Die andere Party

Warum die deutsche Literaturkritik vielleicht doch noch zu retten ist

Von Kolja MensingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kolja Mensing

Also noch einmal: Die junge deutsche Literatur ist nur ein Hype der Medien, ist Erlebnis statt Bedeutung, die Autoren sind eitel, die Texte banal, die Stuckrads banal, die Barres Schnösel und so weiter und so fort... Hallo? Hört eigentlich noch jemand zu? Das ist so, als ob man auf einer Party herumsteht und darüber redet, dass man die Party blöd findet.

- Lass uns nach Hause gehen, Schatz

- Harald Schmidt ist jetzt eh vorbei.

- Können wir dann vielleicht über etwas anderes reden?

Herr Politycki hat eine Idee. Herr Politycki ist Schriftsteller und 44 Jahre alt, wie vor einigen Tagen unter seinem Beitrag zur Literaturdebatte der taz stand. Die deutsche Literaturkritik steckt "tief in der Krise", sagt Herr Politycki und greift nach einer Schale Erdnüsse. Kaut, räuspert sich dezent und wirft mit den Schalen nach dem "Chor der Berufsjugendlichen" in den Feuilletons, die sich gemein machen mit den Popliteraten und sich sogar mit ihren Polemiken noch an den Selbstvermarktungsmechanismus der jungen deutschen Literatur hängen. Man muss allen, die "älter als dreißig" sind und unbedingt mitreden wollen, mal kräftig "auf die Finger hauen", findet Herr Politycki, und er meint: allen, die älter als 44 sind. Die Achtundsechziger, sozusagen.

Es ist tatsächlich etwas peinlich, was manchmal so in der "Zeit" und im "Spiegel" über die junge deutsche Literatur zu lesen ist, egal ob sie sich dort gerade mal entschlossen hat, sie gut zu finden oder nicht. So viele Achtundsechziger gibt es allerdings in den Kulturredaktionen auch nicht mehr, und was da so um die 44 Jahre alt ist, ist genauso anstrengend. Aber es soll ja eigentlich um etwas anderes gehen.

- Kann mal jemand die Musik leiser machen? Entschuldigung, Herr Politycki...

- "Woran liegt es aber, dass die Literaturkritik als Ganzes so tief in der

Krise steckt?"

(unangenehmes Schweigen)

- "Ist's vor allem eines - dass die Kriterien nicht mehr passen, nach denen man bis vor kurzem noch Literatur beurteilen konnte?"

Kriterien sind Merkmale, anhand deren man die Dinge prüft, Entscheidungen fällt und zuletzt - zu Urteilen kommt. Neue Kriterien findet man allerdings nur, wenn man die bereits vorhandenen Urteile und getroffenen Entscheidungen einen Augenblick beiseite lässt. Herr Politycki kann das nicht, und das ist das Problem. Ihm gefällt es nicht, dass die "Profi-Leser" ein Medienphänomen "mit Literatur verwechseln", und wenn er nach neuen Kriterien ruft, dann nur, um diese Grenze wieder neu zu befestigen. Die Literaturkritik soll ihm erklären, warum die Party, auf der wir herumstehen, so langweilig ist. Das ist langweilig.

- Taxi?

Halt. Es ist gar nicht so langweilig. Es gibt, zumindest in Ansätzen, neue Formen der Literaturkritik, nur wird man sie eben nicht wahrnehmen, wenn man auf der Unterscheidung zwischen "Medienphänomen" und "Literatur" (Matthias Politycki, Achtundsiebziger) oder "Erlebnis" und "Bedeutung" (Ulrich Greiner, Achtundsechziger) beharrt. Michel Foucault hat vor etwa dreißig Jahren eigentlich recht einleuchtend erklärt, dass ein Buch mehr ist als der Text, der auf die paar hundert Seiten zwischen zwei Buchdeckel geheftet wird und der einen entweder glücklich oder unglücklich macht, einen interessiert oder nicht interessiert, und an den man höchstens noch den einen oder anderen geisteswissenschaftlichen Diskurs anschließen darf: "Die Grenzen eines Buches sind nie sauber geschnitten."

Marketing, zum Beispiel. Man hat sich gerne über die naiven Klappentexte lustig gemacht, die Verlage ihren Büchern mitgegeben haben. Heute allerdings erweitert sich das Werk ganz von selbst auf den Schutzumschlag, und wenn ein Buch über Banalität der "Generation Golf" von zwei prominenten Vertretern dieser Generation, Heike Makatsch und Benjamin von Stuckrad-Barre beworben wird, dann kann man das natürlich doof finden, aber man wird nicht darum herumkommen, dieses Urteil sehr genau begründen zu müssen. Das ist dann wohl Literaturkritik. Und es ist keine Literaturkritik, sich mit Herrn Politycki (und Herrn Greiner und all den anderen) darüber zu ärgern, dass "das Außerliterarische zunehmend an Bedeutung gewinnt" und "gar das Autorenfoto im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit" steht.

Stimmt ja. Und? Viel lieber als diesen Text hier zu schreiben, hätte ich über dieses schöne Werbefoto von Herrn Politycki geschrieben, das eine große Buchhandelskette zur Zeit in ihren Schaufenstern hängen hat, und auf dem er mit einem glücklichen Lächeln eine Plastiktüte mit einem Werbefoto von Alexa Hennig von Lange hochhält: Das Außerliterarische gewinnt zunehmend an Bedeutung, und dass es so außerliterarisch gar nicht ist, darüber hat die Literaturkritik (nach den Kollegen aus den Ressorts Pop, Kino, Mode) leider erst sehr spät angefangen zu schreiben. Die Kriterien? Die findet man bei Roland Barthes genauso wie in der Allegra.

Herzlich willkommen in der Popkultur. Seit Handke - und das ist lange her und vermutlich auch keine "Plapperprosa" - gehören Soundtracks zur Literatur dazu, und wenn man heute gleich eine CD zu einem Buch dazubekommt, wenn DJs bei Lesungen auflegen, dann kann man das natürlich doof finden, aber man wird es begründen müssen. Diese Begründung wird dann wohl eine Literaturkritik sein. Und zwar eine, die auf ein bestimmtes Wissen zurückgreift: Man muss heute nicht mehr unbedingt erklären, an welcher Stelle im Bücherregal man eine Neuerscheinung nun einsortieren muss, Abt. "Th. Mann" oder Abt. "R. Brinkmann", sondern man muss sich eben manchmal fragen, zwischen welche Schallplatten man die paar Seiten Papier abstellen sollte. Oder zwischen welche Videokassetten. Das Kriterium? Früher nannte man das "Kanon".

- Kennst du diese Stelle bei Judith Hermann: "Wir hörten 'Massive Attack' und rauchten und fuhren die Frankfurter Allee wohl eine Stunde lang rauf und runter, bis Stein sagte: 'Verstehst du's?'"

- "Massive Attack" finde ich Scheiße.

(Das Gespräch nimmt eine unerwartete Wendung.)

In der Öffentlichkeit gibt es nicht mehr den Autor, sondern nur noch den "Autorendarsteller", der "heute wichtiger ist als sein Werk", sagt Herr Politycki. Stimmt. Und? Die "Autorendarsteller" sind ja in den meisten Fällen interessanter als die "Autoren", und gehören - man sieht das bei Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre - offensichtlich zu ihrem Werk dazu. Das zu erklären ist interessanter, als in der FAZ oder sonst wo auf 200 Zeilen sein Befremden gegenüber dem Werk im engeren Sinne auszudrücken. Oder, noch schlimmer, eines dieser kreuzlangweiligen Autorenporträts zu schreiben, die unbedingt "Autor" und "Darsteller" wieder auseinanderdividieren wollen. Das Feuilleton hat gerade erst damit angefangen, die besseren Analysen in dieser Sache werden zur Zeit noch in Modemagazinen und Frauenzeitschreitschriften geschrieben.

Was soll das? Wenn ein Buch unbedingt mehr sein will als ein Buch und ein Autor ein Darsteller - warum sollte gerade die Literaturkritik auf dem Gegenteil beharren? Warum sollte gerade die Literaturkritik im Gespräch über die Literatur den langweiligsten Pol besetzen? Und warum sollte sie sich ihre Kriterien nicht aus allen angeschlossenen Diskursen zusammen sammeln? Ist doch toll, wenn jemand erklären kann, wie die Textur eines Romans ins feine Gewebe eines Zweireihers überläuft und umgekehrt. Das ist mindestens so interessant wie die Frage, was der Anzug gekostet hat, bzw. was Kiepenheuer & Witsch als Vorschuss für die ersten zehn Seiten eines jungen, deutschen Romanmanuskriptes zahlen. Die Ökonomie: auch ein Kriterium.

"Das sind ja keine Romane, die da geschrieben werden" beklagen sich die einen und freuen sich dann, dass Botho Strauss ein neues Buch geschrieben hat. Und die anderen sagen: "Na, gut, wenn das keine Romane mehr sind, die wir hier lesen, dann schreiben wir eben Literaturkritiken, die keine mehr sind." In solchen Texten wird herumprobiert, die im schlechtesten Fall auf dreißig Zeilen zusammengekürzt in irgend einem Stadtmagazin gedruckt werden, zuweilen im "jetzt"-Magazin erscheinen und mit viel Glück auch mal andernorts.

Die Literaturkritik ist in einer Experimentierphase, nicht in einer Krise. Es wird ganz subjektiv geschrieben - "Ich erzähl jetzt erst mal, wie es in meinem Zimmer gerade so aussieht, und dann schreibe ich über das Buch." Verrisse? Man entwirft komplizierte Argumentationsmuster, entwickelt Kriterien, verwirft sie wieder und endet schließlich in einem einzigen, vernichtenden Urteil: "nicht cool." Oder man macht Listen: die zehn wichtigsten Wohlfühlbücher, die beiden langweiligsten Bücher von Peter Handke, achtzehn Möglichkeiten, über ein Buch zu reden, ohne es gelesen zu haben. Manchmal schreibt man auch einfach mal eine Kritik, wie man sie vor zehn, vor zwanzig oder dreißig Jahren geschrieben hätte. Geht auch in Ordnung. Ganz selten auch erzählt jemand eine ganz eigene Geschichte, löst sich in der Besprechung vom Gegenstand, ohne ihn dabei ganz zu verlieren, und das ist dann das Schönste: Dann ist die Literaturkritik die Party. Das ist leider selten, und wer das Talent dazu hat, landet heute eben bekanntlich ja auch schnell am Anfang des Verwertungszusammenhangs.

- Wie alt sind Sie denn, wenn ich mal fragen darf?

- So gerade 30 (wird rot).

- Na, dann müssen Sie ja auch bald mal ein Buch schreiben (lacht).

In dem Tagebuchroman "Mai 3D", der in diesem Frühjahr erschienen ist und an dem unter anderem Alexa Hennig von Lange mitgeschrieben hat, gibt es eine junge Frau namens Kathrin, die so ziemlich alles kann: Filme machen, Artikel schreiben, Drogen nehmen, Künstlerin sein, Geld verdienen. Kathrin, und alleine für diesen Neologismus ist der Roman sehr zu loben, leidet unter der beunruhigenden Krankheit "Multitalentose". Das ist die Krankheit einer ganzen Generation: "Heute Künstler, morgen Doktorand, übermorgen Trash-Model. Alle entscheiden sich für eine sogenannte Karriere."

"Mai 3D" ist junge deutsche Literatur, wird zur Zeit interessanterweise in der Bild-Zeitung als Fortsetzungsroman gedruckt und erreicht damit knapp eineinhalb Millionen Leser. So richtig viele Rezensionen sind zu diesem Roman allerdings noch nicht erschienen, und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass "Mai 3D" auf den ersten Blick "wenig Substanz" hat, mehr "Produkt" als "Buch" ist und eine traditionelle Rezension wahrscheinlich noch nicht einmal ein gelangweilter Verriss wäre. Gelesen hat dieses Buch eigentlich so ziemlich jeder jüngere Literaturkritiker, den ich kenne, eine Rezension schreibt allerdings keiner. Vielleicht ist das das eigentliche Problem: Die "Multitalentose" macht uns Angst, der Neidkomplex wartet gleich nebenan und beide machen uns zuweilen einfallsreich, oft aber auch einfach stumm.

- "Mai 3D" ist nicht cool (zustimmendes Gemurmel).

- Dann eben wieder Judith Hermann.

"Sommerhaus, später" ist eines der wichtigsten Debüts der 90-er Jahre. In der FAZ erschien eine Rezension dieses Buches, die allgemein als großes Lob angesehen wurde. Neben der "Formsicherheit", die im Durchschnitt alle drei Tage in den Feuilletons einem literarischen Werk zugesprochen wird, war es vor allem eine Sache, die anscheinend als Lob gemeint war: die "Emotionslosigkeit" und "Kommunikationsunfähigkeit" der Figuren. Was ihn daran so fasziniert hat, hat uns der Rezensent Florian Illies, der inzwischen besagtes Buch über die "Generation Golf" geschrieben hat und genau ein Jahr jünger ist als Judith Hermann nicht erzählt. Ich würde das gerne wissen. Ich konnte Judith Herrmanns Erzählungen nämlich nicht zu Ende lesen, so nahe sind sie mir gegangen. Herrn Politycki, Herrn Greiner und all die anderen würde das wahrscheinlich nicht interessieren. Vielleicht macht man einfach mal eine Party ohne sie.

- Taxi!

(zwei junge Männer beginnen sich über Handys zu unterhalten) - Kann mal einer die Musik lauter stellen?