„Sehnsüchte, die nicht altern.“

Ulrike Tanzer untersucht Aspekte des Glücks in der Literatur

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Glück ist kein guter Stoff für Dichter. Es ist zu selbstgenügsam. Es braucht keinen Kommentar. Es kann in sich zusammengerollt schlafen wie ein Igel. Dagegen das Leid, die Tragödie und die Komödie: sie stecken voll von Explosivkräften.“ (Robert Walser)

Fortuna, Idylle, Augenblick – Aspekte des Glücks in der Literatur. Der Titel von Ulrike Tanzers Habilitationsschrift lässt einen Moment lang aufmerken und innehalten: Glück und Literatur? Literatur als Geschichte des Glücks? Gewiss, die Ratgeberliteratur zum Thema Glück ufert seit Jahren schon aus, Glück ist zum Modethema, auch in den Wissenschaften, geworden und die Philosophen beschäftigen sich seit Jahrtausenden mit diesem Gegenstand. Aber wie sieht es mit der Literatur im engeren Sinne, mit der fiktionalen Literatur beispielsweise, aus? Da fällt einem doch zuerst das Unglück ein, das Tragische, das Unerfüllte, das Brüchige, das in Sehnsucht sich Verzehrende – und auch das Dekadente, das Kranke, das Wahnsinnige – alles und vieles, nur nicht: das satte und platte Glück, das mit Erfüllung und Fülle so eng verbunden ist und etwas Statisches hat, etwas, das sich nicht mehr bewegt, das sich nicht mehr sehnt, etwas, das nicht mehr über sich hinaus weist und hinaus will. Was bleibt offen im (Schreiben über das) Glück?

Bemerkte nicht schon Leo Tolstoj am Beginn von „Anna Karenina“ so trefflich: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie aber ist auf ihre eigene Art unglücklich“? Und John Updike: „Aber wann war Glück je der Gegenstand des Erzählens? Das Streben danach ist immer nur dies – ein Streben. […] Unzufriedenheit, Konflikt, Verlust, Trauer, Furcht – das sind die unvermeidlichen Themen, die es wert sind, dargestellt zu werden“.

Die Literaturwissenschaft, bemerkt Ulrike Tanzer denn auch in der Einleitung zu ihrer Studie, stehe, von einigen Ausnahmen wie etwa der Utopieforschung abgesehen, der Frage nach dem Glück in der Literatur eher reserviert gegenüber. Fordert nur das Unglück die Sprache heraus? Schweigt, was glücklich ist (Robert Walser)? Gibt es eine eigene Sprache in der Regel nur im Unglück (Peter Handke)? Dies scheint auf den ersten Blick so zu sein, dennoch aber, so Tanzer, sei die Literatur auch der Ort, an dem – bei aller ästhetischen Nachdenklichkeit und Skepsis – das Glück immer wieder zum Thema werde.

Es seien literarische Formen und Strukturen, in denen sich der Diskurs über Glück entfalte und die er selbst zur Entfaltung bringe. Die historisch-anthropologische Systematik, in deren Rahmen das Glück gedacht wurde – nämlich in Zusammenhang mit dem Schicksal und dem Zufall, dem Unglück, der Identität und der Zeit – finde ihren Niederschlag in literarischen Genres wie der Idylle und dem Märchen, in Allegorien wie der Fortuna/Tyche, in Figuren wie Hans im Glück und in Strukturen wie dem besonderen Augenblick. Tanzer rückt diese formale wie inhaltliche Komplexität der Glücksdarstellung in der deutschsprachigen Literatur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und beabsichtigt, „das vielfältige Potential der Literatur in der Glücksdiskussion“, aller Skepsis zum Trotz, deutlich zu machen.

Anhand ausgewählter Texte des 19. Jahrhunderts zeigt Tanzer, wie das Zufällig-Unberechenbare des Glücks und dessen prekärer zeitlicher Zustand zur Darstellung kommen. Der behandelte Zeitraum reicht dabei von der Romantik (Joseph von Eichendorff), Biedermeier und Vormärz (Ferdinand Raimund, Johann Nestroy, Heinrich Heine) über den bürgerlichen Realismus (Gottfried Keller, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Marie von Ebner-Eschenbach) zur Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal). Der kurze und stark selektive Blick auf die Literatur nach 1945 umfasst Autoren wie H. C. Artmann, Hermann Hesse und Martin Walser. Es geht ihrer Untersuchung nicht um ‚die‘ Glücksdarstellung bei den genannten Autoren, sondern um „Darstellungsformate des literarischen Glücksdiskurses“.

Die inklusive Anhang dreihundert Seiten starke Arbeit ist straff gegliedert und setzt damit bereits von ihrer Anlage her einen gewichtigen Gegenpol zur immanenten Uferlosigkeit der Thematik und der Unüberschaubarkeit der Literatur zum „Glück“. Dies ist positiv im Hinblick auf Stringenz und Übersichtlichkeit, negativ aber hinsichtlich einer (wohl unumgänglichen) Verengung und Beschneidung des Gegenstandsbereichs.

Im ersten Kapitel ihrer Studie untersucht Tanzer Dimensionen des Glücksbegriffs sowie den Komplex „Glück und Literatur(wissenschaft)“. Sie zeichnet die verwirrende Dialektik des Glücks und die Bedeutungsvielfalt des Wortes nach, die vom zufälligen Glück, das nicht erzwungen werden kann, zum Glücklichsein und zur Glücksempfindung reicht (vgl. lat. fortuna und beatitudo beziehungsweise griech. eutychia und eudaimonia). Ein Blick in einschlägige Wörterbücher und Lexika zeigt die außergewöhnliche morphologische Produktivität des Begriffs: Im Grimm`schen Wörterbuch zum Beispiel umfasst das Lemma „Glück“ mitsamt den dazugehörigen Wortzusammensetzungen mehr als 200 Spalten.

Die sogenannte Glücksforschung hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt. Im Vorwort seines 2002 erschienenen Sammelbandes, der eine vorläufige Bestandsaufnahme der Glücksforschung versucht, hält der Soziologe Alfred Bellebaum fest, dass es „in der modernen Gesellschaft offensichtlich Lebensumstände (gibt), die ein thematisch weit gefächertes Nachdenken über eine sinnvolle oder ähnlich bezeichnete Lebensgestaltung nahe legen“.

Wie aber ist es nun bestellt um den Zusammenhang von Glück und Literatur? Dem Glück müsse das Unglück folgen, so der Literaturwissenschaftler Peter J. Brenner, sonst könne es keine „große“ Literatur sein – „das ist die Botschaft zumindest der großen europäischen Romane des 18. und 19. Jahrhunderts“. Zum Glück scheint, wenn es um seine literarische Darstellbarkeit und Inszenierung geht, notwendig das Unglück zu gehören. Auch wurde in der Glücksforschung die Ansicht vertreten, dass es so etwas wie eine spezifisch deutsche Glücksverachtung, eine „Scham vor dem Glück“ (Georg Kamphausen) gebe. Für Brenner ist denn auch das Glück der Bescheidung und Entsagung der Inbegriff des ‚deutschen‘ Glücks.

Die Gefahr, bei der Glückssuche in der Literatur eher auf Kitsch als auf Literatur zu stoßen, ist groß. Die Kunsttheorien der Moderne belegten das Glück mit dem Dauerargwohn des Kitsches. Diese Skepsis im Hinblick auf die Literarisierung und künstlerische Inszenierung des Glücks spiegelt sich auch in einer Bemerkung des Dramatikers Peter Turrini wider: „Nach dem Glück hat mich überhaupt noch niemand gefragt in den vergangenen 40 Jahren. Das ist die revolutionärste Frage, die es zwischen Menschen gibt. Und gleichzeitig ist es die am beharrlichsten ausgeklammerte Frage“.

All diesen Einwänden zum Trotz ist die Literatur nach wie vor der Ort, wo das Glück immer wieder zum Thema wird. Das Glück, konstatiert Tanzer, ist nicht ein Motiv der Literatur wie andere, sondern eine anthropologische Kategorie. An einer (theologischen, ästhetischen, philosophischen) Diskursgeschichte des Glücks, in deren Mittelpunkt die Frage nach seiner Verfügbarkeit beziehungsweise Unverfügbarkeit stehe, habe der Gedächtnisraum der Literatur einen entscheidenden Anteil.

An die begrifflich-systematischen und konzeptuellen Ausführungen zum Glücksbegriff und zu Glücksdiskursen schließen sich Kapitel zur (bereits gut erforschten) Geschichte der Fortuna und zu ihrer „Wiederkehr“ an. Tanzer legt dar, inwieweit das Fortuna-Thema über die Jahrhunderte hinweg inhaltlich wie formal präsent blieb, sich aber weiter entwickelte und eine produktive Spannung entstand zwischen dem allegorisch-allgemeinen Fortuna-Modell und individualistisch-vieldeutigen Glücksvorstellungen, wie sie seit der Aufklärung für das abendländische Denken prägend wurden. Nestroys Fortuna-Konzeption beispielsweise zeige die allegorische Figur „grundlegend verändert, beschädigt und verletzt“. Ihre Attribute seien „sinnentleert und vollkommen obsolet geworden“ oder würden in ihr Gegenteil verkehrt. Nestroys satirisch-parodistischer Umgang mit der Fortuna-Thematik habe eine Entsprechung in der späten Lyrik Heines gefunden – in „Romanzero“ ist das Glück eine „leichte Dirne“, die nicht gern am selben Ort weilt, wohingegen „Frau Unglück […] Dich liebefest ans Herz gedrückt“.

Es folgt ein umfangreicher Teil „Idylle, Augenblick, geglücktes Leben“, der die Gattungsgeschichte der Idylle fokussiert auf das Verhältnis von episodischem und übergreifendem Glück beleuchtet, antike Gattungsmuster beschreibt, Friedrich Schillers sowie Jean Pauls „Idyllenformeln“ skizziert und Hofmannsthals und Wilhelm Raabes Auseinandersetzung mit der Idyllentradition analysiert. Um die Jahrhundertwende 1900 zeigt sich das Glück gekoppelt an Phänomene wie Plötzlichkeit und Augenblick beziehungsweise an Momente der Epiphanie und des gesteigerten Lebens. In den literarischen Projekten des Fin de siècle hat ein selbstgenügsames, quietistisches Glück ausgedient: Wolle man sich eine Welt in die Welt hineinbauen, schreibt Hofmannsthal am 15. Mai 1895 an Richard Beer-Hofmann, dann benötige man auch „ein besonderes Glück, nämlich, dass die begegnenden Phänomene wie Karten bei der Kartenschlägerin gut-symbolisch fallen, reich, vielsagend und durch ihre Kühnheit auch im schönen Sinn schauerlich tragisch. […] Das Fallen der Karten aber erzwingt man von innen her“. Bei Fontane schließlich besteht das Glück darin, dass man „da steht, wo man seiner Natur nach hingehört. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblasst daneben“.

Das Glück ist, so resümiert Tanzer im abschließenden Teil ihrer Studie, allen Bedenken zum Trotz ein guter Stoff für Dichter. Dies zu zeigen sei ein wesentliches Ziel ihrer Untersuchung gewesen. Dass das Glück auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vielfältig thematisiert wird, zeigt ein kursorischer Blick Tanzers auf literarische Neuerscheinungen der letzten Jahre: Fortuna, Idylle, Augenblick sind als Aspekte einer Poetik des Glücks keineswegs obsolet geworden, sondern finden sich in zahlreichen Texten wieder. Fortuna als allegorische Figur werde etwa in Silvia Bovenschens autobiografischen Notizen über das „Älter werden“ ebenso wie in Sybille Bergs Roman „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ zitiert. Epiphanien und Augenblicke stünden im Zentrum von Peter Handkes Poetik – und zwar von Beginn an. Die Idee vom geglückten Tag werde zum Traum, den der Träumende nicht „gehabt“, sondern „gemacht“ habe im Versuch des geglückten Schreibens. Martin Walsers „Der Augenblick der Liebe“ schließlich thematisiert das Glück auf vielfältige Weise und ruft die literarischen Glückskonzeptionen nochmals auf.

Alles in allem, ist Ulrike Tanzers Untersuchung mit Gewinn zu lesen. Wie bereits bemerkt, ermöglicht die stringente Gliederung eine einsichtige und (manchmal allzu) bequeme und unkomplizierte Lektüre. Der Leser erhält einen fundierten Einblick in die Begriffs- und Diskursgeschichte des Glücks sowie in literarische Glücksinszenierungen verschiedener Epochen. Die Einteilung der Studie in die großen thematischen Komplexe Fortuna – Idylle – Augenblick erscheint nachvollziehbar, ist aber dennoch angreifbar, insofern hier eine in der Antike wurzelnde Begrifflichkeit von Glück, ein literarisches Genre und eine ästhetische Kategorie der Moderne ohne Reflexion auf ihre nicht allein graduellen Unterschiede als heuristische Elemente koordiniert und benutzt werden. Wünschenswert wäre außerdem ein Kapitel gewesen, das sich explizit mit der unauflösbaren Dialektik von Glück und Unglück beschäftigt, mit der literarischen Inszenierung des brüchigen und des verlorenen Glücks sowie eines Glücks, das erst in seiner Umkehrung und Negation (beispielsweise im Lachen des Nihilisten) seine Erfüllung findet. Die Studie hätte damit an Komplexität gewonnen, was dem Beziehungsreichtum ihres Gegenstandes nur angemessen ist.

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Ulrike Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
300 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826037610

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