„Das Leben in der Kultur“
Bernd Nitzschke präsentiert in einer vorzüglich zusammengestellten und kommentierten Ausgabe die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Von Galina Hristeva
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Jahre 1909 hält Sigmund Freud an der Clark University in Worcester, Massachusetts auf Einladung des amerikanischen Psychologen Granville Stanley Hall fünf Vorlesungen über Psychoanalyse. Er versucht, „in gedrängtester Kürze einen Überblick über die Geschichte der Entstehung und weiteren Fortbildung dieser neuen Untersuchungs- und Heilmethode zu geben“. In der dritten Vorlesung kommt Freud auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die seine Themenauswahl begleitet haben: „Ich gestehe Ihnen, meine geehrten Zuhörer, daß ich lange geschwankt habe, ob ich Ihnen anstatt dieser gedrängten Übersicht über das ganze Gebiet der Psychoanalyse nicht lieber eine ausführliche Darstellung der Traumdeutung bieten soll.“ Damit formuliert der Redner zwei miteinander schwer zu vereinbarende Anforderungen und Ziele der Darstellung: den Überblickscharakter und die Ausführlichkeit.
Bernd Nitzschke, einem durch mehrere herausragende Publikationen ausgewiesenen Kenner der Psychoanalyse, gelingt es in seinem neuesten Buch „Die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Konzepte und Begriffe“, beide Kriterien zu verbinden. Erschienen ist das Buch in der von Helmut E. Lück herausgegebenen Reihe „Schlüsseltexte der Psychologie“ im VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden. Nitzschkes Ziel ist es, „den Grundriß sichtbar [zu] machen, dem Freuds Denkgebäude folgt“. Außer an den fünf Vorlesungen „Über Psychoanalyse“ orientiert sich Nitzschke bei seinem Querschnitt durch das umfangreiche Wissen der Psychoanalyse an den von Freud gehaltenen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1916-1917) sowie an Freuds „Abriß der Psychoanalyse“ (1940).
Besonders originell und wertvoll an Nitzschkes Buch ist die ausgewogene Kombination von Auszügen aus Freuds Texten und fachkundiger, wohldosierter Kommentierung. Anders als in Nachschlagewerken wie dem „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“ (herausgegeben von Wolfgang Mertens und Bruno Waldvogel) oder dem von Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis herausgegebenen „Vokabular der Psychoanalyse“ werden die Grundkonzepte der Psychoanalyse in Nitzschkes Buch hauptsächlich über die Lektüre der Originaltexte Freuds eingeführt und vermittelt. Sowohl die Textauswahl als auch die Zuordnung der Auszüge zu den sechs Kapiteln des Buches zeugen vom äußerst umsichtigen und kompetenten Umgang des Herausgebers mit dem psychoanalytischen Wissensstoff.
Präsentiert werden folgende Bereiche der psychoanalytischen Theorie und Forschung: Freuds Vorstellungen vom psychischen Apparat und der psychischen Regulation, die Methode der freien Assoziation, Freuds Sexualitätskonzept, die Theorie der psychischen Erkrankung, Freuds Behandlungskonzept sowie die Kulturtheorie des Begründers der Psychoanalyse. Nitzschkes Band überzeugt darüber hinaus mit einem hervorragend erzählten biografischen Abriss über Sigmund Freud im einführenden Kapitel. Dieser Abriss verknüpft Freuds Leben mit den wichtigsten Etappen der Entwicklung der Psychoanalyse in ihren Gründungsjahren, zeigt Hoffnungen, Enttäuschungen, Ruhm, Krankheit und Tod, zeichnet jedoch auch die wissenschaftsgeschichtlichen und philosophischen Koordinaten nach, die für die Entstehung der Konzepte der Psychoanalyse maßgebend waren.
Ein bedeutender Schwerpunkt liegt auf Freuds Methode der freien Assoziation. Für Nitzschke, der trotz seines breit angelegten Programms durchaus auch Kategorisierungen vornimmt und Festlegungen vollzieht, ist diese Methode „Freuds wichtigste Entdeckung“. Dies ist nicht verwunderlich, da Nitzschke der offene, undogmatische, anti-autoritäre Charakter der Psychoanalyse besonders am Herzen liegt. Aus diesem Grund ist auch der Wandel der psychoanalytischen Begriffe und Konzepte, auf den Nitzschke immer wieder aufmerksam macht, ein zentrales Thema des Buches. In diesem Sinne verweist der Herausgeber aus seiner historisch-genetischen Perspektive heraus auch auf Unterschiede zwischen einzelnen Auflagen der freudschen Werke.
Der Genuss, den die Lektüre der von Nitzschke ausgewählten Texte Freuds bereitet, wird im Buch auf eine ungewöhnliche und überraschende Art und Weise gesteigert: durch das subtile Zusammenspiel der von Freud selbst eingefügten Fußnoten und den von Bernd Nitzschke eingefügten, entsprechend gekennzeichneten Anmerkungen. Dies ist neben den einführenden Erklärungen, die jedem Auszug aus Freuds Werken vorangehen, eine weitere Kommentarebene, auf welcher der Herausgeber behutsam den Leser an die Hand nimmt, um ihn sicher durch das „Labyrinth“ der Begriffe und Konzepte der Psychoanalyse zu führen.
Weiterführende Erläuterungen sowohl zu den Begriffen und den Textauszügen als auch zu Texten von Freud, die in diesem Band nicht abgedruckt sind, regen zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse an, legen aber auch die von der Psychoanalyse ausgehende Faszination offen. Viele der Anmerkungen betreffen von Freud verwendete literarische Werke und sind daher besonders für Literaturwissenschaftler und für interdisziplinäre Studien im Spannungsfeld zwischen Psychoanalyse und Literatur interessant. Die von Nitzschke angegebene umfangreiche Forschungsliteratur erstreckt sich auch auf neuere Untersuchungen und macht den Leser mit dem gegenwärtigen Forschungsstand vertraut. Somit verbinden sich in diesem Buch, das die „Plastizität“ des Seelenlebens und zugleich die Schwierigkeiten und Dilemmata des „Lebens in der Kultur“ aus der Perspektive der Psychoanalyse präsentiert, hoher wissenschaftlicher und professioneller Anspruch mit der Rücksicht auf den Leser und einer ausgeprägten Leserfreundlichkeit, wodurch sich der Band auch für breite Leserschichten eignet.
Da er wie Freud psychoanalytisches Wissen nicht als „Offenbarung, Intuition oder Divination“ versteht, geht Bernd Nitzschke schwierigen Debatten nicht aus dem Weg und wirft einige in der Psychoanalyse sehr kontrovers diskutierte, heikle Fragen auf: dazu gehört etwa die Diskussion um Freuds Verführungstheorie oder Freuds Unfähigkeit, die heraufkommende Gefahr des Faschismus zu erkennen und richtig einzuschätzen. Mit seinem eigenen kritischen Denken und Ton gewährt Nitzschke auch dem Leser die Freiheit, einen individuellen, kritischen Zugang zu Freud und dessen Wissenschaft zu suchen, denn er hält sich wie Freud an die bekannte Maxime: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“
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