Das Schöne und das Unmenschliche

Probleme literarischer Wertung

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Was wir […] wieder als ein Schönes zu bezeichnen wagen, unterscheidet sich von der konventionellen Schönheit in jedem Fall durch seine größere Spannweite. Sie erreicht ihr Äußerstes in der Spannung zwischen der gegebenen Unmenschlichkeit heute und der seit je geforderten Kunst. Die Kluft, die sich dabei auftut, halten manche für unüberbrückbar. Wir haben die Wahrheit eines diabolischen Reiches kennen gelernt, die jede Idee des Schönen ad absurdum führt. Wie soll es aber der Kunst noch gelingen, eine solcherart absurd gewordene Welt darzustellen und zu bewältigen? Darf Kunst noch sein, wenn es Unmenschliches in solchen Ausmaßen gibt? Die Probleme haben ihr eigenes Gewicht. Wir sind nicht befugt, sie leichter zu nehmen, als sie sind. Dennoch ist geltend zu machen, daß die Ausmaße des Unmenschlichen – wie ungeheuerlich auch immer – an der grundsätzlichen Relevanz eines vermeintlich bloßen Formproblems nichts ändern, das von Anbeginn her existiert. In der antiken Tragödie meldet es sich bereits gebieterisch zu Wort. Und mag in neuerer Zeit der Geist harmonischer Klassik mancherlei verschleiert und verschönert haben – im deutschen Sprachbereich durchbricht Heinrich von Kleist solche Obereinkünfte des Schönen rücksichtslos. Seine „Penthesilea“ ist eine Darstellung des Entsetzlichen und ist dennoch große Kunst – ein Schönes trotz allem und allem. Auch diese Tragödie, in der Furchtbares geschieht, hat die Aufgabe, Entsetzlichkeiten in Kunst zu überführen. Die universal gewordene Spannung ist immer schon in jeder Kunst angelegt – nicht erst heute. Das Problem hat unlängst Reinhard Baumgart im Blick auf Werke der Gegenwartsliteratur erläutert, die Unmenschlichkeiten beschreiben: „Jede Form und ästhetische Methode nämlich begeht diesen Frevel an diesem Gegenstand, insofern sie ihn organisiert. Auch und gerade das geglückte Gedicht, die geglückte Geschichte machen sich verdächtig, wenn es ihnen geglückt ist, Unmenschlichem in aller Form gerecht zu werden. Dieser Widerspruch läßt sich nicht aufheben. Die Literatur muß ihn von Werk zu Werk neu austragen; es bliebe ihr sonst nur, wegzusehen und zu schweigen – womöglich in der Meinung, das Unmenschliche geschehe eben durch Unmenschen, nicht durch uns und unseresgleichen. Und eine solche Vogel-Strauß-Optik verrichtet nur, wovon sie sich gerade unberührt glaubt: Unmenschlichkeit.“ Der Widerspruch ist in der Tat unaufhebbar. Die moderne Literatur ist nur in ganz anderem Ausmaß noch als die frühere auf ihn angewiesen. Bert Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ […] hat diesen Widerspruch zum Thema. Der Satz: „Was sind das für Zeiten, wo / ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“, halb Ausruf und halb Frage, hebt sich selbst auf dadurch, daß der Dichter weit mehr als nur ein Gespräch über Bäume führt. Er führt ein Selbstgespräch in den Formen der Kunst. Dieser höchst sinnvolle Widerspruch bestimmt in der Vielzahl der Einzelmotive wie im Ganzen die künstlerische Form. Der klagende, fast verzweifelnde Ton ist erfüllt von einer lastenden Schwere. Dennoch ist im Eigentümlichen des Tons das enthalten, was das Gedicht zum Gedicht macht. Darin liegt sein „Schönes“. Von jeder Beschönigung denkbar weit entfernt, hat es mit dem überlieferten Schönen wenig zu tun. Das Schmucklose, das Alltagsnahe oder die unbeschönigte Konfession lassen uns kaum auf den Gedanken kommen, dieses Gedicht sei so „schön“ wie bisher, obschon kein Einsichtiger seinen Kunstcharakter bezweifelt.

Dagegen wird einem anderen, nicht minder berühmt gewordenen Gedicht derselben Thematik der Vorwurf gemacht, es sei zu schön. Das Gedicht, dem man auf solche Weise zu mißtrauen beginnt, ist Paul Celans „Todesfuge“. Die Tatsache, daß es in fast jede Anthologie der Gegenwartslyrik eingegangen ist, darf darüber nicht hinwegtäuschen, daß es hier und da jedenfalls ein solches Mißtrauen gibt. Was an Zweifeln laut wird, sollte man überprüfen. Jede Interpretation des Gedichts muß sich auf solche Vorwürfe gefaßt machen; und da es sich im Zusammenhang der hier erörterten Probleme wie von selbst in Erinnerung bringt, sei der Frage als einer vordringlichen gedacht, ob es denn in der Tat ein zu schönes Gedicht sei, wie man sagen hört. Reinhard Baumgart deutet solche „Sageweisen“ an. Er macht mit Recht zur Frage, was manche sagen: „haben sich die Gedichte über Auschwitz immer frei halten können von jener Schönheit, die das Unsägliche durch Kunstaufwand beredt macht, den Schrecken zur Ordnung ruft, einzirkelt und befriedet? Celans ,Todesfuge’ etwa und ihre Motive, die ,schwarze Milch der Frühe‘, der Tod mit der Violine, ,ein Meister aus Deutschland‘, alles das durchkomponiert in raffinierter Partitur – bewies es nicht schon zuviel Genuß an Kunst, an der durch sie wieder ,schön’ gewordenen Verzweiflung?“ Eine eigentlich merkwürdige Frage, wenn man sie auf dem Hintergrund ästhetischer Konventionen sieht. Denn so lange ist es ja noch nicht her, daß man dem modernen Gedicht die Zustimmung versagte, weil es nicht schön genug sei. Aber so weit sind wir nun eben. Unser Mißtrauen gegenüber dem Schönen ist universal geworden. Kann vor solchem Mißtrauen überhaupt noch ein Gedicht bestehen? Und wie muß es Celans „Todesfuge“ ergehen, wenn wir solches Mißtrauen ohne Einschränkung teilen?

Es steht zu befürchten, daß dem Gedicht eine Deutung abträglich ist, die sehr nahe liegt: daß es ganz Klang und nichts als Klang sei. „Solche Gedichte sind nur dann unverständlich, wenn man sie noch als Nachahmung von Wirklichkeit auffaßt, statt sich der Suggestion anzuvertrauen, die unmittelbar vom Gedicht ausgeht, d.h. vom Wort selbst und von seinem Klang“, interpretiert Benno von Wiese; und in der Tat scheint sich von der Klanggestalt her das verschlüsselte Gedicht am ehesten zu erschließen. Doch sind die Bilder alles andere als zweitrangig oder nebensächlich. Das Eingangsbild, die leitmotivische Metapher von der schwarzen Milch der Frühe, ist das einprägsamste. Die sprachliche Umschreibung bedient sich der bezeichnenden Stilfigur des Oxymoron. Auch hier, und schon im ersten Vers, gibt es den Widerspruch, der dem Gedicht zugrunde lieg. Es macht ihn in seinem Verlauf bewußt. Vertrautes wird auf solche Weise fremd, und Fremdes wird auf unerhörte Weise vertraut. Die Umkehr der Verhältnisse in jedem Vers, in jedem Bild und in jeder Klangfigur teilt dem Gedicht die ungeheure Spannung mit, die den Vollzug des Mitdenkens im Mithören bestimmt. Doch sind es keineswegs nur Klänge, denen wir uns überlassen dürfen. Vielmehr zwingt uns das Stilprinzip der Assoziation zum genauen Erfassen der Themen und der Gegenthemen. Daß ein Mann im Haus wohnt, ist etwas Vertrautes; daß er darin spielt, steigert das Vertraute in der Erwartung, es könnte sich um ein Spiel der Kunst handeln – bis die Schlangen das Vertraute verfremden. Aber derselbe Mann schreibt nach Hause, und das ist ein Geistiges in aller Brutalität. Er schreibt nach Deutschland, und die Wortassoziation „dein goldenes Haar Margarete“ ist ein geistiger Gefühlswert in einer schauerlichen Todeswelt. Die Klangschönheit ist unüberhörbar, aber wir hätten sie mißverstanden, wenn wir im Hören des schönen Klanges das Schauerliche nicht mitdenken – und so hinfort. Die Assoziationen der Bedeutung und der Klanges werden im Kompositionsprinzip des Fugengedichts zusammengebracht. Das eigentlich Unvereinbare wird vereint, um der furchtbarsten Wahrheit zu genügen, wie sie ist – nicht der „Idee“ des Schönen. So daß nun Rüden und Juden eine Klangverwandtschaft erzeugen, die nur dann als schön bezeichnet werden kann, wenn man sich dem bloßen Klang überläßt und den Vollzugscharakter des Gedichts vernachlässigt, den es fordert. Gerade das klanglich Verwandte ist das seiner Bedeutung nach Heterogene, das seine äußerste Spannung in der Vereinigung des Unvereinbaren erhält: im Gegeneinander von Spiel und Tod. Hier geschieht das Ungeheuerlichste, das sich kaum jemand auszudenken gewagt hätte – wie in der wirklichen Welt: hier wird mit dem Tode anderer Menschen gespielt. Der Mann unseres Gedichtes tut es. Er mißbraucht das Spiel der Kunst zum Zweck einer entsetzlichen Unmenschlichkeit. Aber indem das Entsetzliche im Gedicht ausgesprochen wird, begegnen wir dem Spiel mit dem Tod im Gedicht selbst. Das sagt der Titel. Das entsetzliche Tun des Mannes wird im Kompositionsgesetz der Fuge „durchgespielt“. Und erst im Bewußtmachen des Unmenschlichen geht die Möglichkeit des Menschlichen im Spiel hervor. Die Vereinigung der Unvereinbaren schlägt um im Vorgang der Kunst. Sie wird in ihr wieder legitim. Auf diesen Umschlag hat es das Gedicht in seinem ungewöhnlichen Spannungsgefüge abgesehen. Auch die Klangformen sind nur richtig „begriffen“, wenn dieser Umschlag begriffen worden ist: ein solcher aus dem Entsetzlichen ins Klangschöne auf Grund eines Vollzugs, den das Bewußtsein leistet. Die Wiederkehr des Schönen in Celans „Todesfuge“ beruht in der Spannungweite und Widerspruchsdichte, die das Schöne der früheren Kunst so nicht kennt! Das Gedicht wird mißverstanden, wenn man die Bewußtseinsvorgänge der Klanggestalt nicht versteht. Denen, die Celans Gedicht zu schön finden, darf man antworten, ein Gedicht – auch ein modernes – kann gar nicht schön genug sein, wenn es nur nichts beschönigt. Von jeder Beschönigung aber ist Celans „Todesfuge“ auf Grund des geleisteten Vollzugs so weit entfernt wie nur eines.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die Nachpublikation eines Ausschnitts aus Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung. Zweite, durchgesehene Auflage. Stuttgart 1969 [zuerst 1965 erschienen]; hier S. 176-180. Informationen über den Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel sammelt eine im Juli 2011 neu eingerichtete Web-Seite  über ihn (www.walter-mueller-seidel.de), die von der Redaktion literaturkritik.de betreut wird.