Das Medium ist die Massage

Die neue deutsche Plapperprosa als meisterliche Umsetzung des "Getup-Prinzips"

Von Matthias PolityckiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Politycki

Ein Bürschlein, offensichtlich Luxusalkoholiker, bereist Deutschland, übergibt sich dabei mehrfach, findet es "irgendwie wahnsinnig rührend und nett", dass ihm jemand die eigne Kotze aus der Spur wischt, und immer mal wieder - nicht etwa bloß, wenn einer versucht, "mir durch meine Hose hindurch seinen Finger in den Hintern zu stecken" - beschleicht ihn das Gefühl des "Wichtigseins": Schließlich trägt er bei seinen charmanten Abenteuern ein Kiton-Sakko, auf das man als Taxifahrer ganz eifersüchtig wird, weil man sich selber niemals eines leisten könnte - jedenfalls stellt sich unser Fant das so vor -, weswegen der Taxifahrer auch noch "ein dickes Trinkgeld (kriegt), damit er in Zukunft weiß, wer der Feind ist."

Das Bürschlein heißt Christian Kracht, seine verkatert dahinschnöselnde "Knabenwindelprosa" - dies der Titel einer höchst erfrischenden Generalabrechnung von Feridun Zaimoglu - wie auch die seiner mittlerweile zahlreichen Nachahmer ist unter literarischem Gesichtspunkt nicht der Rede wert, kommt sie doch stilistisch so aufregend daher wie eine Novellensammlung des Herrn Schlink: präpräprämodern von A nach B und im bravsten Dudendeutsch erzählt. Weil aber natürlich auch die sogenannte Szene weiß, dass derlei direkt Von-sich-Gegebnes, vulgo Erbrochnes, noch lange keine Literatur ist (nein, es handelt sich hier nicht um eine "bewusst gewählte Schlichtheit des Stils", um "Simulation von Authentizität durch kunstvoll gehandhabte Kunstlosigkeit" o. ä., dass ich nicht lache!), hat man flugs das Etikett "Popliteratur" dafür erfunden: und damit eine Art Spaßliga-Prosa, in der keine Abseitsregeln mehr gelten, ja, in der man den Ball auch schon mal mit der Hand über die Linie schubsen darf, Hauptsache, es fallen möglichst viele Tore.

Doch was will uns das einstige Zauberwort "Pop" hier eigentlich noch sagen? Nichts, aber auch gar nichts an dieser neuesten deutschen Plapperprosa ist Pop, umgekehrt wäre dann ja auch Verona Feldbusch eine Repräsentantin der Gegenwartsliteratur. Wenn sich also unsre selbsternannten Verkünder des Zeitgeistes mitsamt ihrer schmalbändigen "Egozentrik-Prosa" (Kiepenheuer & Witsch-Werbung) - der Kitonsakko- und Hosenscheißervariante von "Zlatkos Welt" - als Seifenoper inmitten unsrer vielleicht 30 gleichzeitig stattfindenden Gegenwartsliteraturen zu plazieren suchen: so wäre eigentlich alles in bester Ordnung, denn an unfreiwilliger Komik ist auch im Kulturbetrieb stets Bedarf. Gewiss, eins ihrer Büchlein ist kaum mehr als ein parfümierter Furz - aber, Hand aufs Herz bzw. die Nase, sind wir doch froh, dass wir das unparfümierte Aftersausen eines Handke nicht mehr goutieren müssen! Oder sind unsre Egozentrik-Prosaisten vielleicht gar nichts andres als die zeitgemäßen Coverversionen des ewigen Handke: Ich habe nichts zu erzählen, also erzähl ich Euch wenigstens davon, wie ich neulich mal ziemlich viel getrunken habe und ... na, das haben wir mittlerweile schon bis zum Erbrechen gelesen.

Dochdoch, ich freue mich wirklich, dass es diese neuen Pixi-Büchlein gibt - für den einen sind sie todernst zu nehmende Trendbarometer des gerade Angesagten, für den andern herrliche Paradebeispiele dafür, wie leicht das todernst Gemeinte ins Lächerliche umkippen kann: Es ist ja nicht zuletzt der Blick des Lesers, der aus einem Buch etwas macht. Weit mehr noch freue ich mich allerdings an ihren Verfassern, genau genommen: an der Selbstvermarktungskompetenz ihrer Verfasser - Hut ab!

Der Spaß hört freilich bekanntermaßen dort auf, wo die Gschaftlhuberei beginnt, und dafür sorgen seit je die Medien: nicht immer, aber immer öfter. Statt nämlich das, was vollständig auseinander zu diffundieren droht - unsre 30 gegenwärtigen Spartenliteraturen -, mit ihren Vergleichen wieder zu einem Ganzen zusammenzubringen, zur Gesamtschau aller Literatur-Ligen (einschließlich der popistischen Spaß-Liga), beschränken sie sich immer öfter auf das Nachposaunen dessen, was als neueste Halbjahres-Sensation von den Verlagsprospekten vorgegeben wird: Literaturvermittlung lebt nicht mehr aus dem großen Gestern heraus und in der Hoffnung auf ein ebenso großes Morgen, sie ist der Gegenwart mit Haut & Haar verfallen und betreibt nurmehr - Stichwort One-Hit-Wonders - die klatschspaltenhysterische Deklaration des momentanen Tabellenführers: Mangelnder Überblick lässt sich auch in der Literaturkritik mit einem postmodernen "anything goes" kaschieren.

Wenn sich das Medienkarussell aber immer schneller dreht und immer neue Moden, Schlagwörter, Hypes benötigt, dann sind die literarischen Aspekte desselben ohnehin bald durchdekliniert, dann erhält auch das Außerliterarische zunehmend an Bedeutung: Immer häufiger steht bereits das singuläre Ereignis, der Event oder gar das Autorenfoto im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und diese Tendenz wird sich in zunehmendem Maße verselbständigen. Was der Autor bei einer Lesung vorgetragen haben mag, wen interessiert das noch ernsthaft - aber ob er dabei Schuhe von Prada getragen hat oder welche von Alden: das sind eindeutige Signale, das trennt Welten, das will man wissen, das muss man wissen!

Wo sich jedoch das eigentlich Literarische zunehmend aus unserm Literaturbetrieb verabschiedet, sind die Tantentäuscher nicht weit: Bei Fernsehübertragungen von Fußballspielen sieht man immer häufiger eine neue Form der Bandenwerbung - links und rechts des Tors aufrecht ragende Schriftzüge, genau genommen, nur deren frei stehende Buchstaben samt dem Schatten, den sie werfen. Erstaunlicherweise gehen die Torhüter erkennbar unbeschadet durch solch einen Schriftzug hindurch, er scheint für sie gar nicht zu existieren. Und das tut er auch gar nicht - es handelt sich um sogenannte "Getups", die aus nicht mehr als flach liegenden Teppichen, dem "Buchstabenschatten", bestehen. Der Rest ist ein reiner Kameratrick, der den Schatten zusätzlich als vermeintlich stehenden Schriftzug erscheinen lässt: für den Fernsehzuschauer nämlich, nur für den Fernsehzuschauer.

Solche Getups gibt's neuerdings auch in der Literatur und wird's in Zukunft noch weit häufiger geben: Autoren, die erst durch ihre mediale Vermarktungsstrategie und die Art, wie sie von der Kritik bereitwillig aufgegriffen und verstärkt wird, für denjenigen sichtbar werden, der nicht unmittelbar mit einem ihrer Werke in Berührung kommt - Kraft durch Presse -, Autoren, die von den Medien zur jeweils aktuellen Modeerscheinung erklärt werden, im tatsächlichen Fortgang der Literaturgeschichte aber bloß eine Schattenexistenz führen: das Getup-Prinzip.

Meisterlich gehandhabt wird das Getup-Prinzip von den Herrschaften Popliteraten: Galten vor kurzem noch Brinkmann und Neumeister als Pop, sind es heute ausgerechnet solch entfesselt Neokonservative wie Stuckrad-Barre, die erfolgreich mit der Vorspiegelung von Tatsachen beschäftigt sind. Dass dabei die Imagepflege zur Chefsache wird, haben sie begriffen - das Medium ist die Massage, das ist der Kernsatz ihres Erfolgsrezepts -, und diejenigen, die Schriftsteller noch immer mit Menschen in speckigen Lederjacken verwechseln, regen sich entsprechend drüber auf. Nichts gegen Designerklamotten! Ein Autor in einem gut geschnittenen Anzug ist mir allemal lieber als einer, der seine Kreativität durch Achtlosigkeit gegenüber äußeren Formen unter Beweis zu stellen sucht. Formbewusstsein ist nicht beliebig abrufbar, ist nicht nur ein Talent, sondern auch ein Fluch: Wer schöne Sätze liebt, wird mit hässlichen Anzügen nicht leben können - an der Art, wie er seine Sätze baut, kann man ablesen, wie seine Füße riechen.

In (nicht ganz unproblematischer) Umkehrung dieses Kardinalaxioms sind die Popliteraten vor allem mit Selbststilisierung beschäftigt - und haben damit etwas Zukunftsweisendes begriffen: dass ein perfekt inszenierter Ästhetizismus des eignen Auftretens in unsrer massenmedial vermittelten Gesellschaft weit wirksamer ist als die Ästhetik des gedruckten Satzes. Sie haben begriffen, dass der Autor - genau genommen: der in der Talkshow auftretende Autorendarsteller - heute wichtiger ist als sein Werk; und so, wie's inzwischen echte und getürkte Bandenwerbung gibt, gibt's für den Zuschauer, der über entsprechende Hintergrundinformationen nicht verfügt, echte und getürkte Schriftsteller. Wobei die getürkten, weil sie konsequent von einer Wirkungsästhetik ausgehen und sich stets direkt neben dem Tor postieren, sogar die größere Aufmerksamkeit erhalten: das Getup-Prinzip, wie gesagt.

Doch zur Selbstvermarktung gehören immer zwei - der Selbstvermarkter und derjenige, der ihm dafür den Teppich ausrollt: Kaum treffen sich fünf unsrer Herrschaften - Jugend forscht im Berliner "Adlon" -, um ein wahrlich trauriges Buch über den Zustand der neuen Pseudodekadenz zusammenzutröten, schon begeben sich selbst alte Feuilletonesel aufs Glatteis: verwechseln pars mit toto, verwechseln unsre fünf Tenöre mit allem, was da singt und munter durcheinanderklingt, als ob "die Jugend" nur von früh vergreisten Schattenparkern repräsentiert wird! Ja, die allerjüngste deutsche Literatur und ihre großväterlich hippen Gönner... Da baggern sie kleine Mädchen an und rufen, trau-schau-wem, ein Frolleinwunder aus. Da haben sie die Schnauze endlich voll vom jahrelang künstlich hochgehaltnen Mayröcker-Duden-Waterhouse-Gesumse, und prompt verkaufen sie uns Slampoetry als die neue Lyrik schlechthin. Da können sie das ganze Grass-Gesinnungsgedöns nicht mehr ab und stürzen sich aufs Gegenteil, auf ein Häuflein an bramarbasierenden Jungspunden, die nicht mal eine ernstzunehmende Haltung zur Popmusik vorzuweisen haben, geschweige denn eine zur Welt. Ist denn seit Erfindung der TED-Umfrage wirklich passé, was man jahrhundertelang von einem Schriftsteller erwartete: dass er mehr vorzuweisen habe als ein paar - wie gut oder schlecht auch immer geschriebne - Bücher?

Die armen Popliteraten - soviel Polemik haben sie wahrscheinlich gar nicht verdient, und obendrein werden sie über kurz oder lang ohnehin an ihrem eignen Anspruch scheitern: Die Lesung als Event, das Buch als Ablenkungs- und Zerstreuungsmedium - das ist eine Schlacht, die gegen den tatsächlichen Pop niemals gewonnen werden kann. Bis die Herrschaften also vom Getup-Prinzip des uns umtobenden Gesamt-Pops verschlungen werden, freuen wir uns doch einfach an ihnen: Immerhin haben sie eine neue Zielgruppe wiederentdeckt, die Schüler, die weiß Gott in den letzten Jahren auch einiges an Frisch, Böll, Botho Strauss zu ertragen hatten. Kein Wunder, dass die Boygroups regen Zulauf verzeichnen, angemessen wäre es sicherlich, wenn man sie mit kleinen Stofftierchen überhäufte statt mit Feuilletonartikeln: War "Take That" jemals was andres als - "Take That"?

Aber genau das tut man, man feuilletoniert - man verdammt, man glorifiziert, man macht alles mögliche, nur nicht das einzig Angemessne: diese popistischen Getups als das darzustellen was sie sind, als Tromp-l'œil-Phänomene. Und hier sind wir erneut bei der Krise der deutschen Literaturkritik: Was ist los mit unsern Profi-Lesern, dass sie ein Getup mit Literatur verwechseln - und was, vor allem, haben wir von ihnen dann als nächstes zu erwarten?

Natürlich gibt's auch jede Menge guter Kritiker, sehr guter Kritiker. Woran liegt's aber, dass die Literaturkritik als Ganzes so tief in der Krise steckt? Ist's ihr Zwang zur Witzigkeit, der etwas Grundsätzliches verkennt, dass nämlich unter jedem ironischen Text etwas zutiefst Unironisches als dessen Basso continuo mitschwingen muss, auf dass er nicht im allgemeinen Rauschen der Oberflächen verschwinde? Ist's ihre Eitelkeit, die sich im Wettlauf um den frühestmöglichen Erscheinungstermin einer Rezension die Ruhe des Urteilens versagt und, verhängnisvoller noch, eine Dienstleistung am Feuilletonleser zum Primärereignis umfunktioniert? Oder ist's vor allem eins - dass die Kriterien nicht mehr passen, nach denen man bis vor kurzem noch Literatur beurteilen konnte, dass es folglich keinerlei theoretischen Horizont mehr gibt, vor dem einzelne Publikationen ihre Umrisse deutlicher zeigen könnten - und dass man dieses offensichtliche Manko durch verschärft privatistische Geschmacksurteile zu überspielen sucht?

Es wird Zeit, nach Art der "Bleichen Feder", die alljährlich für den schlechtesten Vorschau- bzw. Klappentext an einen Verlag verliehen wird, einen Kritikerpreis zu stiften: und zwar von seiten der Schriftsteller. Nicht etwa, um sich für einzelne Verrisse zu rächen - ein ordentlicher (sprich: jenseits geschmäcklerischer Vorlieben vollstreckter) Verriss gehört zum Leben jedes Autors -, sondern: für all dies Oberflächliche, dies hochtrabend Selbstverliebte, eben: dies Kriterienlose im Umgang mit Literatur, das schon beinah zur achselzuckend hingenommnen Selbstverständlichkeit geworden ist. Geben wir den Kritikern doch eine Chance - angesichts all der literarischen Sensationen, die sie sich heutzutage verpflichtet fühlen, mit Regelmäßigkeit aus der Taufe zu heben, haben sie einfach nicht mehr genug Zeit fürs Eigentliche: Finanzieren wir dem Bedürftigsten unter ihnen doch einfach ein Jahr der Lektüre - durch Verleihung des "Kleinen Freundes" für das aufgeblasenste Machwerk des abgelaufenen Kalenderjahrs - und gönnen uns damit auch mal selber was: das einjährige Verstummen unsres Lieblings-Schwadroneurs! Dass die Rezensionen der eignen Werke gut ausfallen, reicht nämlich nicht; das verquaste Lob des Mittelmäßigen (oder gar Unterirdischen) ist ein weit schlimmeres Verbrechen am Guten als dessen Bemäkelung!

Also, lieber Raoul Schrott, Helmut Krausser, Jens Sparschuh, liebe Dagmar Leupold, Felicitas Hoppe, Birgit Vanderbeke usw., was ist uns dieser Preis wert? 10.000 Mark? 100.000 Mark? Die selbstverständlich nur dann ausgezahlt werden, wenn der Geehrte die Ehrung auch annimmt und sich ein Jahr lang landauf, landab durch sämtliche Feuilletons schweigt...

Bis dieser längst überfällige Preis verliehen wird, bleibt zweierlei: Lassen wir uns, zum einen, die mühsam erkämpfte Neue Deutsche Lesbarkeit nicht von einigen Kritikern gleich wieder zur Neuen Deutschen Plattheit herunterhudeln - eine Harald Schmidt-Show für Abiturienten ist, trotz des einen oder andern gelungnen Gags, noch keine Literatur; die besteht vor allem aus dem, was zwischen den Zeilen mitschwingt.

Zum andern: Die unfreiwillige Komik unserer popistischen Autorendarsteller sollte dem Betrieb unbedingt noch eine Weile erhalten bleiben: Entfesselte Teletubbies und dazu der Chor der Berufsjugendlichen, die einen Heintje nicht mehr von einem Beck zu unterscheiden wissen - das ist eine wunderbare Piep-piep-die-Presse-hat-Euch-lieb-Realsatire. Feiern wir noch eine Weile mit, so wie wir seinerzeit auch Guildo Horn mit seinen Orthopädischen Strümpfen gefeiert haben: Lassen wir sie ihre Nussecken unter die Teenies verteilen - aber hauen wir in Zukunft, bitte, jedem auf die Finger, der älter ist als dreißig und trotzdem glaubt, hier ein Stück vom guten alten Kuchen der Kunst zu ergrapschen.