In Charakter umgemünzte Erinnerungen

Arno Geiger porträtiert in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“ seinen alzheimerkranken Vater

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sechs Jahre hat Arno Geiger, der 1968 geborene österreichische Schriftsteller und Deutscher-Buchpreis-Träger, auf sein Vater-Sohn-Buch „gespart“ – in „gefasster Erwartung“ gelebt und gearbeitet. Auf eine Fertigstellung zu Lebzeiten des Vaters habe er dabei gehofft, weil dieser, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdiene, das offenbleibt. Aus den Notizen über den Alltag eines an Altersdemenz Erkrankten, den Episoden seiner Lebens-, Liebes- und Familiengeschichte und den mit der Realität und der Gemütslage des Autors korrespondierenden literarischen Zitaten ist im Laufe der Jahre ein feines, kleines Werk entstanden, das durch seinen unaufdringlichen Ton eine überraschend große Wirkung entfaltet.

Die „Vergreisung“ der europäischen Gesellschaften schreitet unaufhaltsam voran, dadurch wird allmählich auch die Literatur um ein Genre reicher. Glücklich kann sich wohl jener Autor schätzen, den der tägliche Umgang mit seinem kranken Familienangehörigen, wie Arno Geiger, „nicht mehr nur erschöpft zurück[lässt], sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit“. So entdeckt er, der sein persönliches Glück jahrelang fernab vom ländlich-bäuerlichen Wolfurt suchte und dessen Beziehung zum Vater eher distanziert war, die Schönheit der gemeinsamen Stunden. Der anfängliche Widerwillen, über Krankheit, Vergänglichkeit und ähnlichen „Kram“ nachzudenken, muss nach und nach der Erkenntnis weichen, „dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht“. Und plötzlich ist die väterliche „Privatlogik“ frappierend, seine spontanen Äußerungen strahlen eine poetische Kraft aus.

Doch der Weg zu dieser abgeklärten Haltung, die die durcheinandergeratene Wirklichkeit des Kranken gelten lasse, ist mühsam und steinig. Lange sperrt sich die Familie gegen die Marotten des eigenbrötlerischen Vaters, ohne seine Aussetzer, unlogischen Satzfetzen oder fixen Ideen mit seinem geistigen Verfall in Verbindung zu bringen. Das Buch zeichnet den Krankheitsverlauf von der Phase der Verunsicherung über die Bewusstwerdung der eigenen Situation und die Hervorbringung neuer Fähigkeiten, bis hin zu Unterbringung und Leben in einem Pflegeheim. Während der Vater seine Erinnerungen und Identität verliert, lernt sich sein Sohn selbst kennen: „Die Krankheit machte etwas mit uns allen.“

Welche Anpassungsleistungen an die Krankheit auf beiden Seiten tagtäglich nötig sind, verdeutlichen die zahlreichen Miniaturen zwischen den Kapiteln, die eine – wohl unfreiwillige – Ähnlichkeit mit lustigen Kindermund-Anekdoten haben. Hier hat der Vater das Wort und zaubert mit seinen geistreichen Antworten wiederholt ein Lächeln auf die Lippen des Lesers. Dass man ein „Nichtskönner“, „Nichtstuer“ und „Nichtswisser“ ist, damit könnte man noch leben. Beklemmend ist dagegen das Gefühl, auch an den vertrautesten Orten nicht zu Hause zu sein. Denn gerade das, was August Geiger wegen eines nie verwundenen Kriegstraumas ein ganzes Leben lang als höchstes Gut hochgehalten hat – Zuhause, Sicherheit und Geborgenheit –, gehen ihm durch die Krankheit verloren. Erinnerungen, Erfahrungen, Schwüre und Gesichter – alles vergessen. Verbannung ist es, in einem tief existentiellen Sinne des Wortes.

„Die Aufgabe von Eltern besteht ja auch darin“, heißt es an einer Stelle des Buches, „den Kindern etwas beizubringen. Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein.“ Arno Geiger hat diese Lektion aufmerksam und mit viel Demut gelernt und darüber ein wahrhaft weises Buch geschrieben. Man verbeugt sich vor so viel schriftstellerischem Talent.

Titelbild

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
189 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236349

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