Nicht leicht zu konsumieren, aber anregend

In Dominik Orths und Gerhard Jens Lüdekers Sammelband „Nach-Wende-Narrationen“ werden Bücher und Filme aus der Nachwendezeit subtil analysiert

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2009 erschienen bei literaturkritik.de Rezensionen über zwei Bücher, von denen sich das eine mit unterschiedlichen Erinnerungen an die DDR und das andere mit Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen in Ost und West auf die Literatur, auf Filme und die Kunst befasste. Es handelt sich dabei um den von Inge Stephan und Alexandra Tacke heraus gegebenen Band „NachBilder der Wende“ und um Martin Sabrows Anthologie „Erinnerungsorte der DDR“. Die in beiden Büchern behandelten Fragen und Probleme sind offensichtlich noch immer virulent. Denn im Mai 2009 fand zum Thema „Nach-Wende-Narrationen. Das vereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film“ an der Universität Bremen eine Tagung statt, auf der man sich unterschiedlich mit den Themen der Nach-Wendezeit auseinandersetzte. Mittlerweile liegt auch der Tagungsband vor, der, wie es im Klappentext heißt, „aus literatur- und aus filmwissenschaftlicher Perspektive einen Beitrag zur Analyse und Interpretation der narrativen Verarbeitung historischer Prozesse am Beispiel der Nach-Wende-Zeit des wiedervereinigten Deutschland“ geben möchte oder wie Gerhard Jens Lüdeker und Dominik Orth in ihrer Einleitung betonen, „über soziokulturelle Befindlichkeiten und den Status der Wiedervereinigung“ informiert.

Die Dokumentation wird zunächst von Lüdeker und Orth, wissenschaftlich penibel, um nicht zu sagen nach dem Verständnis von Laien recht umständlich mit einem Vokabular begründet, das nicht jedem geläufig sein dürfte. Die Rede ist von wichtigen soziokulturellen Funktionen, die die Wende-Narrationen für die zeithistorische Reflexion und Selbstverortung einnehmen, weil sie Nach-Wende-Themen reflektieren und ästhetisch gestalten, also textuell archivieren, und somit an gesellschaftlichen Prozessen mit beteiligt sind. Denn die nach 1989 publizierten Texte, in denen Autoren vom Leben in der DDR, dem Ereignis der Wende und von den gesellschaftlichen Veränderungen seit der deutschen Einheit erzählen, „sind Teil der kollektiven Erinnerungsarbeit der Gegenwart“ und dienen der aktuellen kulturellen Selbstverständigung sowie der kollektiven Ausdeutung des Status quo und seiner Ursachen und bilden zugleich einen Teil des kollektiven Gedächtnisses. Die Autoren, die zu Wort kommen, sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht allgemein bekannt. Um so bedauerlicher, dass man darauf verzichtet hat, sie in einem Anhang, der hier ebenfalls fehlt, vorzustellen.

Um es kurz zu machen: In diesem Band werden sogenannte „Nach-Wende-Narrationen“ subtil analysiert und als Dokumente der Erinnerung und der Gegenwartswahrnehmung interpretiert, da nicht nur Zeitungen und Statistiken über Deutschland nach Mauerfall und Wiedervereinigung berichten können, sondern auch fiktionale literarische Texte, die durchweg mehr sind als einfache Abbildungen.

Im Mittelpunkt stehen mithin die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die Mauerfall und Wiedervereinigung ausgelöst haben und die Schriftsteller und Filmemacher in fiktionaler Form eingefangen haben, wie etwa Ingo Schulze in seinem Roman „Neue Leben“ und Wolfgang Becker mit seinem Film „Good bye, Lenin“, die beide ihre Handlungszeiträume noch zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung ansiedelt haben.

In einem Kapitel dieses Buches wird der Bruch von Identitäten beschrieben, denn durch die Wende mussten viele in den neuen Bundesländern, aus einem klar definierten Gestern in ein schwer bestimmbares Heute wechseln. Etliche Romane und Filme machen deutlich, wie die plötzliche Verdrängung gewohnter Marken durch westdeutsche Etiketten nach der Wende ehemalige DDR-Bürger oft verunsichert haben, weil auf diese Weise ein wichtiger Identitätsfaktor verloren gegangen war. Besonders schwer hatten es Menschen mit Migrationshintergrund, die diese Ereignisse wie Mauerfall und Wiedervereinigung an Ort und Stelle miterlebt hatten, nach der Wende einen identifikatorischen Bezugspunkt zu finden. Nico Elste hat sich mit dieser Problemlage anhand des Romans „Selam Berlin“ der deutsch-türkischen Schriftstellerin Yadé Kara genau befasst. „Die Verwurstung der ostdeutschen Identität durch das ehemalige Westdeutschland“ nimmt dagegen Benjamin Moldenhauer in seiner Auseinandersetzung mit Christoph Schlingensiefs Splatterfilm „Das deutsche Kettensägenmassaker“ unter die Lupe. Gezeigt wird, dass Nach-Wende-Narrationen sowohl in der Literatur als auch im Film Medien der Identitätsstiftung sein können.

Aufschlussreich sind ebenfalls die Analysen von Markus Kuhn im Hinblick auf Thomas Rosenlöchers 1991 erschienene Erzählung „Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern“ sowie Anett Krauses Untersuchung von Joachim Lottmanns Roman „Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995“. Branka Schaller-Fornoff wiederum fragt nach narrativen Strategien in Michael Kleebergs Roman „Ein Garten im Norden“.

Bekannte Deklarationen wie Wendegewinner oder Wendeverlierer tauchen in manchen der hier untersuchten Erzählungen auf. Auch Kritik am Ausverkauf des Ostens klingt an und die Frage kommt auf, ob die Bundesrepublik durch die friedliche Revolution von 1989 nunmehr eine normale Nation geworden sei. Viele Ostdeutsche seien enttäuscht und fühlten sich noch nicht hinreichend als Bundesbürger integriert, hieß es 2009 allgemein in den Medien. Selbst zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sei die Mauer in vielen Köpfen noch nicht eingerissen. Darauf deuten auch literarische und filmische Erzählungen hin, die in der Nachwendezeit entstanden sind.

Die Wende selbst ist allerdings durchweg positiv besetzt. Schließlich hat sie den Untergang des Unrechtsstaats DDR besiegelt. Dagegen „sind über ihre realen sozialen, kulturellen und ökonomischen Auswirkungen kaum sinnstiftende Geschichten zu erzählen“, behaupten Gerhard Jens Lüdeker und Dominik Orth. Nach-Wende-Narrationen seien vielfach Versuche, der Entwurzelung und der schwierigen Wiederverwurzelung einen Sinn abzutrotzen und durch den Modus des Erzählens fiktionale Kohärenz herzustellen. Verlusterfahrungen scheinen also noch längst nicht überwunden zu sein. Auch Filme, ebenfalls ein Ort der Erinnerungs- und Gedächtniskultur, weisen auf gesellschaftliche Defizite hin. Vor allem die neue Hauptstadt Berlin als Ort des Mauerfalls fungiert in vielen filmischen und literarischen Narrationen als Erinnerungsort und als Brennpunkt der Transformationsprozesse, die durch die Wende ausgelöst worden sind. Mit einer Reihe von Berlin-Filmen zu diesem Thema befasst sich Rayd Khouloki.

Fiktive Lebensläufe im wiedervereinigten Deutschland bilden ebenfalls ein wichtiges Kapitel. Dominik Orth spürt diesen im Roman „Der Zimmerspringbrunnen“ von Jens Sparschuh und in „Die Nachrichten“ von Alexander Osang nach; Nikolas Immer tut dies in Monika Marons Romanen „Endmoränen“ und „Ach Glück“. Hier geht es um einen typischen links-intellektuellen Lebenslauf, um den Wandel einer „autodiegetischen, subjektiv verschlossenen zu einer heterodiegetischen und damit offeneren“ Identität. Um dem geneigten Leser das Grübeln und Nachschlagen in irgendwelchen Lexika zu ersparen, sei ihm verraten, dass laut Duden-Fremdwörterbuch „diegetisch“ ‚erzählend‘ beziehungsweise ‚erörternd‘ bedeutet.

Im Kapitel „Formwandel“ stehen sowohl Ingo Schulzes „Neue Leben“ und Durs Grünbeins Lyrik als auch die ästhetische Gestaltung in Filmen aus dieser Zeit im Mittelpunkt. Doch Vorsicht! Bei Grünbein wird es kompliziert, denn der Autor Johann Reißer nimmt Bezug auf die Zeitkonzeption Gilles Deleuzes und spricht von „hybride(r) Mythisierung fraktaler Individualzeitordnungen“. Heinz-Peter Preußer behandelt dagegen „politische Narrationen und de(n) Medienwandel nach dem Ende des Sozialismus“. Für die traditionelle Linke sei deren pauschale Zivilisationskritik an ihr Ende gekommen, stellt er fest, nachdem mit dem sozialistischen Experiment eine Illusion gescheitert sei. Denn ein Grunddilemma führender Vertreter der DDR-Literatur habe darin bestanden, dass sie sich aus der Ambivalenz einer kritischen Loyalität nie wirklich befreit hätten. Obwohl der Band nicht gerade leicht zu lesen ist, bietet er doch alles in allem eine Reihe anregender Perspektiven.

Titelbild

Dominik Orth / Gerhard Jens Lüdeker (Hg.): Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film.
Aus der Reihe Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien. Band 7. Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte.
V&R unipress, Göttingen 2010.
217 Seiten, 37,90 EUR.
ISBN-13: 9783899716559

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