Wenn Frau Marthe in Königsberg Polenta kocht

Raphael Graefes missratene Heinrich von Kleist-Fiktion: „Geschichte meiner Seele“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Heinrich von Kleist-Rezeption boomt. Erst recht unmittelbar vor und im Kleist-Jahr 2011. Auch 200 Jahre nach den Schüssen am Kleinen Wannsee bieten Leben, Werk und Tod des Dichters genügend Reiz für eine Auseinandersetzung, zumal es nach wie vor große Lücken in der Biografie wie auch in der Textüberlieferung gibt. So gilt beispielsweise binnen kurzer Zeit der nie aufgefundenen Kleist-Schrift „Geschichte meiner Seele“ mit Raphael Graefes Fiktion erneut die Aufmerksamkeit, ein bei diesem verrätselten Autor gleichermaßen schwieriges wie lohnendes Unterfangen. Gelungen ist es allerdings weder zuletzt Roman Böschs Roman noch dieses Mal Raphael Graefes „Fiktion“.

Auch in diesem Fall gilt also: Wer Kleist näher kommen möchte, ist besser beraten, ihn im Original zu lesen, als den vermeintlichen Manuskriptfund eines „ins Berliner Versicherungsgeschäft abgewanderte(n), einst mit einer auf Kleist ausführlich eingehenden, dann aber abgebrochenen Dissertation über den Glücksbegriff um 1800 privatisierende(n) Literat(en)“ – zumal dessen Manuskriptbesitz auf eine Wiener Faschingsveranstaltung zurückgeht, wie uns der fiktive Herausgeber in seinem Vorwort wissen lässt.

Auch Graefes Kleist lässt uns manches wissen, was wir zum einen schon wissen und zum anderen vermutlich gar nicht wissen möchten. Letzteres vor allem dann, wenn sein Kleist sich selbst interpretiert: „(M)an wird späterhin nichts von meinem Werke verstanden haben, wenn man sie denn verstehen wollte, die ich seit diesem Jahr 1807 geschrieben habe, wenn man nicht sieht, daß ich nebenher vor allem den frühen Kant las.“

Wenn er Intimes zum Besten gibt, hört sich das bei Graefe so an: „Entblößt schrieb ich immer am besten, bis heute.“ Oder: „Wir haben ja ohnehin die Kleider vertauscht, Rikchen und ich, Ulrike in Jugenkleider und ich in den ihren; und dann spielten wir Vater und Mutter, den ganzen Tag lang, und schliefen, eng umschlungen, ein und träumten davon Kinderchen zu haben.“

Graefe lässt seinen Kleist die „Geschichte meiner Seele, des Geistes im Innersten des Fleisches“ „in der Pirnschen Vorstadt Dreßdens, Rammsche Gasse, Nummero 123“ im Jahre 1807 neu schreiben. Dabei reflektiert sein fiktiver Held, wenn seine „Seele“ vor ihm steht, „wie ein Glühwürmchen“ unter anderem auch die Königsberger Zeit, wie er damals „am liebsten heiße Milch in der Frühe“ trank und zudem mit seiner Krankheit „Schillers Todeskrankheit“ nachahmte. Was Kleist in der Erinnerung an die Königsberger Zeit dabei offensichtlich ebenso klar wird ist die Tatsache, dass er „als Königsberger Molière“ nicht nur „diese kantischen Erkenntniszweifel […] überwunden“, sondern sich mit dem Beginn am „Kohlhaas“ „beinahe um den Verstand erzählt“ hat.

Und auch an den „Krug“ – nicht nur in Zusammenhang mit Minchens Gatte Traugott, den er als Kant-Nachfolger „dann doch zum Lachen“ findet – erinnert er sich. Denn: „Wie ließe sich eine Lebensgeschichte schreiben, und sei sie die meiner Seele, ohne, daß ich sie geschildert hätte, meine Lebensumstände, nein, nicht die politischen und geistigen, sondern die ganz und gar weltlichen… in Königsberg nahm sich Frau Marthe dieser Dinge an. Sie hieß wirklich Frau Marthe wie in meinem Zerbrochenen Krug. […]“ „Sie kochte“, zum Glück mag der Leser an dieser Stelle spätestens denken, keine Klopse, sondern „Polenta und andere südliche Gerichte, um den Norden etwas zu ‚verschejnen‘, wie sie sagte, und leidenschaftlich gern Gerüchte.“

Wenn für diesen Kleist das Fazit, das er seinen Protagonisten in dessen fiktiver Seelengeschichte als „Pescherü, pescherü, pescherü“ im Sinne eines gelungenen Verfremdungseffekts selbst ziehen lässt, gelten würde, könnte der Leser zufrieden sein. Eher jedoch sollte man wie jener Preuße in Kleists Anekdote ausrufen: „Bassa Manelka“ und „Bassa Teremtetem“!

Titelbild

Raphael Graefe (Hg.): Heinrich von Kleist - Geschichte meiner Seele. Eine Fiktion.
Berlin University Press, Berlin 2010.
148 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783940432896

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