Jenseits des Rechts?

Rache im Werk Heinrich von Kleists

Von Dania HückmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dania Hückmann

Das Werk Heinrich von Kleist beinhaltet eine Enzyklopädie der Rache. Dass Kleists Texte eine intime Kenntnis des zeitgenössischen Rechtsystems bezeugen, ist bekannt. Bei Kleist begegnen wir einem ganzen Arsenal an Rechtsformen: Ob Kriegs-, Widerstands- oder Erbrecht, sie alle werden in seinen Dramen wie in seinen Erzählungen konfliktreich thematisiert. Im Folgenden soll der Fokus jedoch auf der Rache liegen, und genauer darauf, wie in „Michael Kohlhaas“ und „Der Findling“ Rache zum Test des Rechtsystems avanciert. Eine Betrachtung der Rache wirft die Frage nach dem Gerechtigkeitsverständnis des Rächers auf. Dass Recht und Rache nicht zwingend Gegensätze sind, stellt etwa René Girard in „Das Heilige und die Gewalt“ fest: mit dem Beginn der zivilisierten Gesellschaft übernehme das Rechtsystem die Funktion der persönlichen Rache, und der Strafprozess setze ihrem Exzess ein Ende. Bevor in „Der Findling“ und „Michael Kohlhaas“ jedoch die Justiz den Rächern ein Ende setzt, kommt ihr bei Kleist noch eine andere Rolle zu: Die Justiz provoziert Rache.

Michael Kohlhaas und Antonio Piachi sehen die Justiz zunächst durchaus als Instanz, die ihre Rechte schützt: Als ihnen Unrecht widerfährt, ist das Gericht ihre erste Anlaufstelle. Sie begegnen jedoch beide einem Gerichtswesen, dessen Urteilsvermögen von vetternwirtschaftlichen Motiven gelenkt wird. Kohlhaas’ Gegenspieler, der Junker Wenzel von Tronka, ist buchstäblich mit „Hinz und Kunz“ verwandt, die verhindern, dass Kohlhaas sein Anliegen vor Gericht vorbringen kann. Piachi hat ebenfalls kein Glück, seinen Besitzanspruch gegen seinen Adoptivsohn Nicolo zu verteidigen – ein korrupter Bischof hat seine Finger im Spiel und es „siegt die Bosheit“. Die Rächer reagieren also auf ein Versäumnis des Rechtsystems, das darin versagt, die vergeltende Funktion der Rache zu übernehmen, die Girard ihm zuweist. Damit löst die Justiz den Exzess der Gewalt, den sie ja gerade verhindern soll, erst aus.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Justiz darin versagt, Kohlhaas und Piachis Rechte zu schützen, präsentiert Kleist Rache keineswegs als Alternative. Seine Rächer übertreiben in ihrem Gerechtigkeitsstreben maßlos. Wir können zwar mit ihrem Anliegen übereinstimmen, aber nicht mit ihren Mitteln: zu brutal ist ihre Rache, zu exzessiv. Der Rächer scheint vordergründig etwas Ähnliches anzustreben wie das Recht – eine Art von Wiedergutmachung, einen Ausgleich. Rache und Recht unterscheiden sich aber in ihrem Verständnis, wie sich Recht und Gerechtigkeit zueinander verhalten. In diesem Sinne trennt auch Immanuel Kant in seiner „Metaphysik der Sitten“ Fragen des Rechts strikt von jenen der Gerechtigkeit. Der Rechtsstaat beansprucht zwar, Recht zu sprechen – die für die Rächer zentrale Frage nach Gerechtigkeit ist für die Justiz jedoch nicht (zwingend) relevant. Genau gegen diese Trennung von Recht und Gerechtigkeit rebellieren Kleists Figuren Michael Kohlhaas und Antonio Piachi.

In „Der Findling“ bleibt die Rache in der Familie. Piachi reagiert mit seiner mörderischen Rache auf einen Racheakt Nicolos, der seine Stiefmutter vergewaltigen will, weil er fälschlicherweise glaubt, dass diese ihn verraten habe. Piachi reagiert auf die versuchte Vergewaltigung seiner Frau zunächst eher ruhig, jedenfalls nicht mit brachialer Gewalt: Er wirft Nicolo aus dem Haus. Doch Nicolo hält ihm entgegen, dass Piachi ihm den Besitz bereits überschrieben habe. In diesem Moment klaffen Recht (die Überschreibung macht Nicolo zum rechtmäßigen Besitzer) und empfundene Gerechtigkeit auseinander (Piachi wird für seine Großzügigkeit bestraft). Diese Spaltung wird rechtlich zementiert, wenn die Regierung – durch den rechtswidrigen Einfluss eines Bischofs – ein Dekret erlässt, das Nicolo als Besitzer bestätigt und Piachi mittellos zurücklässt. Dabei soll gerade das Erbrecht nach Herbert Marcuse das Verhältnis zwischen Familie und Staat konsolidieren. Bei Kleist, indes, führt es wiederholt zur brutalen Rache, am dramatischsten in „Die Familie Schroffenstein“. In dem frühen Drama fungiert ein Erbvertrag als (falsches) Motiv, aufgrund dessen der Bruder von Rupert von Schroffenstein dessen Sohn ermordet haben soll. Auch hier löst das Erbrecht eine Kettenreaktion der Rache aus. Anstatt die Weitergabe des Besitzes zu sichern, führt das Erbrecht letztlich nach wechselseitigem Kindermorden zum Aussterben der Familienlinie.

In „Der Findling“ wird das Rechtsystem selbst zur Waffe, die Nicolo gegen den Vater einsetzt: Er quittiert dessen Rauswurf mit einem rechtlich gedeckten Rauswurf. Diese spiegelhafte Struktur ist für Rache charakteristisch, und so kann man Rache mit der Traumaforscherin Judith Hermann als ein ,Spiegelbild eines Traumas‘ bezeichnen – das heißt, als ein Nachstellen eines katastrophalen Verlusts, der den Bezug von Ich und Welt tief erschüttert. Anstatt durch die Rache eine Art Kompensation zu erreichen und eine Wunde zu schließen, wird die eigene Verwundung am Anderen wiederholt. Dass bei Kleist kein Ende der Rache in Sicht ist, hängt mit der Natur dieser Wunde zusammen.

Piachi und Kohlhaas erfahren eine Kette von Verlusten: Sie verlieren materiellen Besitz, den Glauben an die Justiz als Rechtsgarant und nicht zuletzt ihre Ehefrauen. In „Der Findling“ und „Michael Kohlhaas“ ist es nie der Verlust von materiellem Besitz allein, der diese einst guten Bürger zu Rächern werden lässt. In beiden Fällen hat die Rache einen doppelten Auslöser: Beide erhalten ein Dekret, das ihnen Recht abspricht, kurz nachdem sie den Tod ihrer Frau erlitten haben. Die Rache folgt direkt auf diesen doppelten Verlust. Wenn Martin Luther Kohlhaas wegen der Unverhältnismäßigkeit zwischen dessen Rache und dem von ihm erlittenen Schaden anklagt, erwidert dieser: „hochwürdiger Herr! es hat mich meine Frau gekostet; Kohlhaas will der Welt zeigen, daß sie in keinem ungerechten Handel umgekommen ist.” Das Gerechtigkeitsstreben des Rächers wird an den der Rache vorausgehenden Verlust gekoppelt. Sein Recht nicht zu erhalten, würde im Umkehrschluss bedeuten, dass seine Frau umsonst gestorben wäre.

Beide Rächer erleiden also unterschiedliche Arten des Verlusts, von denen die Justiz allein die materiellen (und natürlich Piachis brutalen Mord und Kohlhaas’ Verwüstung halb Deutschlands) verhandelt. Die emotionalen Verluste hingegen – der Tod der Frauen – werden vom Rechtssystem nicht registriert. Die Rächer unterscheiden sich nicht nur dadurch von der Justiz, dass sie darauf bestehen, dass Recht und Gerechtigkeit ein und dasselbe sein sollen – ihr Handeln ist von materiellen, ideellen und emotionalen Verlusten motiviert. Doch wie veranschlagt man ideelle und emotionale Verluste? Wenn überhaupt, kann man hier nur einen subjektiven Maßstab anlegen. Es ist genau dieses subjektive Element der Rache, das ihre Tendenz zum Exzess erklärt. Dieses subjektive Moment verdeutlicht, dass Recht und Rächer unterschiedliche Grundformeln benutzen, wenn sie Recht und Unrecht berechnen.

Wie Kohlhaas, so reagiert auch Piachi auf den Tod seiner Frau, die an den Folgen von Nicolos Verführungsplan stirbt, nicht mit Trauer, sondern mit Gewalt. Nach dem Verlust von Frau und Haus geht er „das Dekret in der Tasche, in das Haus und stark, wie die Wut ihn machte, warf er den von Natur aus schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein“. Die besondere Betonung des Dekrets signalisiert, dass Piachis Enttäuschung mit dem Rechtssystem – denn nichts anderes symbolisiert das Dekret hier – wie ein Reizauslöser seiner Rache wirkt. Das besagte Dekret wird gar zum Instrument der Rache: Als man Piachi findet, stopft er dem bereits toten Nicolo „das Dekret in den Mund“. Das Wort des Gesetzes wird zur Leichenschändung benutzt. Hier zeigt sich Rache erneut als ein verzerrtes Spiegelbild, als ein Nachstellen des erfahrenen Unrechts.

Piachi wendet sich mit seiner Rache nicht einfach vom Rechtsystem ab. Sein letzter Wille ist es – wie sollte es angesichts der unendlichen Struktur der Rache anders sein –, seine Rache fortzuführen: Und zwar im Jenseits. Die damit einhergehende Ablehnung der Absolution bringt den zu Tode Verurteilten jedoch erneut mit dem Gesetz in Konflikt, denn der Staat kann seinen Gesetzen folgend einen Verbrecher nicht hinrichten, ohne dass dieser die Absolution empfangen hat. Piachi verweigert sich ihr jedoch hartnäckig: „Ich will nicht selig sein. Ich will in den untersten Grund der Hölle hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufnehmen!“

Gegen das Recht zu rebellieren, ist nicht Piachis primäres Anliegen, sondern eher ein Nebeneffekt seiner Rachsucht. Es ist die Vision, seine Rache im Jenseits weiterzuführen, die ihn die Hölle dem Himmel vorziehen lässt. Paradoxerweise erhält er in dem Moment den Schutz des Gesetzes, als er ihn ablehnt. Um Piachi überhaupt hinrichten zu können, muss das Gesetz suspendiert werden. Dieses Aussetzen der Absolution hat seinen Preis: Indem der Staat darauf verzichten muss, Piachi die Absolution abzuringen, akzeptiert er, dass dieser sich dem Gesetz widersetzt.

Beide Texte enden mit der Hinrichtung des Rächers. Walter Benjamin zufolge dient die Todesstrafe dazu, die Macht des Staates über Leben und Tod zu demonstrieren. Allerdings präsentiert der Tod von Kohlhaas und Piachi eher das nach Benjamin ebenfalls in der Todesstrafe inbegriffene „Morsch(e) im Gesetz“: Als Form menschlicher Justiz ist das Recht eben nicht Ausdruck einer schicksalhaften, absoluten Autorität, sondern eine allzu menschliche Institution. Der Staat entscheidet zwar über Piachis Leben, aber Piachi nötigt ihn dazu, mit seinen eigenen Prinzipien zu brechen. An ihm lässt sich offensichtlich keine Staatsmacht demonstrieren – und so wird er an einem öffentlichen Platz ohne Öffentlichkeit hingerichtet: „man knüpfte ihn, ganz in der Stille, auf dem Platz del popolo auf.“ Mit der Hinrichtung setzt das Recht der Rache und dem Rächer ein Ende – zumindest im Diesseits. Dem Exzess der Rache ist damit, zumindest in Piachis Augen, allerdings kein Ende gesetzt: Sie geht im Jenseits weiter, bis in alle Ewigkeit.

Auch Kohlhaas’ Rachefeldzug ist grenzenlos; er ahndet den Verlust von zwei Pferden damit, dass er, halb Deutschland, niederbrennt. Wenn Kohlhaas ganze Landstriche durch „Einäscherung“ zerstört, wird dieses Racheinstrument mit einer gewissen Trauersymbolik aufgeladen. Mit seiner Rache zwingt Kohlhaas seinem Land das auf, was er selbst erleidet: Chaos, Tod und Trauer. Rache weist bei Kleist Züge einer (wiederholten) Bestattung auf. Dass Kohlhaas jede Stadt mindestens zweimal angreift, impliziert, dass dieses Trauerritual versagen muss. Die Einäscherungen erweisen sich daher als Ausdruck einer Unfähigkeit, etwas zu begraben. Was es dabei genau ist, das bestattet werden soll, ist nicht immer klar benennbar. Der Verlust ist ein vager Signifikant, der dazu tendiert, aus emotionalen und ideellen Enttäuschungen gespeist zu werden. Freud zufolge kann es der Tod einer Person oder der eines Ideals sein, der zu Trauer, Melancholie oder Manie führt. Als Aberration der Trauer stellt Rache eine alternative Reaktion auf einen Verlust dar, oder, wie im Fall von Piachi und Kohlhaas, auf eine Kette von Verlusten. Einer dieser Verluste ist die Desillusionierung durch die Justiz als Schutzinstanz. Während Trauer und Melancholie mit Passivität assoziiert werden, stürzen sich Rächer in Aktivismus. Ist Rache also eine Form der Manie? Rache und Manie unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zum Objekt des Verlusts: Während manische Menschen Freud zufolge glauben, ihren Verlust bereits überwunden zu haben, hält der Rächer unbeirrbar an diesem fest. Dabei strebt der Rächer durchaus nach etwas, das den Zustand der Manie ausmacht: Nach einem Gefühl des Triumphs. Da die Rache aber kein Ende kennt, bleibt der Triumph ein in die Zukunft projiziertes Versprechen.

Egal wie oft man auf tiefgreifende Desillusionierung eines Rächers durch das Recht verweist und an das von ihm herbeigeführte Unrecht erinnert – letztlich durchkreuzt die Brutalität der Rache den Gerechtigkeitsanspruch des Rächers. Der Exzess läuft jedem Konzept von Ausgleich und Wiedergutmachung zuwider. In der Kalkulation der Rächer geht etwas schief: der Versuch, erlittenes Unrecht mit Gegengewalt zu kompensieren, geht nicht auf. In „Michael Kohlhaas“ überträgt sich dieses Kalkulationsproblem auch auf den Staat, der vor der Schwierigkeit der Frage steht, wie mit den Rächern zu verfahren sei: Auch das Strafmaß will kalkuliert sein.

„Michael Kohlhaas“ ist denn auch ein Text, der genau mitzählt: Wir erfahren die exakte Anzahl der Häuser und Kirchen, die Kohlhaas niederbrennt. Ebenso wird der Anstieg von Kohlhaas’ Mitstreitern von sieben auf zehn, auf über dreißig und schließlich auf 109 aufgelistet sowie die Anzahl von Truppen, die Kohlhaas entgegengestellt werden, deren Stärke von 150 auf 300 und zuletzt um weitere 500 erhöht wird. Der Staat zeigt seine Muskeln, wenngleich ohne ersichtlichen Erfolg. Wenn die Staatsmacht der exzessiven Gewalt von Kohlhaas’ Rachefeldzug mit einer exorbitanten Truppenstärke begegnet, nimmt sie selbst exzessive Züge an. Auch die Staatsoberhäupter haben sich verrechnet. Für sie war Kohlhaas’ Rachefeldzug nicht vorhersehbar. Am Ende soll es aber doch zu einer klaren Abrechnung kommen. Kohlhaas’ Hinrichtung geht eine genaue Bestandsaufnahme des Kurfürsten von Brandenburg voraus. Bevor Kohlhaas enthauptet wird, wird ihm von den Pferden bis zur Wäsche alles zurückerstattet, was ihm eigentlich zugestanden hätte – vor der Rache.

Kohlhaas verlangt der Justiz alle Flexibilität ab, um für seinen Sonderfall eine adäquate – und das bedeutet den Staat stabilisierende – Rechtsgrundlage zu finden. Der Staat will sich nicht nur als Macht demonstrieren, die Kohlhaas Recht gegenüber dem Junker widerfahren lässt, sondern sich auch durch die Hinrichtung Kohlhaas’ selbst bestärken. Werite Strecken der Novelle handelt davon, auf welcher rechtlichen Grundlage diese juristische Grätsche etabliert und umgesetzt werden kann. Es ist ein ausufernder Prozess, indem nicht immer klar ist, wie genau die Anklagen lauten und in wessen Zuständigkeitsbereich sie fallen. Hier soll der Fokus auf einen Ausschnitt dieser Prozesse liegen, nämlich auf dem Versuch des Rechts, die Rache zu ‚zergliedern‘.

Der Staat ist sich zwar vollkommen darüber im Klaren, dass man Kohlhaas, indem man ihm seinen Auftritt vor Gericht verweigerte, „das Schwert, das er führe, selbst in die Hand gegeben“ habe. Doch diese Erkenntnis soll auf gar keinen Fall in den Strafprozess einfließen. Nach langen, im Text genau dokumentierten Überlegungen, wie mit dem Fall Kohlhaas rechtlich zu verfahren sei, entscheidet man sich schließlich dafür, dass es zwei Prozesse geben solle. Dadurch wird Kohlhaas’ Handeln aufgespalten: die Ereignisse, die zur Rache führten, werden strikt von der Rachehandlung getrennt. Der Umgang des Rechtssystems mit dem Fall Kohlhaas zeichnet sich also durch Dissoziation aus: Vor Gericht wird der Rächer in eine Opfer- und eine Täterfigur gespalten. Diese Spaltung wird in seiner Hinrichtung literalisiert: Er wird zweigeteilt – indem er enthauptet wird.

Die Rechnung des Staates geht jedoch nicht so einfach auf. Am Ende steht sowohl für Kohlhaas als auch für Piachi der Tod. Allerdings bedeutet der Tod für keinen der beiden das Ende ihrer Rache: In „Michael Kohlhaas“ eröffnet eine ‚übersinnliche‘ Rechtsinstanz eine Alternative zur irdischen. Mit der von einer alten Frau auf einen Zettel niedergeschriebenen Prophezeiung, wer der Macht des Kurfürsten von Sachsen ein Ende setzen werde, erhält Kohlhaas’ die Möglichkeit, sein eigenes Leben und damit auch die Zukunft der Dynastie des verfeindeten Kurfürsten zu retten. Als ihm der Kurfürst sein Leben bietet, entgegnet Kohlhaas schlicht: „Du kannst mich aufs Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich wills!“ Es ist nicht die Verurteilung des Junkers, die Kohlhaas mit Genugtuung erfüllt, sondern die Vorstellung, dass sein individuelles Gerechtigkeitsempfinden siegt, indem auch seine Rache – wie die Piachis – über seinen eigenen Tod hinausreicht. Solange Kohlhaas den ominösen Zettel um den Hals trägt, der die Zukunft seines Feindes oder vielmehr die Eckdaten von dessen Untergangs enthält, ist dieses Wissen theoretisch noch zugänglich. Der Zettel entfaltet erst dadurch seine ganze Macht, dass Kohlhaas ihn verschluckt und das prophetische Wissen mit ins Grab nimmt.

In beiden Texten wird das Versprechen der Rache nach Gerechtigkeit letztlich daran geknüpft, dass die Rache über den eigenen, physischen Tod hinaus andauert. Hierin zeigt sich ein wesentlicher Zug der Ökonomie der Rache, die nie zur Ruhe kommt, kein Ende kennt. Mit ihren zukunftsbezogenen Racheplänen umgehen Piachi und Kohlhaas die Justiz. Für beide bedeutet ihre Hinrichtung keine Strafe, sondern die Strafe selbst wird zum Teil der Rache. Die Hinrichtungen erhalten dadurch eine paradoxe Bedeutung: Einerseits behauptet sich durch sie das Rechtssystem, indem es die Rächer in den Strafprozess überführt, andererseits dient die Todesstrafe den Rächern dazu, das Recht zu instrumentalisieren, da sie die Fortsetzung der Rache erst ermöglicht. In dem Moment, in dem die Rächer ihren Gerechtigkeitsanspruch durch nichts Geringeres als durch ihren Tod zu erlangen glauben, stehen sie nicht mehr direkt mit der Justiz in Konkurrenz – sie haben sozusagen deren Zuständigkeitsbereich verlassen.

Anhand der Hinrichtungsszenen präsentiert Kleist die Unersättlichkeit der Rache nochmals in ihrem ganzen Ausmaß. Seine Texte zeigen eindrucksvoll, dass ein Rächer nicht einfach auf ein erfahrenes Unrecht reagiert, sondern auch von unverwundener Trauer angetrieben wird. Der Justiz kommt bei Kleist eine wesentliche Rolle zu, da zunächst das Vertrauen in sie gesetzt wird, die Rache durch ein gerechtes Verfahren abzuwenden. Versagt die Justiz in den Augen des Rächers jedoch und wiederholt das empfundene Unrecht anstatt es zu verurteilen, nimmt der Rächer seinen Fall selbst in die Hand. Weil dem Rächer sein (Anspruch auf) Recht abgesprochen wird, entsteht in ihm ein endloser Anspruch auf Wiedergutmachung. Sein Gerechtigkeitssinn mag weiterhin intakt erscheinen – es ist die Brutalität des Racheakts, die uns schockiert und abstößt. Dabei produziert der Gewaltexzess gerade das, wogegen sich der Rächer richtet: Unrecht. Und so sind vielleicht alle Rächer bei Kleist Recht schaffend und entsetzlich zugleich.