Ein Charakterbild Gutzkows

Wolfgang Rasch liefert der Gutzkow-Biografik und der Realismusforschung viel neue Nahrung, indem er Zeugnisse von Zeitgenossen versammelt und kenntnisreich kommentiert

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann es den heutigen Vormärz- beziehungsweise Realismus-Forschern gar nicht oft genug in Erinnerung rufen: Der immer wieder (und oft ohne hinreichende Textkenntnis) abgewertete Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878) galt um die Mitte des 19. Jahrhunderts als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller. Selbst seine zahlreichen zeitgenössischen Feinde zeigen aufgrund der Schärfe ihrer Angriffe indirekt und ungewollt, dass es sich bei ihrem Lieblingsgegner keinesfalls um ein literarisches Leichtgewicht handelt. Dass dieser nahezu permanent schreibende Mann und sein Œuvre spätestens nach dem Ersten Weltkrieg fast völlig dem kollektiven Vergessen anheimfielen, liegt vor allem an den Kanonisierungsprozessen jener Zeit, die bis heute Auswirkungen haben auf die klassisch-konservative Klassenbildung (angeblich) ,wertvolle‘ versus (angeblich) ,nicht wertvolle Literatur‘.

Die Frage, die sich wohl jedem aufdrängt, der sich zu den Werken eines bestimmten Schriftstellers hingezogen fühlt, lautet: Wer war eigentlich diese Person, die all diese Texte verfasste? In unserem Fall: Was war das für ein Mensch, dem wir die faszinierenden Romane „Seraphine“ (1837), „Die Ritter vom Geiste“ (1850/51), „Der Zauberer von Rom“ (1858/61) oder „Die neuen Serapionsbrüder“ (1877) zu verdanken haben, der diese zahllosen Novellen und Dramen sowie die tausenden von Zeitungsartikeln zu allen möglichen Themenfeldern schrieb?

Diese Frage wird leider bis zum heutigen Tag von keiner Biografie Gutzkows beantwortet, weil es schlicht keine gibt. Während Leben und Werk anderer Autoren des 19. Jahrhunderts gleich mehrfach beschrieben wurden, hat sich bei Gutzkow bislang noch niemand an diese Aufgabe gewagt. Die immer noch beste (wenngleich in ihren zeittypischen Wertungen mit Vorsicht zu konsumierende) Lebensbeschreibung ist die immerhin gut 120-seitige Kurzbiografie von Heinrich Hubert Houben aus dem Jahr 1908, die dieser seiner Auswahlausgabe voranstellte. Die Anforderungen an eine moderne Biografie erfüllt diese Darstellung aber natürlich nicht, so sehr man Houben bis heute um seine großen Verdienste für die Gutzkow-Forschung bewundern kann.

Eine nicht eben kleine Hürde für einen kommenden Biografen ist die Bereitschaft, das extrem umfangreiche literarische und journalistische Werk Gutzkows zu durchdringen. Der noch vor 15 Jahren zurecht vorgebrachte Einwand, dass ja kaum etwas von Gutzkow im Handel greifbar sei, gilt im Jahr 2011 so allerdings nicht mehr. Seit 2001 erscheinen regelmäßig Texte innerhalb der „Kommentierten Digitalen Gesamtausgabe“. Zehn Bände sind bislang erschienen (wobei allein drei Bände auf den „Zauberer von Rom“ entfallen), weitere Bände erscheinen demnächst. Daneben sei auf die 1998 erschienenen „Ritter vom Geiste“ sowie eine Sammlung von „Schriften“ (Frankfurt a. M.) und den im selben Jahr auf den Markt gekommenen Novellenband „Die Selbsttaufe“ (Passau) hingewiesen. Auch der hübsche kleine Band „Karl Gutzkow: Briefe und Skizzen aus Berlin (1832-1834)“ (herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Rasch; Bielefeld 2008), der frühe Texte Gutzkows zum Inhalt hat, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Eine vielleicht noch größere Hürde für einen Biografen Gutzkows besteht aber darin, dass möglichst viele Quellen zu Leben und Werk erforscht werden müssen. Aber auch auf diesem Feld liegt nun ein neuer und immens hilfreicher Baustein zu einer Biografie vor, nämlich ein von dem eben schon erwähnten Wolfgang Rasch herausgegebener 600-Seiter, der zum ersten Mal in großem Stil „Erinnerungen, Berichte und Urteile“ von Gutzkows Zeitgenossen versammelt. Der Herausgeber hat in langjähriger Kleinarbeit alle nur erdenklichen Quellen wie Autobiografien, Briefausgaben, ungedruckte sowie gedruckte Briefe Gutzkows, Spitzelberichte oder Nekrologe durchforstet. 120 namentlich bekannte Personen berichten in den hier collagierten Texten Anekdoten aus ihren jeweiligen Zusammentreffen mit Gutzkow beziehungsweise geben Urteile über dessen Wesen oder Werk ab, darunter Schriftstellerkollegen, Maler, Musiker, Verleger oder Familenangehörige. Schon die hohe Anzahl der Funde unterstreicht, welche Bedeutung Gutzkow von seinen Zeitgenossen beigemessen wurde. Auch die nicht selten auftretende emotionale Intensität zeigt, wie sehr Gutzkow von seinen Mitmenschen in vielerlei Hinsicht als ,aufregend‘ empfunden wurde.

Aus den vielen verschiedenen Schilderungen, von denen einige in dieser Ausgabe von literaturkritik.de nachzulesen sind, formt sich im Leseverlauf dieses Buches – zumindest als Annäherung – ein Charakterbild Gutzkows. Auffällig ist, wie häufig Gutzkow eher nicht gemocht wird: Der Historiker Ferdinand Gregorovius trifft mit Gutzkow in Rom zusammen, als jener mit Vorarbeiten für den „Zauberer von Rom“ beschäftigt ist, und er findet ihn in seinem Tagebuch ,abstoßend‘ beziehungsweise wie eine „Dissonanz“. (Interessant für jeden Leser des „Zauberers“ ist im Übrigen die Notiz, dass Gutzkow offenbar „beständig auf Rom [schimpfte]“.) Savigny befand Gutzkow – wie wir Bettina von Arnims Aufzeichnung entnehmen dürfen – als „verworfenen Menschen“, und auch die Anekdote Heinrich Laubes – 1851 bis 1867 Direktor des Burgtheaters in Wien – spricht Bände: Gutzkow schiebt an einem frühen Morgen im April 1856 den Diener Laubes unwirsch zur Seite, um sich Einlass zu verschaffen, findet den Theaterleiter noch in halbnacktem Zustand vor und beschimpft diesen, weil er ein Stück abgelehnt habe. Kurz darauf meint Laube in seiner Retrospektive überraschenderweise: „Ich fand ihn […] im Allgemeinen ruhiger als früher.“ Es drängt sich die Frage auf, wie Gutzkow dann wohl in früheren Jahren aufgetreten sein mag.

Ein Talent, sich Feinde zu machen, hat der oft unbeherrschte und giftige Gutzkow also offensichtlich gehabt. Aber es gibt auch anderslautende Stimmen, ein reines Scheusal kann Gutzkow nicht gewesen sein, wie etwa der Journalist August Lewald verdeutlicht: „Sein Umgang ist im höchten Grade anziehend.“ Lewald ist geradezu irritiert über die Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und eigenem Erleben: „Wenn man ihn eben verlassen [hat] und dann gleich von ihm hört, so ist es schwer diese Gegensätze zu vereinbaren.“

Nahezu gleichlautend sind die Diagnosen nach Gutzkows Tod von Levin Schücking und Heinrich Laube. Gutzkow wird von beiden eine Unfähigkeit zum Glück und zur Ruhe attestiert. Laube urteilt: „Auch wenn ihm viel gelang, er war nicht im Stande, des Gelingens froh zu werden und es zu genießen. Auch dann war er unruhig weiter gedrängt und weiter. […] Welch ein gehetztes Leben!“ Zu dieser Grundunruhe gesellte sich offenbar eine sich verschlimmernde Neigung zur Paranoia, die, wie Schücking diagnostiziert, ihren Ursprung in seinem innersten Wesen hatte: „Er hatte die verletzliche Epidermis eines jungen Mädchens. Jeder Nadelstich schmerzte ihn. […] Er war glücksunfähig.“ In Gutzkow paarten sich also Hypersensibilität und Berserkertum – ein einfacher Mensch war er gewiss nicht, so weit darf man wohl bei aller Vorsicht gehen.

Diese knappen und kursorischen Einblicke in die Textcollage müssen an dieser Stelle genügen. 450 Seiten benötigt der Band für die Variationen über Karl Gutzkow (nebst informativem Vorwort des Herausgebers). Die Dokumentation ist dabei chronologisch gegliedert; der Stoff wird auf neun Kapitel verteilt, wobei sich die ersten acht an den Hauptlebensorten Gutzkows orientieren; das neunte Kapitel schließlich liefert Rückblicke nach Gutzkows Ableben. Nebenbei sei angemerkt, dass dieses Buch auch demjenigen viel bietet, der sich für den Buchmarkt, die literarischen Verflechtungen sowie die bürgerliche Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts interessiert.

Danach folgen noch 150 Seiten Anhang, die das Buch nicht nur abrunden, sondern qualitativ auf eine höhere Ebene heben. Denn Rasch liefert dort in vorbildlicher Genauigkeit bei allen 540 Texten neben Quellenangaben auch viele kluge Erläuterungen, ohne die manche Stelle kontextlos und dunkel bliebe. Des Weiteren finden sich auch einige unverblümte Klarstellungen. So wird zum Exponat Nr. 132 aus der Feder Heinrich Heines in aller Deutlichkeit mitgeteilt: „Der Brief an Laube enthält einige fragwürdige Erinnerungslücken Heines und manipulative Äußerungen.“ Starker Tobak, möchte man meinen, aber Rasch weist im nachfolgenden Erläuterungstext ausführlich und minutiös nach, dass er mit dieser Behauptung allem Anschein nach recht hat.

Weiteres wertvolles Bonusmaterial gegen Ende des Buchs ist eine 40-seitige „Lebenschronik“. In dieser werden die wichtigsten bislang bekannten Basisinformationen zu Gutzkows Leben aufgelistet, wobei alle Daten, die rein das Werk betreffen (zum Beispiel Erscheinungsdaten), zur besseren Übersicht mit einem Buch-Symbol versehen sind. Diese Chronik ist von jetzt an Rüstzeug für jeden Gutzkow-Forscher.

Die an Karl Gutzkow und seinen Texten interessierte Leserschaft hat somit nun, während sie geduldig auf eine Biografie wartet, zumindest einen Band, durch dessen Lektüre sie viel über diesen so problematischen wie faszinierenden Literaten erfahren kann. Die Vormärz- beziehungsweise Realismusforschung bekommt mit diesem Buch viel neue Nahrung.

Titelbild

Wolfgang Rasch (Hg.): Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen.
De Gruyter, Berlin 2011.
608 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783110202526

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