„Wissenschaftspropädeutisches Schwellendatum“ oder „kompetenzorientiertes Initiationsritual“
Die „Abiturprüfung“ aus der Perspektive der Deutschdidaktik
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer von Peggy Fiebich und Sigrid Thielking herausgegebene Sammelband „Literatur im Abitur – Reifeprüfung mit Kompetenzen?“ ist als erster Band der neuen Reihe „Hannoversche Beiträge zu Kulturvermittlung und Didaktik“ im Aisthesis Verlag erschienen. Er vereint sieben Aufsätze einer Ringvorlesung am Deutschen Seminar der Universität Hannover des Sommersemesters 2009. Ergänzt wird er durch ein knappes Vorwort der Mitherausgeberin Fiebich und eine Synthese von Thielking zum derzeitigen Stand und zu den Entwicklungsperspektiven des Abiturs aus fachdidaktischer Sicht.
Jährlich erwerben in Deutschland rund 250.000 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen das „Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife“, kurz Abitur genannt – ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert und belegt, dass die Gratifikationserwartung an diesen Bildungsabschluss gesellschaftlich ungebrochen ist. Seit der kognitionswissenschaftlichen Wende und dem sogenannten Pisa-Schock, die eine Output-Orientierung des Bildungssystems evoziert haben, stellen sich allerdings Fragen danach, „ob das Abitur heute als Ausweis von Kompetenz oder von persönlicher Reife zu betrachten ist“ und inwiefern „die Beschäftigung mit Literatur einen Zugewinn an Reife bringt“.
Einen innovativen Ansatz zur Klärung dieses Fragekomplexes bildet der Blick in die deutschsprachige Bildungslandschaft, die nicht nur sechzehn Systeme in sechzehn Bundesländern hervorgebracht hat, sondern auch um eine jeweils spezifische österreichische und schweizerische Perspektive bereichert ist. Dementsprechend stellt der Wiener Deutschlehrer Herbert Staud die Situation in Österreich dar. Dort wird erstmals im Schuljahr 2013/14 eine standardisierte, kompetenzorientierte und damit teilzentrale Reifeprüfung an den allgemeinbildenden höheren Schulen stattfinden. Qualitätsmerkmale für die Formulierung der Aufgaben und landesspezifische Schwerpunkte bei der Generierung der Themen und Bewertungssysteme beleuchtet Staud in seiner anschaulichen Darstellung.
Aus Schweizer Sicht betrachtet die Berner Wissenschaftlerin Elisabeth Stuck die „Kompetenz- und Standarddiskussion“. Sie relativiert die zu beobachtende Verschiebung zugunsten der Sprachkompetenz im Deutschunterricht und insistiert schlüssig auf der herausgehobenen Rolle des gymnasialen Literaturunterrichts, der sowohl „einen Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen“ als auch die „Förderung der ästhetischen Urteilsfähigkeit“ anbahnen könne. Ihr Appell für eine anders gelagerte Qualitätssicherung im Deutschunterricht – jenseits einer zentralen Abschlussprüfung – durch einheitliche und standardisierte Unterrichtsmethoden und eine dezidierte Kanonisierung sollte nicht ungehört in der deutschen Bildungslandschaft verhallen.
Sehr lesenswert wirkt der Beitrag des Pädagogen Detlef Quaas, der einen weiten Bogen spannt und auf die Geschichte des Deutschunterrichts zurückblickt. Aus der Darstellung des historischen Wandels der jeweiligen Intentionen von Unterricht wird ersichtlich, dass jede Generation ihre spezifischen Schwerpunkte und Entwicklungsbeiträge geleistet hat. Dass der traditionelle Deutschunterricht derzeit einen „umfassenden didaktischen und methodischen Wandel“ durchläuft, zeigt Quaas am Beispiel der Kerncurricula und des Zentralabiturs in Niedersachsen präzise auf. Aber auch die Kontinuitätslinie wird deutlich, denn Zielsetzung bleibe trotz aller Reformen „die Trias aus vertiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und allgemeiner Studierfähigkeit“.
In einer kommunikationstheoretisch orientierten Darstellung unter der Überschrift „Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext“ betrachtet Fiebich die momentane Praxis der Aufgabenstellungen in der Abiturprüfung. Sie arbeitet schlüssig heraus, dass es zwei grundsätzliche Entwicklungsrichtungen in diesem Kontext geben kann: „Wir können uns ausschließlich auf das Überprüfen von Kompetenzen konzentrieren“, oder aber die Entwicklung kehre zum Humboldt’schen Bildungsideal zurück und verlange einen Nachweis über den individuellen Stand literarischer Bildung fernab jeder Standardisierung.
Karlheinz Fingerhut postuliert bereits mit seinem Aufsatztitel „Überall das Gleiche, nur etwas anders“ eine kritische Haltung zu den „Qualitätssicherungsmaßnahmen“ wie Zentralabitur und kriterienorientierte Aufsatzbewertung. Seine Leitthese über die momentane Output-Fixierung formuliert er pointiert: „Im Zentrum steht nicht der Text, sondern stehen die Lese- und Text-Kompetenz(en) der Schreibenden.“ Dies weist er einerseits an den Korrekturvorgaben für die Abiturprüfung im Fach Deutsch nach, wobei es zu einer Abkehr von einem holistischen Blick auf den Text sowie den Lese- und Schreibprozess gekommen sei. Im dritten Jahrtausend blicke man vorrangig auf Teilkompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern, wodurch es zu einer massiven „Überbewertung einzelner Textbeobachtungen“ wie Sprache, Stil, rhetorische Figuren und textsortenspezifische Merkmale käme. Dies lasse sich nach der Betrachtung von Oberstufenlehrwerken wie „Texte, Themen und Strukturen“ auch für die einschlägigen Schulbücher nachweisen. Insoweit sei im Schulalltag die „Horrorvision“ Realität geworden, dass eine synthetisierende Textdeutung zugunsten einer Beschränkung auf messbare Einzelleistungen geopfert wurde.
Juliane Köster, Deutschdidaktikerin an der Universität Jena, untermauert die von Fingerhut aufgestellte These in ihrem Aufsatz „Was wird im Deutschabitur geprüft“, indem sie diverse Abituraufgaben einer kritischen Untersuchung unterzieht. Dabei erkennt sie einerseits eine mangelhafte „Etablierung globaler Kohärenz“, also eine unzureichende Sicherung des inhaltlichen Zusammenhangs in Texten schwächerer Schülerinnen und Schüler. Anderseits plädiert sie für eine wohlwollendere Aufnahme der Textparaphrase in den bewertungsrelevanten Teil des Deutschabiturs.
Notwendig scheint eine kritische Musterung des Ist-Zustandes auch mit Blick auf die Zielsetzung des Abiturs. Folgt man nämlich dem – heute zum Teil als antiquiert geltenden – Konzept der „Wissenschaftspropädeutik“, dann hat auch das Fach Deutsch in der Oberstufe mäeutische beziehungsweise assistierende Funktionen, die dem Ziel der Studierfähigkeit subsumiert werden müssen. In seinem begriffs- und konzeptgeschichtlichen Aufsatz zu diesem terminus technicus der Pädagogik tritt Andreas Ulrich für „eine Weiterentwicklung des Konzepts“ ein, welches stärker die Rolle des Deutschunterrichts als Beitrag zur funktionalen Bildung betonen müsse.
Bleibt zu fragen, welche „Chancen“ dem Abitur als Prüfungsformat nach den Ausführungen dieses anregenden und mit Gewinn zu lesenden Sammelbandes offen stehen. Auf die latente Spannung zwischen Erwartungshaltung und Gelingensbedingung weist abschließend Thielking hin, denn das Abitur als „Gelenkstelle“ im Bildungssystem sei durch die Zentralisierungstendenzen aufgewertet, „aber auch aufgeladen und (paradoxerweise) mit Vorstellungen von mehr… realisierter Bildungsgerechtigkeit besetzt worden.“
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