere Mondlandung, unser Hiroshima, unser Attentat auf JFK. Nur noch viel schlimmer ... Ist es an der Zeit, neue Helden zu finden?… Und wer interessiert sich schon in den Neunzigern für wirkliche Probleme? Irak, Balkan, Aids, whatever. Alles ist Pop, den Rest blenden wir gekonnt aus…. Nein, wir brauchen keine neuen Helden mehr. Wir sind selber welche.“

Damit ist bis zum Abitur alles gesagt.

Titelbild

Jörg Harlan Rohleder: Lokalhelden. Roman.
Piper Verlag, München 2010.
285 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783492053846

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