„What difference does it make?“

Farid Lighvanis Rekonstruktion des philosophischen Standorts von Charles Sanders Peirce sucht ihren „impact“

Von Thomas EbkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Ebke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Wesen des Pragmatismus könnte man demnach als den Ausdruck der Stärkung des Subjekts im philosophisch-wissenschaftlichen Prozess der Zuwendung zur Welt und deren Erklärung innerhalb einer offenen, dynamischen und vorwärtsgewandten Grundhaltung definieren“: Mit diesem Satz entlässt uns Farid Lighvani aus seiner Studie, die den klangvollen Titel „Die Bedeutung von Charles Sanders Peirce für den amerikanischen Pragmatismus. Pragmatisches Denken als Ausdruck eines besonderen amerikanischen Kulturverständnisses“ trägt. Und wie es sich für Schlussakkorde gehört, ist auch diese finale Formulierung überdeterminiert, weshalb es wiederum so attraktiv erscheint, sie als Einstieg in die Besprechung des Buches zu verwenden. Denn zum einen enthält das Zitat freilich die Bestimmung und inhaltliche Füllung dessen, was im Buchtitel vielversprechend als „besonderes amerikanisches Kulturverständnis“ annonciert wird. Und zum anderen bildet sich noch bis in diese letzte Stelle hinein ein gewisses sprachliches Mäandern ab, das dem 340 Seiten starken Text im Ganzen eigentümlich ist und einige Undeutlichkeiten auf inhaltlicher Ebene auslöst.

Zunächst zum systematischen Projekt, dem sich Lighvani in seiner Untersuchung stellt. Auf seine Quintessenz reduziert, handelt es sich um den Versuch, die pragmatistische (im Spätwerk dann pragmatizistisch genannte) Konzeption von Peirce als das zwar modifizierte, aber niemals völlig überholte Paradigma darzulegen, das für alle weiteren „Pragmatismen“ der ersten oder „klassischen“ (William James), zweiten (John Dewey, George Herbert Mead) und dritten Generation (Hilary und Ruth Putnam, Richard Rorty) verbindlich geblieben sei. Lighvani begegnet der Ansicht von der Ungleichartigkeit und Inkompatibilität der diversen Pragmatismen untereinander mit dem Bild einer „Homogenität“ in der vermeintlichen Ungleichartigkeit. Wenn die abschließende Fixierung und definitive Entscheidung dessen, was das „Wesen“ des Pragmatismus sein soll, niemals ganz gelingt, dann indiziert diese Unfassbarkeit, so Lighvani, gerade nicht historische Kontingenz, sondern gleichsam den Identitätskern pragmatistischen Denkens überhaupt: Denn dieser Kern besage nichts anderes, als dass „so etwas wie Welterklärung […] erst mittels eines freien und offenen Zuganges zur Welt durchführbar ist“. Die Pluralität, Heterogenität und Flexibilität der einzelnen Ausbuchstabierungen von „Pragmatismus“, von James bis zu den Putnams, ist in diesem Sinne der „unsystematische(n) Wesenhaftigkeit des Pragmatismus“ als Denkunternehmung geschuldet.

Wie man nun aber die Pluralität der Weltzugänge begründet, das ist – und hier liegt in Lighvanis Darstellung eine interessante Ironie – keineswegs beliebig. In diesem Punkt lässt sich der von Peirce ausgearbeitete Pragmatismus gerade nicht gleichwertig und bedingungslos durch die Standpunkte etwa von James oder Dewey ersetzen. Zweifellos installieren alle Pragmatisten als Kriterium für die „Wahrheiten“, an denen wir unsere Lebensführung orientieren oder unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse ausrichten, das Prinzip des „cash value“: Ob wir hier und heute eine Vorstellung als „wahr“ akzeptieren (können), bemisst sich an ihrem „impact“, das heißt ihrer Kraft, unsere konkrete Alltagspraxis zu verändern. Was von allen Pragmatisten, indem zwischen ihnen Konsens über die entscheidende Rolle dieses Kriteriums besteht, gleichermaßen kritisiert wird, ist jene metaphysische Doktrin, welche die Ordnung der Wahrheit an der Identität von Seiendem und Denken festmacht (adequatio res et intellectus veritas est) und auf diesem Weg ein oberstes und absolutes Kriterium für die Wahrheitsfrage proklamiert. Wie Lighvani jedoch herausstellt, bedarf auch die Situation, in welcher der „cash value“ über die Wahrheitsansprüche einer Aussage entscheidet, einer strukturellen Begründung – zumindest dann, wenn man sich klar machen will, inwiefern die pragmatistische Maxime eben doch anderes (und mehr) sein könnte als ein triviales „anything goes“. Auf dieser Ebene, so Lighvani, müsse man die niveauvolle Kombination von Semiotik, Logik und Phänomenologie aufgreifen, die zwar Peirce in seinem Ansatz vorgelegt habe, für die es aber bei James, Dewey, Mead oder den Neopragmatisten kein hinlängliches Äquivalent gäbe. Sofern sogar schon bei James die logisch-semiotische Fundierung der pragmatistischen Position nur mehr implizit vorausgesetzt wird, verliert sie die zentrale Funktion, die sie bei Peirce noch besitzt; diese bequeme Unterbestimmung eines „Grundpfeiler(s) des Peirceschen Pragmatismus“ sei dann in der Sekundärliteratur mehr und mehr virulent geworden.

Innerhalb des Spektrums verschiedener Spielarten (oder Ausführungen) der pragmatistischen Formel genießt der Ansatz von Peirce also deshalb einen gewissen Vorrang, weil er die phänomenologische Offenheit, wonach uns die Wahrheit der Dinge nicht vorgegeben, sondern das Resultat unserer produktiven und vorläufigen Setzungen ist, auch semiotisch konkretisieren und sichern kann. Dieser Privilegierung von Peirce im Verhältnis zu den übrigen Exponenten der pragmatistischen Tradition entspringt der nähere Aufbau von Lighvanis Studie: Auf das einleitende Kapitel folgt eine Verortung der „Wurzeln des Pragmatismus“, die Lighvani zum einen im methodischen Zweifel von Descartes, zum anderen in Kants Insistieren auf den abzuleitenden kategorialen Bedingungen möglicher Erfahrung ausmacht. Kapitel 3 erläutert dann die doppelte Gestalt der Argumentation von Peirce im Sinne eines semiotisch-logischen Pragmatismus’. Und schließlich durchläuft Kapitel 4 einen Parcours, in dem ausgewählte Positionen der pragmatistischen Genealogie bei James, Dewey, Mead und den Putnams nachgezeichnet und mit der Ambition von Peirce kontrastiert werden.

Soweit zu den expliziten Zielsetzungen, die Lighvani in seiner Untersuchung verfolgt. Wenn man sich nun allerdings dem Versuch einer Evaluierung zuwendet, können durchaus einige kritische Momente konstatiert werden. Da wäre zunächst ein gewisses Missverhältnis zwischen dem verheißungsvollen, Erwartungen weckenden Titel des Projekts, in dem von einem „besonderen amerikanischen Kulturverständnis“ die Rede ist, und dem Ausmaß, in dem die Studie Aufschluss über genau diese Kulturauffassung gibt. Genauer besehen dient diese Formulierung ihrerseits nur als Paraphrase des genuinen methodischen Selbstverständnisses der amerikanischen Pragmatisten: Wo man, der Suggestion des Titels erlegen, eine historische Schärfung des Problems erwarten könnte, inwieweit der Pragmatismus so etwas wie ein spezifisch amerikanisches Kulturverständnis mit hervorgebracht hat beziehungsweise inwiefern er umgekehrt durch einen solchen Kulturbegriff allererst ermöglicht worden ist, arbeitet Lighvani nicht wirklich einen Unterschied zwischen diesen Phänomenen heraus. Bedauerlicherweise ist im Titel der Untersuchung mithin eine Spur angelegt oder doch angekündigt, die durch die eigentliche Argumentation vernebelt wird.

Hinzu kommt leider, dass es der Autor nicht mit letzter Konsequenz versteht, die Prioritäten seines Unternehmens auch sprachlich unmissverständlich zu isolieren und gegenüber eher nachrangigen Fragestellungen, die ebenfalls zu verhandeln sind, hervorzuheben. So leidet der Text an einer gewissen Inflation rhetorischer Signale, die unentwegt nahelegen, nun endlich die eigentliche These des Ganzen zu eröffnen. So wird etwa eine Reihe von drei „Grundthesen“ herausgestellt, die in wechselseitiger Beziehung aufeinander zu bearbeiten seien, während später wiederum auf eine „Kernthese der Arbeit“ angespielt wird. Und während zunächst noch die „Problematik“ der (von der Forschung unterschlagenen) Homogenität der verschiedenen Pragmatismusformen noch als „Ausgangspunkt“ der Studie angesetzt wird, genießt kurz darauf schon wieder die „umfangreiche Zeichentheorie Peircens“ das Vorrecht, „zentraler Ausgangspunkt des Projekts“ zu sein. Unglücklich wirkt hier auch der Umstand, dass eine bereits in die Einleitung eingearbeitete Passage wortgleich in den Schlussteil übernommen worden ist: Indiz für eine sprachliche Selbstüberforderung des Autors, in dessen Prosa die einschlägigen verbalen Strukturierungen zu akademischen Phrasen erstarren.

Einen kuriosen Eindruck hinterlässt zudem Lighvanis Kant-Rekonstruktion. In dem Versuch, den zwiespältigen Anschluss von Peirce an Kants Auszeichnung der synthetischen Urteile a priori darzustellen, argumentiert Lighvani, „die Peirce’sche pragmatische Realitätsauffassung“ liege „in der Ablehnung eines a priori, das die Welt gar nicht anschauen muss, um eine Erklärung für diese zu finden“. Nicht erst die geläufige Formel aus der „Kritik der reinen Vernunft“, wonach zwar Anschauungen ohne Begriffe blind, aber Gedanken ohne Inhalt eben auch leer seien, sollte Warnung genug sein, den transzendentalen Idealismus nicht mit einem platten naturalisierten Platonismus zu verwechseln.

Doch das womöglich dringendste Fragezeichen, das die Lektüre dieser Arbeit begleiten könnte, bezieht sich auf deren Fähigkeit, der von ihr selbst als Durchbruch zu einer nachmetaphysischen Form der Philosophie fokussierten pragmatistischen Maxime gerecht zu werden. Denn insgesamt bringt der Text eher keine pragmatische Differenz zu Wege, die zu Veränderungen der Routinen (in diesem Fall: Routinen der Forschung) zwingen würde. Die systematische Konsistenz von Semiotik, Logik und Handlungstheorie (aber auch Ästhetik, Kosmologie, Wissenschaftstheorie etc.) bei Peirce ist in den Standardeinführungen bereits umfassend aufgewiesen worden, so dass der „cash value“ von Lighvanis Analyse nicht in der Wiederholung dieses vertrauten Bildes liegen kann. Auf welcher Ebene aber stellt sich dieser Barwert sonst ein? Auch die Unterstellung eines anhand von Peirce rekonstruierbaren Identitätskerns sämtlicher pragmatistischer Strategien kommt hier nicht recht in Frage: Diese Idee einer relativen Überlegenheit von Peirce gegenüber seinen „Pragmatistenkollegen“ (Lighvani) unterläuft und revidiert eher, was als konstitutiver Gewinn des Pragmatismus gerühmt wurde – nämlich die Offenhaltung der Frage nach der Wahrheit. Bedenkt man all das, dann ist man vielleicht genötigt, die Urfrage der pragmatistischen Bewegung, „What difference does it make?“, mit jener lakonischen Bemerkung zu quittieren, die der britische Rocksänger Morrissey, der diese Frage ebenfalls aufwirft, als Antwort parat hat: „It makes none“.

Titelbild

Farid Lighvani: Die Bedeutung von Charles Sanders Peirce für den amerikanischen Pragmatismus. Pragmatisches Denken als Ausdruck eines besonderen amerikanischen Kulturverständnisses.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007.
348 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783830030232

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